Text | MaerzMusik 2016
Seelen ohne Obdach

Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ ist seit fast 200 Jahren bestürzend modern. Das hat klar benennbare Gründe – die zeitgenössische Künstler immer wieder zu neuen Arbeiten herausfordern.
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“
Es ist, als sei schon in diesen Anfangsversen, gegossen in eine zweimal resignativ niedersinkende Melodie und grundiert von sanftem Marschtritt, ein Wesenszug der Moderne vorweggenommen – und erst recht im offenen Ende des rätselhaft verhallenden letzten Liedes, „Der Leiermann“, mit dem das lyrische Ich verstummt und uns damit nach vielfältig aufgeschlüsselter Einsamkeitsbetrachtung unbarmherzig und ohne Lösungsangebot ins Ungewisse hinausstößt.
Einen „Kreis schauerlicher Lieder“ wolle er ihnen vorsingen, die ihn mehr als alle früheren „angegriffen“ hätten: So soll Schubert 1827 seine Freunde Schober und Spaun eingeladen haben, seine neueste Komposition kennenzulernen, den Zyklus „Winterreise“ nach Gedichten Wilhelm Müllers. Erst knapp hundert Jahre später diagnostizierte Georg Lukács in seiner „Theorie des Romans“ an der modernen Literatur Charakteristika, die sich lesen, als seien sie direkt auf die „Winterreise“ gemünzt: Das „epische Individuum, der Held des Romans“ entstehe aus einer „Fremdheit zur Außenwelt“, sei auf das eigene, längst als prekär erlebte Innere zurückgeworfen – und das Kunstwerk zeige die „Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben Befangenheit in der einfach daseienden, in sich heterogenen, für das Individuum sinnlosen Wirklichkeit zur klaren Selbsterkenntnis“.
Mit seiner „transzendentalen Obdachlosigkeit“, wie Lukács berühmt gewordene Formulierung lautet, ließe sich der namenlose Protagonist der „Winterreise“ bruchlos einreihen in die Galerie jener scheiternden oder längst gescheiterten Helden seit Cervantes’ Don Quixote.
Wen kümmert’s, wer singt?
Kein Wunder also, dass die „Winterreise“ bis heute eine eigene Faszination ausübt und nicht bloß als ein Zentralmassiv der Gattung immer wieder und von den bedeutendsten Liedinterpreten aufgeführt wird, sondern zu vielfältigen, auch radikaleren Neudeutungen geradezu herausfordert. 2006 verstörte etwa Christine Schäfer mit ihrer zwar notengetreuen, aber in ungewohnter Sopranlage silbrig-glitzernd vorgetragenen Lesart – mit der sie die Frage aufwarf, ob das Werk auch geschlechtlich fixiert wäre, auf Stimmen vom Bariton bis zum schwarzen Bass festgelegt? Keineswegs, musste die Antwort lauten: Schuberts Originaltonarten liegen hoch, sind jedenfalls von tieferen Stimmen kaum zu bewältigen. Und einen singenden Menschen auf das Konstrukt einer Geschlechterrolle zu reduzieren, wäre schlicht sexistisch.
Eine hohe (Männer-?)Stimme scheint den originalen Absichten am nächsten zu kommen. Unter den Tenören der Gegenwart nimmt jedenfalls Ian Bostridge als Liedsänger einen Ausnahmerang ein; zudem hat der Brite 2015 das ungemein kluge, fesselnde Buch „Schuberts Winterreise“ geschrieben, dessen originaler Untertitel („Anatomy of an Obsession“) mehr aussagt als dessen deutsches Pendant („Lieder von Liebe und Schmerz“). Allein, wie Bostridge im Kapitel über den „Lindenbaum“ dessen banale Umarbeitung durch Friedrich Silcher bespricht und dabei einen Taxifahrer und Nana Mouskouri ebenso streift wie eine Episode der „Simpsons“, bevor er ausführlich das leitmotivische Auftauchen des Liedes in Thomas Manns „Zauberberg“ behandelt, übrigens ein Paradebeispiel für den modernen Roman à la Lukács, ist so vergnüglich wie lehrreich zu lesen. Dabei ist die „Winterreise“ gar nicht so fest in männlicher Interpretenhand wie Skeptiker glauben mögen: Neben Mezzosopranen wie Christa Ludwig und Brigitte Fassbaender, die den Zyklus in besonders dunkle Farben kleidete und in einer pittoresken Filmversion des Regisseurs Petr Weigl (1994) in verschiedene Rollen schlüpfte, waren es auch Margaret Price und einst, lange Zeit vor allen Gender Studies, schon Lotte Lehmann, die sich dem Werk gleichsam von oben näherten, als imaginierte Hosenrolle oder von allgemeinmenschlicher Warte aus.
Im psychischen Ausnahmezustand
Doch schon das Original trug einige politische Brisanz in sich. Wilhelm Müller, Sohn eines Dessauer Schneiders, kämpfte als Freiwilliger in den Befreiungskriegen gegen die Napoleonische Armee, wurde Lehrer und später Herzoglicher Bibliothekar in Dessau, arbeitete als Herausgeber und Redakteur (u. a. für Brockhaus) und sympathisierte mit den Griechen in ihrem Kampf gegen die türkische Besatzung. Anfang Oktober 1827 starb er, sechs Tage vor seinem 33. Geburtstag.
Er hinterließ fünf Gedichtbände, in denen Einflüsse der Romantiker Novalis, Clemens Brentano und Achim von Arnim spürbar sind; die klare Gesellschaftskritik aber, die er vor der Zensur zwischen den Zeilen scheinbarer „Liebeslieder“ zu verstecken wusste, wurde auch in der Schubert-Rezeption lange Zeit übersehen. Die Texte der „Winterreise“ entstammen der Sammlung „77 Gedichte aus den nachgelassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“, aus der Schubert 1823 auch schon den Zyklus „Die schöne Müllerin“ komponiert hatte.
Bei der „Müllerin“ handelt es sich noch um eine Art Liederzählung mit konkreter fortschreitender Handlung und starken Schwankungen der Affekte bis hin zum Freitod in den Fluten des Baches. Die „Winterreise“ hingegen kennt kein solches folgerichtiges, wenn auch tragisches Ziel mehr – und damit auch nicht eine ähnliche „romantische Erlösung“ (Hans-Joachim Hinrichsen), wie sie dem Müllersburschen gewährt wird: In ihren Liedern verbindet sich ein weit einheitlicherer resignativer Grundzug mit dem durchgehenden Motiv ziellosen Weiterwanderns.
Die Geschichte – und damit auch das gequälte Individuum – dreht sich auf beklemmende Weise im Kreis. Gemeint ist hier jedoch weniger die private Gefühlslage des Komponisten oder des Dichters, sondern die erdrückend dumpfe geistigpolitische Atmosphäre des Biedermeier und Vormärz. Die dominante düstere Stimmung ist allerdings in Text und Musik in so viele Graustufen aufgefächert, dass keine Monotonie aufkommt. Müllers Bildsprache nützt die Symbolwerte von Begriffen wie „Wetterfahne“, „Irrlicht“, „Wegweiser“ und „Leierkasten“; der fast permanente psychische Ausnahmezustand, die Rastlosigkeit des lyrischen Ichs zwischen Wehmut und innerer wie äußerer Kälte, sie finden in Schuberts Musik beklemmenden Ausdruck: mit repetitiven Mustern, stockenden Verläufen sowie aufgeweichten, ins nächste Lied führenden Schlüssen.
Überhaupt wandelt sich das Klavier von der Begleitung zum expressiven Widerpart. Der zyklische Zusammenhang ist so stark, dass sich einzelne Lieder eigentlich nicht herauslösen lassen: Beim zu großer Volkstümlichkeit und Breitenwirkung gelangten „Lindenbaum“ ist es ja die bereits erwähnte, textlich und musikalisch brutal verharmlosende Silcher-Fassung, die das Original (ein Strophenlied zum Thema Selbstmord) „konsumierbar“ machte – eines von vielen populären Missverständnissen, denen Schubert zum Teil bis heute ausgeliefert ist.
„… immer dieselbe Leier …“
Ausgeliefertsein, Volksdümmlichkeit und verharmloste Verbrechen sind auch Teil jenes spezifisch österreichischen und doch weit über die Grenzen des Landes hinausweisenden Pandämoniums, das die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in „Winterreise. Ein Theaterstück“ (2011) öffnet – und aus dem die Schauspielerin Sophie Rois bei der MaerzMusik lesen wird. Mit ständiger assoziativer Rücksicht auf Müller und Schubert handelt Jelinek darin den Hypo-Alpe-Adria-Skandal (mit einer „geschmückten Bankenbraut“ im Zentrum), das Schicksal eines entführten „Mädchens aus dem Keller“ (die namentlich nicht genannte Natascha Kampusch), den die Natur schändenden Ski-Zirkus samt brutaler Hüttengaudi, die emotionale Deformationen durch soziale Netzwerke sowie die Tragödie der Demenz ab.
Und auch die Autorin selbst scheint zum Thema zu werden, ihre schwierige Beziehung zur dominanten Mutter und zum in der Psychiatrie endenden Vater sowie die eigene Rolle als Außenseiterin. Zuletzt räsoniert sie als untote Leierfrau: „So, da steh ich also mit meiner alten Leier, immer der gleichen. Wer will dergleichen hören? Niemand. Immer dieselbe Leier, aber das Lied ist doch nicht immer dasselbe! Ich schwöre, es ist immer ein anderes, auch wenn es sich nicht so anhört …“ Die Musikalität von Jelineks spielerisch anmutender und doch messerscharf sezierender Sprache ist immer wieder gerühmt worden, in diesem Werk erreicht sie ein neuen Gipfel.
Neben bildnerischen Interpretationen, etwa von Evely Grill in Siebdrucken (2003, 2015) oder, ganz prominent und nicht unumstritten, von William Kentridge in parallel zur Musik gezeigten Trick-Filmen (mit Matthias Goerne und Markus Hinterhäuser, 2014), hat etwa der Komponist Hans Zender schon 1993 eine „komponierte Interpretation“ der „Winterreise“ für Tenor und kleines Orchester vorgelegt, die im Original enthaltenen musikhistorischen Keime bis in die Moderne entwickelt. Jüngst setzte sich sein Kollege Bernhard Lang auf deutlich radikalere Weise mit dem Zyklus auseinander – und zog dabei auch Konsequenzen aus den zwei Etappen der Entstehungsgeschichte mit je zwölf Liedern im Februar und im Oktober 1827.
Bernhard Lang ist bekannt geworden durch eine von Jazz, Rock und Techno ebenso wie von klassischer Avantgarde beeinflusste Musik, in der DJs, Turntables und Computer jenseits überkommener Genre-Grenzen Loops ganz eigener Art vollführen und umfangreiche Werkreihen (wie etwa „Differenz/Wiederholung“) generieren. „Monadology XXXII – The Cold Trip pt. 1 and pt. 2“, eine Metakomposition wie die ganze „Monadology“-Reihe, ist eine Art Recycling der „Winterreise“: im ersten Teil für Stimme und vier Gitarren, im zweiten dann für Stimme, Klavier und Laptop, wobei die Vorlage nicht zuletzt in speziellen Samples präparierter Klavierklänge präsent ist, die sich zu einem immer dichteren Palimpsest überlagern.
Die auf Englisch singende Stimme ist gleichsam in der eigenen Erinnerung auf der Suche nach dem entglittenen Original – auch das ein Zustand transzendentaler Obdachlosigkeit, für den Elfriede Jelinek folgende Schlussworte gefunden hat:
„Fremd eingezogen, fremd ausgezogen, die Leier drehend, immer dieselbe Leier, immer dasselbe? Sie hätten eine andre Reise wählen können, Sie hätten mit der Zeit endlich eine andre Reise und eine andre Leier wählen können, doch das wäre dann keine Zeit mehr gewesen und keine Leier.“
Der Artikel wurde erstmals veröffentlicht in der Beilage zur „taz. Die Tageszeitung“ am 27. Februar 2016. MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2016 fand vom 11. bis 20. März 2016 statt. Im Rahmen eines Festivalschwerpunktes zu Schuberts „Winterreise“ las Sophie Rois aus Elfriede Jelineks „Winterreise. Ein Theaterstück“. Bernhard Lang brachte seine Komposition „Monadology XXXII. The Cold Trip, pt.1 & pt.2“ zur Aufführung, und Ian Bostridge kombinierte die Aufführung von Schuberts „Winterreise“ mit einer Lesung aus seinem Buch „Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz“.