Text | Interview | Berliner Festspiele 2021

Festspielgeschichten: 33 Jahre Jazzfest Berlin

von Berliner Festspiele

Jazzfest Berlin-Plakat von 1964, gestaltet von Günther Kieser.
Jazzfest Berlin-Plakat von 1964, gestaltet von Günther Kieser.

Das Jazzfest Berlin gibt es seit 1964. Einer, der fast von Anfang an dabei war, ist Ihno von Hasselt. In unserer Reihe #Festspielgeschichten erzählt er von seiner Zeit als Fahrer für das Festival und als dessen langjähriger Produktionsleiter. Auch, wie er zum Jazz gekommen ist und was für ihn das Jazzfest Berlin ausgemacht hat, erfahren wir hier.

Verfügbar seit 17. Dezember 2021

Lesezeit ca. 18 Min

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Vom Fahrer zum Produktionsleiter – eine Karriere beim Jazzfest Berlin

Ab wann haben Sie für das Jazzfest Berlin gearbeitet?

Mein erstes Jazzfest war 1969. Damals fing ich als Fahrer für das Festival an. Ich habe mich dann „hochgearbeitet“ bis zum Leiter der Fahrbereitschaft und diese bis 1978 geführt. Anschließend war ich drei Jahre, von 1978 bis einschließlich 1980, bei der Konzertdirektion Schulte-Bahrenberg angestellt, bis zu dem Bruch zwischen dem auf Joachim-Ernst Berendt folgenden Künstlerischen Leiter George Gruntz und Schulte-Bahrenberg (Schulte-Bahrenberg hatte 1964 zusammen mit Joachim-Ernst Behrendt und Georg Wein die Berliner Jazztage gegründet. Anm. d. Red.). Danach wurden die Berliner Festspiele Träger des Festivals und der Name wurde umgeändert in JazzFest Berlin (ab 2012 dann in Jazzfest Berlin, Anm. d. Red.).

Wie sind Sie dann Produktionsleiter des Jazzfest Berlin bei den Berliner Festspielen geworden?

1980 richteten die Berliner Festspiele für Helmut Schmidt das Kanzlerfest aus und ich war seitens der Berliner Jazztage dabei. In diesem Zusammenhang wurde der damalige Intendant Ulrich Eckhardt auf mich aufmerksam und er sagte zu mir: „Ehe Sie irgendwo Marmelade verkaufen, melden Sie sich doch mal bei mir.“ Das habe ich getan. Genau in dieser konfliktreichen Umbruchsituation 1980/81 habe ich mich dann bei ihm gemeldet und die Produktionsleitung bekommen.

Während Ihrer Zeit als Fahrer – ist da mal etwas Außergewöhnliches passiert? War da ein*e Künstler*in, bei der*dem Sie dachten: „Oh Gott, ich darf heute den oder die abholen“?

Nicht wirklich. Es waren einfach mehr die Situationen, die mich als jungen Mann beeindruckten. Nämlich, dass man als Fahrer, der berühmte oder prominente Künstler*innen abholt, gewisse Privilegien genießt. Zum Beispiel am Flughafen Tempelhof durfte man eine besondere Einfahrt benutzen und direkt am Gate halten, um dort die Musiker*innen einladen zu können. So was war für mich damals viel wichtiger als die Musiker*innen selbst.

Einmal habe ich jedoch einen Transport verschlafen. Lionel Hampton und sein Orchester waren 1979 bis morgens um vier in der Philharmonie und die Abreise der Band war bereits um 6 Uhr angesetzt, über Frankfurt nach Ljubljana. Hampton und Band haben es geschafft. Ich und der LKW, den ich fahren sollte, nicht. Das ganze Orchestergepäck verließ Berlin deshalb eine Pan Am-Maschine später. Glück und Zufall wollten es, dass der Anschlussflug nach Jugoslawien 3 Stunden Verspätung hatte.

Was war denn Ihre erste Veranstaltung bei den Berliner Jazztagen, die Sie als Student besucht haben, als Sie 1967/68 nach Berlin kamen?

Ich bin 1967 gleich in mein erstes Festival gerannt, habe aber kaum noch eine Karte gekriegt. Don Ellis und die Berlin Dream Band sind mir unvergesslich. 1969 war dann schon mein erstes Jahr bei der Fahrbereitschaft. Da konnte man hinten im Musiker-Foyer der Philharmonie eine Menge Atmosphäre mitkriegen oder sich von dort aus in die Schwerbehindertenloge hochschleichen und von weit oben kurze Live-Eindrücke von den ehemaligen und zukünftigen Fahrgästen mitnehmen.

Vor welche besonderen Herausforderungen sahen Sie sich als Produktionsleiter gestellt?

Mein Gesellenstück war im Zusammenhang mit dem Auftritt von Fela Kuti 1978, als ich noch bei Schulte-Bahrenberg unter Vertrag stand. George Gruntz hatte Fela Anikulapo Kuti eingeladen (Fela Kuti war ein nigerianischer Musiker, Bandleader, politischer Aktivist; er gilt als Begründer des Afrobeat, Anm. d. Red.) und der kam mit einem Tross von 75 Leuten, davon 27 Frauen, mit denen er nach afrikanischem Ritus verheiratet war. In der Mehrheit waren das Tänzerinnen und Sängerinnen. Dann kam noch seine Band dazu, nochmals ungefähr zehn Leute. Und er hatte seinen juristischen Stab um sich rum und seine ganze Familie. Der Tross landete mit der DDR-Interflug nachts in Schönefeld. Zwei Omnibusse mit SFX-Abhol-Lizenz, völlig beschlagenen Scheiben und 75 Nigerianer*innen ohne Visa erreichten morgens um 5 Uhr den Übergang Waltersdorfer Chaussee. Und das war nur der Anfang!

Wir hatten zehn Zimmer im Kempinski angemietet. Die sollten für Fela und seine engere Familie sein. Fela allerdings wollte unbedingt mit seinen 27 Frauen zusammen in einem Hotel wohnen. Dann kriegte er mit, dass die Musiker und die Frauen im Plaza an der Knesebeckstraße untergebracht waren. Das ging gar nicht! Die 10 Musiker passten genau ins Kempinski, der Rest suchte das Plaza heim. 40 Parkas von C&A, 30 von der Berliner Damenoberbekleidungs-Innung gesponserte, grün-, rot – und graumelierte Mäntel für die Ladies aus Lagos und ein Kaninchenfellmantel für Fela halfen gegen das Berlin-Klima. Spätere Fela-Dokumentationen zeigen, dass das Kaninchen noch ein jahrelang geschätzter Begleiter war. Für einen Teil der Gage hatte Fela bei Otto Simonowski neue Instrumente gekauft, die waren plötzlich ebenso abgängig wie ein Teil der Musiker beim Rückflug nach Lagos. Ein Apartmenthaus an der Lietzenburger Straße galt als erster Fluchtpunkt für die Renegaten/Abtrünnigen.

Haben Sie vorher schon Jazz gehört oder sind Sie erst über die Arbeit zum Jazz gekommen?

Ich wurde im Sommer 1958, den ich bei einer befreundeten Familie in Holland verbrachte, musikalisch sozialisiert. Da war ein Mädchen, ein bisschen älter als ich, die Jazzsängerin in der Schulband war und die ich damals ziemlich anhimmelte. Über sie habe ich zwei Songs kennengelernt, die in dem Jahr angesagt waren: „A-Tisket-A-Tasket“ von Ella Fitzgerald und „Ma, He‘s Making Eyes At Me“ aus der Johnny Otis Show. Bis dahin war Jazz für mich Dixieland mit Chris Barber und Monty Sunshine.

Dann gab es 1960 diesen wunderbaren Film „Jazz on a Summer’s Day“ („Jazz an einem Sommerabend“) von Bert Stern, der 1961/62 bei uns in die Kinos kam, nicht lange zwar, aber jedenfalls mit nachhaltiger Wirkung. Seitdem höre ich Jazz. Das war auch einer der Hauptgründe warum ich nach Berlin zum Studieren wollte.

Jazzfest Berlin – ein Ereignis

Jazz war also früher richtig groß in Berlin?

Von den ersten Jahren bis in die 1980er Jahre hinein waren die Jazztage, später das Jazzfest Berlin ein gesellschaftliches Ereignis. Da machte man sich fein, das wurde zelebriert. Der Nimbus der Berliner Jazztage war deswegen groß, weil der Jazz in der Philharmonie stattfand, weil dort Musiker*innen zu hören waren, die man sonst in Deutschland eben nicht hören konnte und es Live-Übertragungen aus der Philharmonie gab.

Man muss einfach sehen, die Berliner Jazztage wurden damals auch in gewissem Sinn als kulturelles Bollwerk gegen alles, was aus dem Osten kam, eingerichtet. Es gab auch die sogenannten Funkbrückemittel, finanzielle Mittel, die zur Verfügung gestellt wurden, um die Westkultur via Funk in den Osten zu senden. Deswegen hat es seit Beginn der Berliner Jazztage und nachher auch beim Jazzfest Berlin immer eine sehr große und gute Verbindung zur ARD gegeben.

Das Festival war von Anfang an auch ein mediales Ereignis. Samstagnacht nach dem Spätfilm in der ARD, bis zwei oder drei Uhr morgens gab es Live-Übertragungen von den Jazztagen im Fernsehen direkt aus der Philharmonie. Auch aus übertragungstechnischen Anforderungen war die Philharmonie ein sehr geeigneter Ort. Nicht nur die Prominenz des Ortes selbst, sondern auch die spektakuläre Architektur, die ermöglichte, die Kameras so zu positionieren, dass man Totalen, Seitenperspektiven und verschiedene Nahaufnahmen hatte. Parallel dazu wurde das Festival auch in den Hörfunksendern der ARD in der Langen Nacht des Jazz übertragen.

Im Archiv der Berliner Festspiele lagern eine ganze Reihe von ausgesprochen tollen Jazzfest-Plakaten.

Die Plakate des Jazzfest Berlin waren und sind immer noch berühmt – sie waren eines unserer Markenzeichen und trugen zu dem Ansehen des Festivals bei, gaben ihm sozusagen ein unverwechselbares Bild in der Öffentlichkeit. Wir hatten das Glück, von Anfang an einen der damals besten Plakatgrafiker Deutschlands, vielleicht sogar Europas engagiert zu haben: Günther Kieser. Bis auf die Jahre von 1981 bis 1983 war er bis 2000, die ganze Ära Ulrich Eckhardt hindurch, für uns tätig.

Was war das Besondere dieser Plakate?

Dem Günter Kieser ist es gelungen in seiner Plakatgestaltung etwas von der Vitalität dieser Musik rüberzubringen, ob er nun Instrumente als Sujets wählte, die Plakate rein grafisch gestaltete oder Gesichter ins Zentrum rückte. Er selbst ist ein großer Jazzfan und hörte immer Jazzmusik, wenn er Plakate entworfen hat. Und er wurde natürlich auch von mir gebrieft – ich schickte ihm Platten von den Musiker*innen, die auftreten sollten. Manchmal bat er auch um eine Art kurzen Sinnspruch, der das kommende Programm umriss.

Mit dem Intendantenwechsel von Ulrich Eckhardt zu Joachim Sartorius wechselte dann auch das grafische Erscheinungsbild des Jazzfest Berlin.

Im Nachhinein denke ich, vielleicht habe ich mich zu wenig gewehrt gegen Kiesers Ablösung. Über die Jahre war eine Freundschaft entstanden, die sogar stärker als der Mauerfall schien. Am 9. November fuhr ich tagsüber zur Eröffnung einer großen monografischen Ausstellung Günther Kiesers im Deutschen Plakatmuseum in Essen am Freitag, den 10.11.1989. Die Maueröffnung fand zeitversetzt nur in meinem Autoradio statt. Als ich am 11. November von Westdeutschland zurück nach Berlin fuhr, hatte ich immerhin das Glück, auf der gegenüberliegenden Seite der DDR-Schlange aus Trabbis und Wartburgs von Marienfelde bis Magdeburg zu fahren.

Apropos Mauerfall: Wie hat sich der Mauerfall im Festival niedergeschlagen? Die Mauer ist 1989 ein paar Tage nach dem Festival gefallen. Kam es dann zu mehr Beteiligungen von Künstler*innen aus der ehemaligen DDR oder gab es diesen Austausch auch schon vorher?

Nicht ohne Grund hatte das Jazzfest-Plakat 1990 das Victoryzeichen als Symbol für die Überwindung der Mauer, die ja lange Jahre den künstlerischen Austausch erschwerte. Wir gingen 1990 mit einer Veranstaltung ins Haus der jungen Talente, ein in der ehemaligen DDR traditionsreicher Ort für Jazz, und Bands aus dem Osten wie das Zentralquartett und das Jazz-Orchester der DDR unter Günter „Baby“ Sommer waren dabei.

Seit den Berliner Jazztagen 1979 und dem Gastspiel der Ulrich Gumpert Workshop Band gab es etablierte Kontakte zur DDR-Szene. Ob solistisch oder im Delegations-Verbund war die aktive Szene der DDR immer willkommen. Bert Noglik war beispielsweise lange DDR-Jahre Freund des Festivals und Programmheft-Autor bevor er als Künstlerischer Leiter des Jazzfests Berlin Heroen von „Luten“ Petrowsky bis Günter „Baby“ Sommer zu angemessenem Spielraum verhelfen konnte.

Veränderungen im Laufe der Zeit

Wie hat sich aus ihrer Sicht als Produktionsleiter der Jazz und vor allem das Jazzfest verändert, seit Ihren Anfängen?

In der Anfangsära des Jazzfest Berlin war die Philharmonie noch ein ungewöhnlicher Ort – was man sich heute vielleicht kaum noch vorstellen kann. Die Philharmonie wurde 1963 eröffnet und bereits 1964 fanden dort die ersten Berliner Jazztage statt. Man muss sich das mal vorstellen: In einem Konzertsaal, der eigentlich für die Klassische Musik gedacht war, findet plötzlich Jazz statt. Und eine Musik, die keineswegs dem Mainstream entsprach, wurde nun salonfähig. Für die*den eine*n oder andere*n Musiker*in war das durchaus eine Herausforderung in diesem Saal zu spielen. Vor allem die Bluesmusiker, hatten, wenn sie auf die Bühne kamen ein gerütteltes Maß an Respekt, um nicht zu sagen Angst, in dieser Situation zu versagen. Dieser Raum entsprach nicht den Locations, in denen sie gewohnt waren aufzutreten – der Abstand zum Publikum, das geordnet auf Stühlen saß, die ganze Atmosphäre, die Akustik …

Nach dieser Ära war 1994 eine der großen Zäsuren, denn in diesem Jahr sind wir ins Haus der Kulturen der Welt (HKW) umgezogen, in die ehemalige Kongresshalle. Es war dann schon leichter, erfolgreich zu sein und zu bleiben, weil man nur einen Raum mit 1000 Leuten füllen musste. In der Philharmonie mussten wir immerhin 2200 Plätze verkaufen.

Eine weitere Zäsur in puncto Locations war dann 2001, als das Jazzfest Berlin im Haus der Berliner Festspiele, der ehemaligen Freien Volksbühne in der Schaperstraße, seinen zentralen Ort fand. Von diesem zentralen Spielort aus verband sich das Festival über die Jahre hinweg zunehmend mit den Jazzclubs der Stadt wie dem Quasimodo, dem Soultrane oder verlinkte sich mit anderen Spielorten wie der Kulturbrauerei, dem Kino Babylon oder dem A-Trane.

Auch die Wechsel in den Künstlerischen Leitungen bedeuteten immer Zäsuren. George Gruntz, der von 1972 bis 1994 das Festival geleitet hatte, demissionierte nach dem Mauerfall, als die Gelder knapper wurden. Wir hatten viele Parallelstrukturen in den Kultureinrichtungen der Stadt. Im ehemaligen Ostberlin zum Beispiel Jazz in der Kammer und weitere Jazzfestivals. Da wurde das Geld knapper. Gruntz hatte dann keine große Lust mehr, um jeden Dollar und jede D-Mark kämpfen zu müssen.

Als Nachfolger kam der Posaunist Albert Mangelsdorff, bis 2000. Dann gab es einen neuen Intendanten, Joachim Sartorius, der den schwedischen Posaunisten Nils Landgren als Künstlerischen Leiter installierte. Interessant war jedoch zu sehen, wie Musiker*innen als Künstlerische Leiter*innen handeln und wie Journalist*innen wie Joachim Ernst Berendt, Peter Schulze, Bert Noglik, Richard Williams oder jetzt Nadin Deventer die Sache angehen – die letzten beiden waren nach meiner Zeit. Die Musiker*innen agieren mehr – so jedenfalls meine Sicht – aus ihrer inneren musikalischen Haltung heraus, während die Nicht-Musiker*innen vielleicht mehr eine reflektierte Draufsicht versuchen.

Und was hat sich im Laufe der Jahre in der Art der Produktion des Festivals geändert?

Allein durch die Digitalisierung wurde vieles leichter und schneller. Früher hatten wir Fernschreiber (Telex) und riesige Telefonrechnungen. Die Bundespost hatte damals das Monopol und konnte die Preise bestimmen und da wir viele transatlantische Telefonate hatten, war das immens teuer. Die postalische Hin- und Her-Übermittlung von Verträgen dauerte früher schon mal an die vier Wochen. Das bedeutete für die Festivalproduktion ein ganz anderes Zeitmanagement als heute, wo alles tausend Mal schneller geht. Heute kann man die Zeitverschiebung zum Beispiel durch Mails auffangen. Ich habe mir damals angewöhnt lange im Büro zu arbeiten, um die Übersee-Telefonate in Echtzeit führen zu können. Im Vergleich zu meiner Zeit hat sich der zeitliche Vorlauf für die Planung und Durchführung eines Festivals doch sehr verkürzt.