Text | Essay | Berliner Festspiele 2021

Festspielgeschichten: Das Nachbargrundstück

von Angela Rosenberg

Provisorische Ausstellungshalle der „Topographie des Terrors“ vor dem Martin-Gropius-Bau, 1990 Foto:
© Margret Nissen / Stiftung Topographie des Terrors, Berlin

Die Kunsthistorikerin Angela Rosenberg wirft in unserer Reihe #Festspielgeschichten einen Blick auf die wechselhafte Geschichte des Grundstücks, das unmittelbar an den Gropius Bau grenzt und heute die „ Topographie des Terrors“ beheimatet.

Verfügbar seit 28. Juni 2021

Lesezeit ca. 13 Min

Deutsch

Berliner Festspiele

Berliner Festspiele 70

In unmittelbarer Nachbarschaft zum Gropius Bau befindet sich die „Topographie des Terrors“. Das Gelände hat eine bewegte Geschichte und erinnert an die Gräuel des NS-Regimes. Hier befanden sich von 1933 bis 1945 die wichtigsten Zentralen des nationalsozialistischen Terrors: das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapo) mit dem berüchtigten „Hausgefängnis“, die Reichsführung-SS, der Sicherheitsdienst (SD) der SS und während des Zweiten Weltkriegs das Reichssicherheitshauptamt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte der Abriss des Gebäudes, das ursprünglich als Kunstgewerbeschule neben dem Kunstgewerbemuseum – dem heutigen Gropius Bau – errichtet wurde.

  • Berlin, Geheimes Staatspolizeihauptamt
    Geheimes Staatspolizeihauptamt, Prinz-Albrecht-Straße 8, im Jahr 1933
    © Bundesarchiv, Bild 183-R97512 / Unknown author / CC-BY-SA 3.0

Über Jahrzehnte diente das Ruinengelände einer Verwertungsfirma als Schutthalde und als „Autodrom“, ein Fahrübungsgelände, das der Berliner Travestiekünstler Harry Toste, alias „Straps-Harry“, dort in den 1970er und 1980er Jahren betrieb. Autofahren kostete dort damals 5 Mark die Stunde. Das Gelände war ein Abenteuerspielplatz für Jugendliche. Die Fahrstrecke bestand aus unzähligen Kurven, Hügeln und einer Zielgeraden. An die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt sich kaum einer. Direkt an der Mauer gelegen, war die Gegend ein Niemandsland – eine nahe gelegene Kneipe trug den Namen „Land’s End“.

  • Fahren ohne Führerschein, im "Autodrom", 1981
    © Margret Nissen / Stiftung Topographie des Terros
  • Fahren ohne Führerschein, im "Autodrom", 1987. © Margret Nissen / Stiftung Topographie des Terros
    Fahren ohne Führerschein, im "Autodrom", 1981.
    © Margret Nissen / Stiftung Topographie des Terros

Bis es zur Nutzung des Ortes als Dokumentationszentrum kam, vergingen über vierzig Jahre. Erstmals machte eine kleine Hinweistafel, 1981 neben dem Martin-Gropius-Bau angebracht, anlässlich der großen „Preußen“-Ausstellung, auf die Historie des Geländes aufmerksam. Damals fand die Eröffnung mit Kurt Weills „Berliner Requiem“ auf den nördlichen Schutthügeln statt. Es dauerte weitere dreißig Jahre bis zur Eröffnung des Dokumentationszentrums (2010). Dessen erklärtes Ziel war es, das Wissen über das NS-Regime mit dem genius loci zu verknüpfen und, laut Stiftungsgesetz, die „Vermittlung historischer Kenntnisse über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen sowie der Anregung zur aktiven Auseinandersetzung mit dieser Geschichte, einschließlich ihrer Folgen nach 1945“. Vehement setzte sich dafür der Historiker Reinhard Rürup ein, der die Fachkommission für die Errichtung des Ortes leitete, der nicht nach den Opfern, sondern nach den Tätern und der Gesellschaft fragen sollte, in der diese Taten möglich waren. Ebenso betonte der damalige Intendant der Berliner Festspiele, Ulrich Eckhardt, dass dies „kein Ort für Kranzniederlegungen, Rituale oder zeremonielle Entlastungsvorgänge“ werden solle, sondern „ein Denkort und Lernort für die Erben der Verantwortung“.

  • Ausstellung "Topographie des Terrors", 1987 © Margret Nissen / Stiftung Topographie des Terros
    Ausstellung "Topographie des Terrors", 1987
    © Margret Nissen / Stiftung Topographie des Terros

Andreas Nachama, der als Stiftungsdirektor von 1987 bis 2019 die „Topographie des Terrors“ leitete, arbeitete Ende der 1970er Jahre für die Berliner Festspiele, unter anderem im Kuratorenteam für die erste Ausstellung im Gropius Bau: „ Preußen – Versuch einer Bilanz“ (1981). Nachama produzierte in der Folge mit einer Arbeitsgruppe der Berliner Festspiele die erste dokumentarische Ausstellung „Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt auf dem ‚Prinz-Albrecht-Gelände’“ (1987). Sie war in einer provisorischen Ausstellungshalle als Teil der im Martin-Gropius-Bau gezeigten Ausstellung „Berlin, Berlin“, anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins, zu sehen. Die Gründung der „Stiftung Topographie des Terrors“ erfolgte im Jahr 1992. Bis dahin zählte die „Topographie des Terrors“ zu den Berliner Festspielen.

  • Das ehemalige „Prinz-Albrecht-Gelände“ vom Europahaus aus fotografiert, 1989 © Margret Nissen / Stiftung Topographie des Terros
    Das ehemalige „Prinz-Albrecht-Gelände“ vom Europahaus aus fotografiert, 1989
    © Margret Nissen / Stiftung Topographie des Terros

Heute sind die konfliktreiche Genese des Gedenkorts und die hitzigen Debatten um die aufwändigen Architekturwettbewerbe fast vergessen: 1983/84 vergab die Internationale Bauausstellung Berlin (IBA) den ersten Preis an Jürgen Wenzel und Nikolaus Lang, aber das Projekt wurde nicht realisiert. 1993 lud die Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen zwölf Architekten ein, einen Entwurf einzureichen. Der Bauhistoriker Dieter Hoffmann-Axthelm forderte damals, statt eines architektonischen Meilensteins, einen „undekorierten Schuppen“, der das Gelände als „Hauptexponat“ vorstellt, und ein sachliches Ausstellungsgebäude für die begleitenden wissenschaftlichen und pädagogischen Ausstellungen. Der erste Preis ging an Peter Zumthor, jedoch wurde das Bauprojekt 2004 abgebrochen, weil der Entwurf als unbaubar und vor allem unbezahlbar galt – die Baukosten hatten sich von ursprünglich 22,5 Millionen Mark fast verdoppelt, nach jahrelangem Streit wurden die drei unvollständigen Betonpfeiler abgerissen und ein neuer Wettbewerb 2005/2006 vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung durchgeführt. Den Wettbewerb gewannen die Architektin Ursula Wilms und der Landschaftsarchitekt Heinz W. Hallmann. Sie erfüllten die Vorgaben und hielten mit 20 Millionen Euro den vorgegebenen Kostenrahmen ein. Alle 309 Wettbewerbsentwürfe wurden 2006 im Martin-Gropius-Bau ausgestellt.

Über eine Million Menschen – die meisten von ihnen Tourist*innen – strömten zuletzt jährlich durch die Freiluftausstellung entlang der Grundmauern des einstigen Gestapo-Hauptquartiers, um sich, im Schatten der Mauer, über die NS-Verbrechen zu informieren. In dem von außen bescheiden wirkenden Pavillon entfaltet sich die ganze Wucht der Grausamkeiten des NS-Regimes in regelmäßigen Wechselausstellungen. Die Geschichte dieses Ortes und die „Topographie des Terrors“ gehören zur DNA des Gropius Bau und transformieren das Gebäude zu einem Ausstellungshaus jenseits des white cube. Im Kontext der gegenüberliegenden, sichtbar gemachten Verbrechen erfährt jede Ausstellung, spätestens beim Blick aus dem Fenster, einen dramatischen Bedeutungswandel.