Text | Essay | Berliner Festspiele 2021

Festspielgeschichten: Eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen

von Sarah Ströbele

Arila Siegert mit ihrer von Wolfgang Krause gefertigten Maske für ihr gleichnamiges Stück „Die Maske“. Foto: Simone Graf
Arila Siegert mit ihrer von Wolfgang Krause gefertigten Maske für ihr gleichnamiges Stück „Die Maske“. Foto: Simone Graf

Wie steht es in der Festspielgeschichte eigentlich um Choreograf*innen und Tänzer*innen aus der ehemaligen DDR? Welche ostdeutschen Tanz-Ikonen wurden Teil des Festwochen-Programms? Sarah Ströbele, Kunstwissenschaftlerin und Anfang des Jubiläumsjahres Dramaturgiepraktikantin bei den Berliner Festspielen, ging diesen Fragen nach und durchstöberte Programme, Magazine, Chroniken und Erinnerungen aus 70 Jahren für unsere Reihe #Festspielgeschichten. .

Verfügbar seit 15. Dezember 2021

Lesezeit ca. 10 Min

Deutsch

Berliner Festspiele

Berliner Festspiele 70

Ein kleiner, übersichtlicher Raum von etwa vier Quadratmetern mit bis zu dreieinhalb Meter hohen Regalen voller Ordner mit Programmen und Magazinen, Ausstellungskatalogen und Publikationen: In dieser Kammer im Keller des Hauses der Berliner Festspiele in der Schaperstraße startet meine Recherche. Doch viel finde ich hier nicht. Ein Blick in die fragmentarische Chronik der ersten 50 Jahre Festspielgeschichte sowie Gespräche mit Expert*innen der Berliner Tanzlandschaft wie Nele Hertling, Claudia Henne, Volkmar Draeger und Roland Gawlik bestätigen meine Vermutung: Die bei den Berliner Festwochen aufgeführten Tanz-Gastspiele aus der DDR lassen sich an wenigen Fingern abzählen. Eine kurze Rückblende gibt Aufschluss.

Die Gründung der Berliner Festwochen erfolgte 1951 mit Blick nach Ostberlin. Von den Westalliierten finanziert, sollten sie als Schaufenster des freien Westens fungieren. [1] Im Kontext des Kalten Krieges und in Anbetracht der zunehmend als Konkurrenz wahrgenommenen Theaterlandschaft in Ostberlin rief der Deutsche Bühnenverein Künstler*innen dazu auf, nur noch in Westberlin zu arbeiten und hielt westdeutsche Theater dazu an, keine Ensembles aus Ostberlin oder der damaligen Ostzone zu empfangen. [2] Schon bald stellten sich der als „Kulturoffensive“ oder kaum weniger polemisch als geistiger Verteidigungsbeitrag bezeichneten Westberliner Kulturpolitik die 1957 ins Leben gerufenen Ostberliner Festtage entgegen. [3] Nach dem Mauerbau mussten sich die in Westberlin wohnhaften Künstler*innen, die ihrem Engagement in Ostberlin nachkamen, innerhalb eines Monats entscheiden: der Umzug in den Ostteil der Stadt oder die Kündigung ihres Vertrags. [4] Nachdem 1961 im Westen – wie schon zuvor 1953 und 1956 – mit einem weiteren ausgerufenen Brecht-Boykott reagiert wurde, distanzierten sich schließlich einige Intendanten westdeutscher Theater von „jeder tendenziösen Beeinflussung der Spielpläne durch Gruppen außerhalb des Theaters nachdrücklich“ [5].

Als erstes osteuropäisches Ensemble überwand das Prager Theater Laterna Magica 1963 den Eisernen Vorhang, um an den Berliner Festwochen teilzunehmen. Der 1964 gegründete Theaterwettbewerb, seit 1965 bekannt als Theatertreffen, wählte zwar fortwährend Theaterproduktionen aus der DDR aus, konnte sie jedoch zunächst nicht zeigen. Erst mit der Annäherungspolitik Willy Brandts in den 1970er-Jahren entspannte sich die Ost-West-Beziehung langsam. Der Auftrag der Regierung an die 1967 als Trägergesellschaft ins Leben gerufene Berliner Festspiele GmbH war es – zur Hälfte vom Bund und zur Hälfte vom Land Berlin getragen –, Brücken in den Osten zu bauen. Zur ersten Einladung einer Tanzschaffenden aus der DDR kam es dennoch erst 1986.

Im Rahmen der Mary Wigman-Ausstellung zum 100. Geburtstag der Ikone des modernen Ausdruckstanzes empfing die Akademie der Künste in Kooperation mit den Berliner Festspielen Arila Siegert aus Dresden 1986 in Westberlin. Die Palucca-Schülerin und damit indirekte Erbin der Wigman-Schule gehört zu den wichtigsten Tänzer*innen und Choreograf*innen der DDR. Nach einer Zeit als Solotänzerin unter Tom Schilling an der Komischen Oper Ostberlin wechselte Siegert an die Dresdner Staatsoper, wo sie ihr eigenes Tanztheater gründete. In der Westberliner Akademie tanzte sie anlässlich ihrer Einladung den mehrteiligen Soloabend „Gesichte“, der unter anderem aus dem Stück „Die Maske“ bestand. In der DDR war die Aufführung zuvor auf politische Bedenken gestoßen: „Im Sozialismus gebe es keine Probleme und keine gesichtslosen Leute – in der Art“, erinnert sich Arila Siegert. [6] Siegerts zentrales Kostüm, eine Maske mit Mittelscheitel und zwei schwarzen Haarknoten, präsentierte die Akademie der Künste 2019 in der Ausstellung „Das Jahrhundert des Tanzes“.

  • Das Kostüm sowie die Maske waren Teil von Arila Siegerts Stück „Die Maske“, das sie im Rahmen ihres Soloabends „Gesichte“ (1985) zeigte. Die Maske fertigte Wolfgang Krause an. Foto: Simone Graf
    Das Kostüm sowie die Maske waren Teil von Arila Siegerts Stück „Die Maske“, das sie im Rahmen ihres Soloabends „Gesichte“ (1985) zeigte. Die Maske fertigte Wolfgang Krause an. Foto: Simone Graf

Aus heutiger Sicht erscheint es naheliegend, dass der politische Auftrag der Berliner Festwochen, „über die künstlerischen Leistungen der westlichen freien Welt selbstbewußt [sic] ... [zu] informieren und die Stärke pluralistisch-demokratischer Kultur ... [zu] zeigen“ [7], bei der Programmauswahl eine große Rolle gespielt hat. Laut der ehemaligen Programmmitarbeiterin Francesca Spinazzi wurden in diesem Sinne auch Produktionen aus Osteuropa ausgewählt: nicht nach Ästhetik, sondern nach Aussage. Es ist anzunehmen, dass dem Sprechtheater der Anspruch, die Kritik an vorherrschenden Verhältnissen zu äußern und damit das Streben nach pluralistisch-demokratischer Kultur darzustellen, eher zugesprochen wurde als dem formal anmutenden Tanz. Andererseits wurden gerade „[o]stdeutscher Tanz und Körperkultur (…) zum Schauplatz des Konflikts zwischen deutscher Kulturtradition und sozialistischen Körperrichtlinien“, so der Tanzwissenschaftler Jens Richard Giersdorf. [8]

Nach zahlreichen internationalen Gastspielen kehrte Siegert 1989 und 1991 mit zwei Tanz-Workshops beim Internationalen Forum junger Bühnenangehöriger in das Festspiel-Programm zurück. Mit der Wende ebbte jedoch das Interesse an ostdeutschem Tanz und vielen seiner Vertreter*innen schlagartig ab. 1997 besuchte Arila Siegert die Berliner Festspiele mit ihrer Version der Rekonstruktion von Dore Hoyers „Afectos Humanos“ vorläufig ein letztes Mal. Lediglich anhand einer geschmuggelten Videokassette hatte Siegert sich den Zyklus noch vor der Wende erarbeitet.

Im selben Jahr dominierte das Thema „Deutschlandbilder – Kunst aus einem geteilten Land“ die Festwochen. Neben Bildender Kunst, Musik und Film aus Ost und West begleitete das Festwochen-Programm das sogenannte Deutschland Projekt: „Zwei freie Theaterkünstler, Jo Fabian (Berlin) und Gabriella Bußacker (Hamburg), die im geteilten Deutschland – in der DDR beziehungsweise der BRD – aufgewachsen sind und sich dort künstlerisch entwickelt haben, erarbeiteten unabhängig voneinander ihre Inszenierungen für die Berliner Festwochen 1997. Sinn und Ziel des ‚Deutschland Projekt‘ ist es, sichtbar zu machen, welche Bedeutung der Herkunft der beiden Künstler aus den kulturellen Kontexten der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften für den inhaltlichen Umgang mit dem Thema und im Hinblick auf die Theaterästhetik sieben Jahre nach der Vereinigung (noch) zukommt“, schreibt Henning Fülle in einer Tagesspiegel-Ausgabe vom 6. September 1997 zu den 47. Berliner Festwochen.

  • Aufnahme vom Artikel „Deutschland Projekt“ von Henning Fülle im Tagesspiegel, Ausgabe zu den 47. Berliner Festwochen vom 6. September 1997
    Aufnahme vom Artikel „Deutschland Projekt“ von Henning Fülle im Tagesspiegel, Ausgabe zu den 47. Berliner Festwochen vom 6. September 1997

Der DDR-Vertreter des Doppelprojekts Jo Fabian brachte „Pax Germania“ im Hebbel-Theater und Gabriella Bußacker „De Utschl and – Kommune 97“ im Theater am Halleschen Ufer zur Uraufführung. 40 Jahre DDR kondensierte der heute als Theaterregisseur bekannte Jo Fabian gemeinsam mit Schauspieler*innen und Tänzer*innen in einem 40-minütigen Standbild. Erst nach diesen ersten 40 Stückminuten, also nach der Wende, begannen die Darsteller*innen zaghafte Schritte auf die Bühnenkante zuzugehen und in einigen Fällen angesichts der großen Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwurde, zusammenzubrechen. Die Gruppen um Bußacker und Fabian hatten während der Stückentwicklung untereinander keinerlei Kontakt. Letztendlich zeigten sie sich eher irritiert von der jeweils anderen Perspektive. Rückblickend bezeichnet Fabian das Projekt als einen sportlichen Vergleich, der nicht dazu beigetragen habe, Mauern zu überwinden, sondern sie lediglich sichtbar machte.

Zum Ende meiner Suche nach Tanz aus der DDR bei den Berliner Festspielen ist bei mir ein bitteres Gefühl der Unüberwindbarkeit und auch die Skepsis gegenüber der politischen Aussagekraft von Tanz hängengeblieben. „Zwei Augenaufschläge und Sie sind sechzig, so ist es im Rückblick“, sagte Arila Siegert zu mir. Ihre Enttäuschung darüber, dass das Interesse an ostdeutschem Tanz nach der Wende von einem auf den anderen Tag verflogen war und sogar verlacht wurde, bleibt für die heute international erfolgreiche Opernregisseurin unvergessen. [9]

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[1] Vgl. Decker, Kerstin: Kunst ist Waffe? Ein legitimes Kind des Kalten Krieges: Über die Gründung der Berliner Festwochen, in: Westberlin vor 60 Jahren. nachtkritik.de, 2011, https://www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=5974:ein-legitimes-kind-des-kalten-krieges-ueber-die-gruendung-der-berliner-festwochen-in-westberlin-vor-60-jahren&option=com_content&Itemid=60, Stand: 25.11.2021

[2] Vgl. Nachrichtendienst des Deutschen Bühnenvereins, 4 (1951). In Lennartz, Knut: Th­eater, Künstler und die Politik. 150 Jahre Deutscher Bühnenverein, Berlin 1996, S. 297.

[3] Lommer, Horst auf einer Westberliner Diskussion unter dem Thema „Wer hat dem Künstler den Krieg erklärt?“, zit. nach Müller, Henning: Theater der Restauration. Westberliner Bühnen, Kultur und Politik im Kalten Krieg, Berlin 1981, S. 202.

[4] Vgl. Hausbei, Kerstin: Berlin: Theaterlandschaft in einer doppelten Stadt?, Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande [Online], 49-1 (2017), S. 65, http://journals.openedition.org/allemagne/521, Stand: 08.03.2021

[5] Lennartz, Knut: Th­eater, Künstler und die Politik. 150 Jahre Deutscher Bühnenverein, Berlin 1996, S. 303f.

[6] Siegert, Arila, in: Herrmann, Regine (Hg.), Arila Siegert. Tänzerin, Choreografin, Regisseurin, Berlin 2014, S. 55.

[7] Eckhardt, Ulrich, in: Berliner Festspiele (Hg.): 1951-2000. 50 Jahre Berliner Festwochen. Eine kommentierte Chronik. Berlin 2000, zit. nach Tanz um August, 1551, https://www.tanzimaugust.de/30jahre/1951/?fbclid=IwAR2mXEzBCcfh1rWHKRHOLLdLr6Ztt4oYKLDY2BU7QuDDMr5RQZTx07JDhTs, Stand: 12.12.2021

[8] Giersdorf, Jens Richard: Volkseigene Körper. Ostdeutscher Tanz seit 1945, Tanz-Scripte, Bd. 34, Bielefeld 2014, S. 20.

[9] Vgl. Hertling, Nele: Tanz gegen die Ignoranz des Westens, Berliner Zeitung 1.6.2020, https://www.berliner-zeitung.de/zeiten/tanz-gegen-die-ignoranz-des-westens-li.84603?pid=true, Stand: 12.12.2021