Text | Interview | Berliner Festspiele 2023
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Gespräch der Dramaturgin Katinka Deecke mit dem Choreographen Trajal Harrell

Im Rahmen von Tanz im August bringt das Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble „The Romeo“ am 12. und 13. August 2023 im Haus der Berliner Festspiele auf die Bühne. Mehr über das Werk und seine Entstehung erfahren Sie in einem Gespräch zwischen Dramaturgin Katinka Deecke und Choreograf Trajal Harrell.
Katinka Deecke (KD): Bei „The Romeo“ arbeiten Sie mit historischer Vorstellungskraft und historischer Fantasie, so wie Sie es bereits gelegentlich in Ihrer künstlerischen Laufbahn getan haben. Sie erschaffen eine Vergangenheit, die sich von der bekannten, in den Schulen gelehrten Geschichte unterscheidet – eine Vergangenheit, die möglich gewesen sein könnte, die vielleicht sogar stattgefunden hat, nur dass wir nichts über sie wissen, weil es keine Belege dafür gibt. Wie würden Sie die spezifische historische Fiktion beschreiben, die sich durch „The Romeo“ zieht?
Trajal Harrell (TH): Ich beschäftige mich seit 2008 mit dem „Was wäre wenn“. Ich entwickelte diese Thesen als Strategien, um das Publikum und uns als Performer*innen auf die gleiche Ebene zu bringen. Ich wollte, dass das performative Ereignis eine Dynamik des Hinterfragens und der Analyse erzeugt, die in Form des Tanzens stattfindet, die aber unser Denken und unsere Vorstellungskraft auf eine gemeinsame Wellenlänge bringt. Im Fall von „The Romeo“ habe ich versucht zu überlegen, was ich für die 2.000 Menschen im Publikum tun könnte ... Es war das erste Mal, dass ich ein Stück für so viele Menschen produzieren würde. Ich begann, über einen imaginären Tanz nachzudenken und über die Idee, dass der Mythos des Tanzes selbst die Verbindung zwischen dem Publikum und den Darsteller*innen sein würde, dass der Tanz selbst das Ereignis an sich erschaffen würde.
Ich bin der Meinung, dass die historische Imagination die Aufführung hervorbringt. Im Fall von „The Romeo“ war es mir sehr wichtig, dass es nicht repräsentativ ist, dass es kein Tanz ist, der irgendetwas repräsentiert. Ich wollte mir einen Tanz mit vielen Tänzer*innen vorstellen, einen Tanz, der in sich verschiedene Kulturen und Länder begeben und sich durch diese Reise verändert hat. Der Tanz, den wir im Theater sehen, würde in gewisser Weise die Spur sein, die diese Transformationen hinterlassen haben. Allerdings soll alles nur spekulativ sein. Wir wollten nicht genau festlegen, aus welchen Kulturen etwas stammt oder wo und wann etwas stattgefunden hat. Vielmehr würde all dies in der Vorstellung des Publikums und der Darsteller*innen existieren. Eines der Missverständnisse, die mir in Bezug auf „The Romeo“ aufgefallen sind, ist, dass die Leute darüber schreiben, als sei es ein Tanz für alle und jeden, als sei es ein populärer TikTok-Tanz. Das ist er jedoch nicht. Er soll nicht repräsentativ sein für einen allseits beliebten, universellen Tanz. Er ist einfach nur eine imaginäre Möglichkeit, die in dieser Nacht in dem Raum stattfinden kann.
KD: Die Premiere von „The Romeo“ wird im Palais des Papes stattfinden, das seit Jean Vilar natürlich eine ästhetische, künstlerische Vorgeschichte besitzt, aber auch eine viel längere Vergangenheit, eine Geschichte der Politik, der Macht und der Religion. Wie interagiert das Stück mit dieser Geschichte des Ortes? Wie ordnet sich das Werk selbst in die Jahrhunderte langen Kämpfe ein, die das Gebäude durchlitten hat?
TH: Für mich hat das etwas mit dem Verständnis von Geschichte selbst zu tun. Mit dem Cour d’honneur, dem Ehrenhof, hatte ich es mit einem bedeutenden historischen und architektonischen Wahrzeichen zu tun, das ich nicht auf irgendeine politische Art und Weise bloßstellen wollte. Ich habe es dahingehend transformiert, dass ich wollte, dass der Tanz etwas Altes ist. Ich wollte etwas Altes erschaffen. Ich bin ein zeitgenössischer Choreograf, normalerweise mache ich Dinge, die neu sind und aus der heutigen Zeit stammen. Dies war das erste Mal, dass ich versucht habe, etwas aus der Vergangenheit zu machen. Ich habe versucht, etwas zu kreieren, von dem man meinen könnte, es sei so alt wie der Palais des Papes, und das Elemente enthält, die noch älter sind als der Palais. Auf diese Weise ist die Historizität in der Struktur des Tanzes enthalten. Allerdings wollte ich nicht auf irgendwelche spezifische Ereignisse Bezug nehmen, die sich im Palais zugetragen haben, und ich wollte auch nicht näher auf die religiösen Konnotationen eingehen. Jedes Mal, wenn man sich mit Historizität beschäftigt, treten diese Dinge natürlich möglicherweise zutage. Sie werden zu möglichen Aspekten des Tanzes, aber ich habe nicht versucht, sie hervorzuheben.
KD: Durch den Bezug auf die Antike begibt sich „The Romeo“ in einen Dialog mit der Geschichte. Gleichzeitig ist Tanz als künstlerische Form eine Kunst, die sich dem reinen Moment verschrieben hat; er ist, anders als die Malerei oder die Architektur, nicht auf Dauer angelegt. Man könnte fast meinen, dass es ein Widerspruch ist, von Geschichte und Tanz zur gleichen Zeit zu sprechen. Worin besteht das Spannungsverhältnis zwischen dem gegenwärtigen Moment und der Dauer von Geschichte, die „The Romeo“ zum Ausdruck bringt?
TH: Ich denke, genau das ist das Kunststück des Werks, bzw. der künstlerische Schachzug, und der Grund, warum es so schwierig war, es zu realisieren. Wie ich schon sagte, habe ich versucht, etwas sehr Altes zu machen, und doch ist es eine völlige Fiktion, weil es genau jetzt erschaffen wird. Es kann nur in diesem einen Moment existieren. Es ist ein echter Zaubertrick, die Leute glauben zu lassen, sie sähen etwas Altes, aber in dem „Jetzt“, das ich als „alles, was wir wissen, ist eine Fiktion“ präsentiere. Wir haben nicht recherchiert, wir haben uns keine echten Tänze angeschaut und sie nachgestellt. Es geschah alles in der Fantasie, ich spielte mit dem, was ich für möglich hielt, oder was gewesen sein könnte. Darin besteht der künstlerische Schachzug. Es handelt sich um einen Widerspruch in der Begrifflichkeit; die historische Vorstellungskraft ist immer so. Allerdings bin ich der Meinung, dass die Magie des Theaters darin besteht, dass die Menschen glauben, dass sie auf derselben Seite stehen, dass sie glauben, dass die anderen denken, was sie denken, und dass sie sehen, was sie sehen und glauben, was sie glauben. Diese Art von Spekulation, die die Menschen an einem gemeinsamen Ort und zu einer gemeinsamen Zeit anstellen, ist das, was ich anstrebe.
KD: Während der Proben haben wir viel über die Musik, über den Soundtrack von „The Romeo“ diskutiert. „The Romeo“ verfolgt einen ganz anderen musikalischen Ansatz als viele Ihrer anderen Stücke, nicht nur, weil der Soundtrack nicht so stark mit Reibungen, Brüchen und Überraschungen arbeitet, sondern auch, weil die gesamte Musik von „The Romeo“ aus einem vergleichbaren kulturellen Umfeld stammt, nämlich der Musik von weißen Männern aus dem Westen des 19. und 20. Jahrhunderts. Wie kam es zu dieser Auswahl?
TH: Es ist schon witzig, dass die Leute das fragen. Ich setze die Musik niemals symbolisch ein. Ich erinnere mich an dieses Musikstück aus Jean-Jacques Beineix’ Film „Diva“, „Promenade Sentimentale“. Das hat mich auf Satie aufmerksam gemacht: Ich hatte das Album „Satie Slowly“ in meiner Plattensammlung, und es hat mich so sehr in seinen Bann gezogen, dass ich nicht mehr davon loskam. Sobald ich dieses Gefühl gefunden hatte, konnte ich es nicht mehr loslassen, und das war etwas, das sehr – ich wollte sagen, schwierig war, aber ich glaube, das war es auch – überraschend für mich war. Im Laufe des künstlerischen Prozesses dachte ich, ich würde es vielleicht ändern oder eine Variation davon finden, aber es fühlte sich einfach nicht richtig an. An einem bestimmten Punkt wollte ich, dass es ein sehr eindeutiges Gefühl von Klassik hat, das man bekommt, wenn man klassische Musik hört, auch wenn es eine sehr spezielle Art von klassischer Musik ist. Es ist von Satie und von der Klaviermusik beeinflusst. Es ist sehr gefühlvoll und ernst, aber ich wollte, dass es auch eine abstrakte Ebene besitzt; ich wollte, dass die Leute in der Lage sind, die Tänze zu abstrahieren. Ich hatte das Gefühl, dass diese Abstraktion verloren gehen würde, wenn ich zu viele Variationen verschiedener Genres und Musikstile verwenden würde, was ich oft tue. Es gibt viel klassische Musik in meinem Werk, aber bisher stand sie nie so sehr im Vordergrund. Das hatte aber nichts mit Kultur zu tun; ich hatte nicht vor, eine Aussage darüber zu machen, dass ich all diese Musik von weißen Männern aus dem Westen verwende. Ich habe die Musik einfach geliebt. Sie enthält eine Sanftheit, eine Art von Verträumtheit, die es einem erlaubt, mit uns auf diese Zeitreise zu gehen. Sie vermittelt einfach die Vorstellung einer Zeitlichkeit, die sich bewegt und atmet und sich zusammenzieht und ausdehnt. Und wissen Sie, ich liebe zwar auch Country-Musik, aber ich konnte mir beim besten Willen keine Musik von Johnny Cash vorstellen. (lacht)
KD: Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Musik und Ihr Tanz wie zwei starke Strömungen sind, die sich in dem einen Moment annähern und in dem anderen Moment wieder voneinander entfernen, um sich dann schließlich wieder für einen Moment zu vermischen. Nur um sich danach wieder voneinander zu trennen. Könnten Sie etwas mehr über diese Beziehung zwischen Ihrem Konzept von Tanz und der Musik erzählen?
TH: Das Wichtigste ist, dass ich es liebe, zu der Art von Musik zu tanzen. Da wir viel auf Tournee sind und die Stücke oft spielen, habe ich schon sehr früh in meiner Karriere erkannt, dass man die Musik sehr gerne hören muss, wenn man dazu tanzen will. Das Wichtigste ist also die Liebe; ich muss das Gefühl haben, dass ich die Musik so sehr liebe, dass ich sie praktisch immer wieder hören könnte, ohne dass mir langweilig wird. In gewisser Weise sind die Soundtracks meiner Stücke wie meine guten Freunde. In der Hinsicht unterscheidet sich die Musik von den Kostümen; ich habe nicht den gleichen Zugang zu den Kostümen wie zu der Musik.
Ich interessiere mich auch dafür, wie Musik dramatische Situationen kreiert und wie man Musik im Laufe der Zeit nutzen kann, um eine Art Landschaft mit Ein- und Ausgängen und Möglichkeiten auf der Bühne zu erschaffen. Ich habe bereits eine ganze Reihe von Soundtrack-Collagen produziert, aber jetzt möchte ich mich intensiver mit Stücken beschäftigen, die bereits strukturiert und aufgebaut sind. Es geht mir dabei nicht so sehr darum, eine Collage aus Dingen zusammenzustellen. Ich möchte einfach noch tiefer in ganze Musikstücke eintauchen.
KD: Sie haben gerade die Kostüme erwähnt und wie Sie damit umgehen. In welchem Zusammenhang stehen die Kostüme mit der Choreografie und dem Raum? Hier im Palais des Papes erleben wir die historische Begegnung von Mode und Päpsten, was nur auf den ersten Blick überraschend ist ... Sie entwickeln hier (und das tun Sie immer) eine spezifische Dramaturgie der Kostüme, nicht nur für das Stück als Ganzes, sondern auch für jede*n einzelne*n Tanzende*n. Sie konzipieren die Kostüme, um die Individualität jeder*s Tanzenden zu betonen und sichtbar zu machen, was mir fast das Gegenteil von dem zu sein scheint, was in der Mode gemacht wird, die dennoch eine wichtige Inspiration für Ihre Arbeit ist. Wie sieht dieser Prozess der Konzipierung der Kostüme aus?
TH: Als kleines Kind hat mich meine Mutter oft zum Einkaufen mitgenommen, deshalb kaufe ich gerne Kleidung ein. Und normalerweise ist das der Einstieg in ein Stück. Die Kostüme sind das erste greifbare Element, das ich vor Augen habe. Wenn ich alleine bin und anfange, an einem Stück zu arbeiten, sind die Musik und die Kostüme die ersten greifbaren Dinge, die ich zur Verfügung habe, um die Welt des Stücks zu erschaffen. Die Kostüme ermöglichen es mir, mehr auf die Besonderheiten der Tanzenden und des Tanzes selbst einzugehen als die Musik. Bei der Musik geht es in der Regel mehr um die Welt des Stücks, um den Ereignischarakter des Stücks. Die Kostüme verschaffen mir die Möglichkeit, mich in die Menschen hineinzuversetzen. Ich gehe einkaufen und sage: „Oh ja, das könnte gut zu dieser Person passen, das könnte genau das Richtige für diese Person sein“.
Aber bei „The Romeo“ war es ein wenig anders. Normalerweise arbeite ich vom ersten Tag der Proben an mit den Kostümen. Ich fange an, das Stück zu entwerfen und den Leuten die Kostüme anzuziehen. Bei „The Romeo“ habe ich das jedoch nicht getan. Das Stück war sehr schwer zu realisieren, und ich wollte nicht, dass mich die Kostüme in die Irre führen oder austricksen; ich wusste, dass ich nicht einfach in meine normalen Gewohnheiten verfallen konnte. Zum ersten Mal musste ich den Tanz selbst finden. Also habe ich gewartet, bevor ich die Kostüme mit zu den Proben brachte. Das hatte ich vorher noch nie gemacht, und es war für alle etwas seltsam, weil wir diese Vorgehensweise nicht gewohnt waren.
KD: Der Tanz „The Romeo“, dessen Geschichte Sie entwerfen, ist nicht einfach eine Abfolge von Schritten oder Bewegungen, sondern auch eine Geisteshaltung – eine Geisteshaltung, in der der Tanz ein Teil des Lebens mit seinen wichtigen Ereignissen und seinen banalen Begebenheiten ist. Wenn wir über den Romeo und über die generelle Bedeutung des Tanzes in der Welt der Menschen sprechen: Wo ist der Tanz da angesiedelt, in unserem Leben, in unseren Geschichten und unserer Geschichte?
TH: Ich vertrete auf eine fantasievolle Weise die Ansicht, dass der Tanz sehr wichtig ist und dass er auf einer Stufe mit der Politik, mit Kriegen, mit der Kulturgeschichte, mit der Kunstgeschichte und mit der Medizin steht. Ich versuche zu vermitteln, dass die Dinge, die man auf der Bühne sieht, auch wenn sie in gewisser Weise völlig unecht sind, Teil dessen sind, was die Menschheit und unsere menschliche Zivilisation ausmacht. Die Tänze, die wir aufführen und die wir versuchen, fiktiv darzustellen, sind keine kleinen, unbedeutenden Dinge. Es sind große Ideen! Sie haben wichtige Funktionen in Kultur und Gesellschaft inne. Dass der Tanz einen wichtigen Platz in der Kultur und der Geschichte einnehmen kann, ist etwas, was ich zu vermitteln versuche.
Ich hatte auch das Gefühl, dass ich genau das tun musste, weil ich hier im Palais des Papes beim Festival d’Avignon eingeladen war, im Cour d’honneur bei der ersten Ausgabe unter der neuen Leitung zu tanzen. Ich war mir bewusst, dass ich die Chance hatte, etwas zu sagen, und fragte mich: Was werde ich sagen? Ich war der Meinung, dass ich etwas über den Stellenwert des Tanzes im Leben und in der Geschichte der Menschheit sagen musste. Ich habe mich viel mit Frauenforschung und feministischer Theorie beschäftigt. Der Versuch, unterschiedliche Geschichten aufzuzeigen, die in Vergessenheit geraten waren, verschiedene Möglichkeiten, die sich von dem unterscheiden, was normalerweise im Vordergrund steht, war ein wichtiger Bestandteil der Arbeit vieler Menschen, sowohl in der akademischen als auch in der kulturellen Welt. „The Romeo“ ist mein Beitrag dazu. Dem Tanz wurde bislang nicht die gleiche Bedeutung beigemessen wie beispielsweise dem Theater und schon gar nicht wie der Literatur.
Der Tanz ist jedoch ein wichtiger Teil der Kultur und der Gesellschaft, und wenn wir den Tanz studieren, dann hat er uns etwas darüber zu sagen, wer wir sind und wer wir waren, über den linearen und/oder nichtlinearen Verlauf der so genannten „menschlichen Zivilisation“. Bei „The Romeo“ vertreten wir die Auffassung, dass der Tanz genauso viel zu sagen hat wie all diese anderen Dinge. All das findet sich auch in der Struktur der Tänze. Es ist ein großer Begriff, und es ist auch ein performativer Begriff. Das ist das Furchterregende daran: Man muss diesen Begriff im Rahmen einer Performance umsetzen, er ist nicht nur etwas, das man sagen kann. Ich meine, ich kann Ihnen in diesem Interview davon erzählen, aber das hat keine Bedeutung. Er muss für die Menschen spürbar sein, bei den Aufführungen. Sie müssen es fühlen, sie müssen es spüren.
KD: Welcher Raum eröffnet sich dem Tanz jenseits der Bühne, jenseits des performativen Tanzes?
TH: Oh, es gibt so viele verschiedene Räume. Was ich mache, ist etwas Besonderes, es ist eine spezifische Synthese von Performance, bei der eine Beziehung zwischen dem besteht, was wir sehen, was wir tun, welche Bedeutungen es hat, welche Beziehungen es zur Geschichte hat, welche Beziehungen es zur Ästhetik hat. Es ist ein nicht-statisches Feld von Bezügen, an dem manche Menschen teilhaben und andere nicht, und das ist in Ordnung. Ich hierarchisiere es nicht. Wir können Möglichkeiten aufzeigen, weil wir verstehen, dass Kultur und Kunst einen Platz innerhalb des Diskurses über Macht haben können.
KD: Sie sind nicht nur der Choreograf von „The Romeo“, sondern treten auch auf der Bühne auf. Wie würden Sie die Position beschreiben, die Sie auf der Bühne einnehmen? Und die Beziehung, die Sie mit den anderen Tanzenden und dem Raum eingehen?
TH: Bereits zu Beginn des Stücks versteht man, wer ich bin. Ich versuche nicht, mich zu verstecken, ich mache mich sichtbar. Ich sage, ich bin Trajal Harrell, damit man weiß, dass ich der Choreograf bin und dass ich eine gewisse wichtige Rolle im Stück habe. Man sieht, dass ich Dinge initiiere, dass ich Dinge ausgestalte. Ich möchte deutlich machen, dass meine Hand als Autor im Spiel ist, dass es sich um ein Kunstwerk von mir handelt. Indem ich diese Rolle übernehme, versuche ich, eine gewisse Sensibilität für meinen performativen Ort und für die Performer*innen zu erzeugen. Zum Teil ist es einfach praktisch, denn ich will das Stück sehen, ich muss Notizen machen, also brauche ich eine Position, in der ich auf der Bühne sein und gleichzeitig das Stück sehen kann. Und ich muss gestehen, dass das eine etwas ungünstige Strategie für meine Arbeit ist, denn ich möchte die Stücke sehen können. Und gleichzeitig möchte ich selbst als Tänzer auftreten, deshalb muss ich diese Strategien finden. Aber in performativer Hinsicht versuche ich, die Sensibilität des Stücks zu beeinflussen. Und auch ich selbst versuche, sensibel zu sein für die Richtung, in die sich das Stück jeden Abend bewegt.
KD: Ihre Zeit am Schauspielhaus Zürich und damit auch die Zeit des Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble neigt sich dem Ende zu, denn die beiden künstlerischen Leiter, die Sie engagiert haben, haben gekündigt und Sie anschließend auch. Wie geht es für Sie und das Dance Ensemble nach der kommenden Spielzeit weiter, in der Sie Ihre letzte Arbeit am Schauspielhaus realisieren werden?
TH: Eine gute Frage. Ich hoffe, dass wir einen Weg finden, um weiterhin ein Zuhause in Zürich zu haben, denn wir haben dort eine Fangemeinde aufgebaut, und es wäre schade, diese zu verlieren. Fünf Jahre sind die längste Zeit, die ich an einem Ort außer New York verbracht habe. Auch wenn unsere Beziehung zum Schauspielhaus enden wird, so hoffe ich, dass unsere Beziehung zu Zürich nicht endet. Zum jetzigen Zeitpunkt mit der Company in eine andere Stadt zu ziehen, wäre wie ein Neuanfang, und das würde keinen Sinn machen. Außerdem fühlen sich viele der Tänzer*innen in Zürich zu Hause, und ich versuche, dafür Verständnis zu haben. Allerdings war ich gleichzeitig noch nie jemand, der nur ein Zuhause hat – wir sind also offen für alle Optionen.
KD: Zum Abschluss noch die Frage: Worauf freuen Sie sich am Abend des 18. Juli 2023 am meisten?
TH: Ich werde einfach versuchen, präsent zu sein. Es ist wohl einer der wichtigsten Performance-Momente in meiner Karriere, aber ich komme einfach wie immer jeden Tag zur Arbeit und werde auch an diesem Tag zur Arbeit kommen, auch wenn es etwas Besonderes sein wird. Ich hoffe, dass Magie in der Luft liegt. Ich hoffe, dass die Sterne günstig stehen und wir alle einen ganz besonderen Abend erleben, an den wir uns für immer erinnern werden. Das ist es, was ich mir erhoffe.