Text | Essay | Gropius Bau 2022
Sichtweisen: Eine neue Museumsgeschichte für den Planeten Erde
Von Grace Ndiritu
Im zweiten Teil ihrer Reihe von Künstler*innentexten befasst sich Grace Ndiritu mit verschiedenen Formen der Wiederbelebung und Auseinandersetzung mit der Welt der „toten Materie“, die durch westliche Sehgewohnheiten entstanden ist. Sie konzentriert sich insbesondere auf die Rolle von Museen als gemeinsame Räume, in denen über Achtsamkeit und das Wohlergehen aller sich darin befindlichen Wesen - vom Publikum, dem Gebäude, der Gemeinschaft und den Objekten bis hin zu Mäzen*innen und dem Personal - nachgedacht werden kann. Die Künstlerin teilt ihre Erfahrungen, die sie durch schamanistische Praktiken beim Eintreten in „Deep Time“, die geologische Zeit, sammelte, und wie diese Erkenntnisse eine zukünftige Vision für Orte, an denen Kunst geschaffen, erlebt und geteilt wird, beeinflussen könnten.
– die Redaktion
Seit langem stört mich die begrenzte und polarisierende Art und Weise, in der die westliche Philosophie den menschlichen Geist und die Seele vom Körper getrennt hat. Dieses dichotome Denken wirkt sich auf alles aus: von der Art und Weise, wie Regierungspolitik gemacht wird, globale Märkte verwaltet und Friedens- und Sicherheitsfragen angegangen werden, bis hin zu den Lebensmitteln, die wir konsumieren, und der Art, wie wir mit Kunst umgehen. Angesichts der Dringlichkeit unserer derzeitigen ökologischen Krise sollte es nicht mehr um die Frage gehen, ob Objekte eine Seele haben, sondern darum, was wir tun können, um diese Spaltung in unserem Denken zu heilen – idealerweise, bevor sie unsere Umwelt und unsere gemeinsame kulturelle Zukunft zerstört.
Die westliche Tendenz, die Welt als einen „toten“ Ort zu betrachten – und Indigene, die traditionelles ökologisches Wissen nutzen, um mit der Natur und ihren (natürlichen oder künstlichen) Objekten zu kommunizieren so, als spielten sie bloß in einer „Fantasiewelt“ –, führt dazu, dass wir endlos konsumieren und achtlos verschmutzen. Denn wenn wir die Erde für einen toten Planeten halten, warum sollten wir uns dann um sie kümmern? Auch heute noch glauben die meisten nicht-westlichen Kulturen, dass Gegenstände eine Seele haben; dieser Glaube wird Animismus genannt.
„Da wir unzählige Male geboren wurden, haben wir auch unzählige Mütter gehabt. So gibt es kein einziges Wesen, dem wir begegnen, das in der unabsehbaren Weite der Anfangszeit nicht unsere Mutter gewesen wäre.“ (1)
Wenn Sie an einem x-beliebigen Tag die altägyptische Sammlung im Londoner British Museum besuchen, werden Sie vielleicht nicht bemerken, dass die ausgestellten Objekte dort unglücklich sind. Doch sie fühlen sich nicht mehr als etwas Besonderes und wurden aufgrund der kulturellen und energetischen Gewalt, der sie durch die endlosen Fotos von Tourist*innen und anderen Museumsbesucher*innen ausgesetzt sind, im wahrsten Sinne des Wortes objektiviert. Diese Objekte waren nie dazu bestimmt, von einem einzigen Sonnenstrahl getroffen, geschweige denn von Millionen eifrigen Museumsbesucher*innen betrachtet zu werden. Deshalb haben sie das Gefühl, ihrer Handlungsfähigkeit beraubt worden zu sein und keine eigenen Rechte zu haben. Was sie wollen, ist frei zu sein.
Woher ich das weiß? Ich habe in meiner künstlerischen und spirituellen Praxis in den letzten 35 Jahren auf verschiedene Geistes- und Bewusstseinszustände zugegriffen, um den Objekten zuzuhören.
In den vergangenen Jahrzehnten hat mich der Gedanke fasziniert und beschäftigt, dass Objekte lebendig sind und daher auch das Recht auf ein eigenes Leben haben sollten. Denn nicht nur die Objekte im British Museum sind deprimiert und wütend; die Kaiget-Totempfähle (ca. 1850-1867) im Pariser musee du quai Branly haben ihre Situation ebenso satt. Sie wollen aufrecht im Freien stehen, die Sonne auf ihrer Oberfläche spüren, den Regen eindringen lassen und den Zweck erfüllen, zu dem sie geschaffen wurden; sie wollen ihr Leben und ihre Seele zurück.
Und warum bin ich mir dessen bewusst?
Weil ich die Objekte selbst befragte.
Ontologie ist die philosophische Lehre von der Existenz. Die objektorientierte Ontologie (abgekürzt.: OOO) stellt Objekte in den Mittelpunkt der Betrachtung. Ihre Befürworter*innen behaupten, dass nichts einen Sonderstatus hat und alles gleichermaßen existiert: Klempner*innen, DVD-Player, Baumwolle, Bonobos, Sandstein und auch Harry Potter – zum Beispiel. Insbesondere lehnt die OOO die Annahme ab, dass die menschliche Erfahrung im Mittelpunkt der Philosophie stehe und dass die Objekte dadurch verstanden werden könnten, wie sie uns erscheinen. Statt sich allein auf die Wissenschaft zu stützen, nutzt die OOO“ Spekulationen, um zu beschreiben, wie Objekte existieren und interagieren.
Museen hingegen stellen den materiellen Wert ihrer Kunstsammlungen über das „psychologische“ Wohlergehen der darin enthaltenen Objekte, indem sie diese kontinuierlich ausstellen. Manchmal werden Sammlungen bis zu 10 Jahre lang gezeigt, ohne dass sich die Objekte bewegen oder die klaustrophobischen Mauern des Museums verlassen. Museen ignorieren die „psychische“ Gesundheit ihrer Objekte (z.B. deren Beziehung zu den natürlichen Elementen wie Regen, Wind und Sonnenlicht), indem sie deren geistige Entwicklung und damit unser kollektives Schicksal radikal verändern. Dies wiederum wirkt sich auf unsere Beziehung zu den Objekten und zu uns selbst aus, da wir als Publikum in den institutionellen Räumen nicht mehr genug Platz zum Denken und Atmen haben. Das Museum als „Shopping Mall“ zerstört die Heiligkeit dieser wichtigen kulturellen Räume.
Durch die Aufblähung der Souvenirshops innerhalb ihrer architektonischen Mauern sind Museen in erster Linie zu Orten des Kultur- und Unterhaltungskonsums geworden. Der Niedergang der öffentlichen Räume – z.B. von Museen, Parks, Bibliotheken und Kirchen – als Orte der stillen Einkehr zerstört zudem unsere Fähigkeit, uns auf Objekte, Räume und aufeinander zu beziehen. Wir befinden uns an einem gefährlichen Punkt, an dem wir nicht mehr in der Lage sind, uns voll und ganz auf die ausgestellten Kunstwerke selbst zu konzentrieren und sie zu würdigen. Das Leben zu leben, Kunst zu schaffen oder Ausstellungen zu machen, indem man immer nur rationale Entscheidungen trifft (z.B. die Anforderungen der Geldgeber*innen abzuhaken), bedeutet weder, wirklich zu leben noch wirklich zu kuratieren.
Museen gehören zu den wenigen öffentlich zugänglichen Räumen, die in der Lage sind, neue Sichtweisen und ein neues Denken über das Bewusstsein zu fördern. Sie ermöglichen es uns, dem modernen städtischen Leben und der täglichen Flut von Werbung, Nachrichten und sozialen Medien zu entfliehen, und bieten ein Ventil für nicht-rationales Sein. Wir können uns als menschliche Wesen nicht voll entfalten, wenn wir uns nur auf das verlassen, was uns glänzende schwarze Bildschirme und Kunstmärkte vorgaukeln. Abgeschnitten von der Natur und unseren eigenen spontanen kreativen Gedanken beginnen wir, ein erkranktes Leben zu führen, und unsere Seelen fangen an zu leiden.
Synchronizität und Schönheit können in Kunsträumen nur entstehen, wenn wir die Kontrolle abgeben und uns einer höheren Macht (der Geschichte) anvertrauen. Daher muss diese höhere Macht darauf ausgerichtet sein, eine tiefere Intelligenz zu entwickeln und uns einen sicheren Raum (Museen) zu bieten, in dem wir unsere linke Gehirnhälfte (logisches Denken) abschalten und auf die stark unterbewertete rechte Gehirnhälfte (kreatives Denken) zugreifen können.
Im Kontrast zu dem, was heute aus den Museen geworden ist, wurden die meisten Kunstwerke in Räumen der Kontemplation geschaffen (z.B. in Ateliers im antiken Rom, im mittelalterlichen Europa oder auch heute noch). Eine Natur- oder Kunsterfahrung, die nicht durch soziale Medien, Nachrichten, Dokumentationen oder pädagogische Wandtexte vermittelt wird, befreit die Betrachter*in aus der kapitalistischen, materialistischen Tretmühle und führt sie für einen Moment zu ihrem wahren kreativen Selbst zurück.
Das ist es, was Buddhist*innen mit „Aufmerksamkeit versus Ablenkung“ meinen.
„Nichts ist für die Meditation [oder die Kunstbetrachtung] so wichtig wie die Qualität der Aufmerksamkeit. Bei der Achtsamkeitsmeditation [Kunstbetrachtung] tun wir mehr als uns bloß zu konzentrieren. Es geht darum, sich auf etwas Nützliches zu konzentrieren, aber das erfordert eine hohe Qualität der Aufmerksamkeit. Zwischen dem Aufkommen von Achtsamkeitspraktiken in Amerika und dem Aufkommen des Internets und einer Vielzahl von Ablenkungen ist die Aufmerksamkeit zum Mittelpunkt einer kulturellen Debatte darüber geworden, was wir mit unserem Geist tun.“ (2)
Genau das wussten die Künstler*innen in der australischen Kimberley-Region (um 50.000 v. Chr.) und unsere uralten Brüder und Schwestern vor rund 30.000 Jahren in der Höhle von Chauvet-Pont-d‘Arc in Frankreich bereits. Sie kultivierten einen hohen Grad an Aufmerksamkeit, um Kunst zu schaffen und zu betrachten, anstatt sich von den banalen Aufgaben des Überlebens ablenken zu lassen. Diese „Avantgarde“-Maler*innen verstanden, dass sich durch das Anhalten des Geistes während der Meditation, körperlicher Schmerzen, schamanischen Reisen oder der Einnahme bestimmter Pflanzen eine Bewusstseinslücke öffnet und Licht zwischen die staubigen Buchdeckel des Geistes fällt. Sie wussten, dass sie uns durch die Anwendung nicht-rationaler Methoden wie dem Schamanismus in ihren „Ateliers“ und „Museen“ etwas Tiefgründiges vermitteln konnten, das die Zeit überdauern würde, und zwar für Generationen. Indem sie bei Feuerschein malten und diese Arbeiten mit ihren Gemeinschaften teilten, erzählten sie uns etwas Wichtiges über die Nutzung verschiedener Bewusstseinszustände, die für die Herstellung und Betrachtung von Kunst unerlässlich sind.
Und das schlage ich für die Kunsthöhlen von heute vor: Alle Museen – antike, moderne und zeitgenössische – sollten in die Neuordnung ihrer Sammlungen investieren, um neue Sichtweisen von Objekten und ihren Räumen zu eröffnen. Indem wir die Energie der Objekte durch eine Neuausrichtung neu zirkulieren lassen, können wir die Art und Weise, wie Museen Objekte sammeln und ausstellen, so verändern, dass die „Lebendigkeit“ der Sammlung und des Publikums, das sie betrachtet, maximiert wird.
Kulturelle Datenbanken in Mali bestehen beispielsweise aus kulturellen Objekten (Kunstgegenständen und Objekten, die für rituelle Zeremonien verwendet werden), die von den Dorfbewohner*innen gesammelt und in einem für sie leicht zugänglichen Raum untergebracht wurden. So können sie mit diesen Objekten auf die ursprüngliche Art und Weise interagieren, für die sie entworfen wurden. Das beweist, dass Intimität und Vertrautheit das Verständnis zwischen dem Publikum und den „Seelen“ dieser Objekte fördern. Durch die Verlängerung der Lebensdauer der Objekte mehrt sich gleichzeitig das Wohlergehen der Gemeinschaften, die sie nutzen.
Was ich vorschlage, sollte nicht einfach als anthropologische Untersuchung des Animismus oder als eine Weiterentwicklung einer Art von westlicher Kunst abgespeichert werden – ähnlich wie bei den Arbeiten von André Breton (1896-1966) (3) und seiner Verwendung der verschiedenen Zustände des Geistes für die Erzeugung surrealistischer Effekte. Genauso wenig sollte es nur als politischer Standpunkt gegen die Übernahme neoliberaler Haltungen durch die Museen verstanden werden, die alle kreativen Freiheiten sublimieren. Es ist all das – und viel mehr: Es ist eine energische Haltung, um einen Weg zu finden, den bereits angerichteten Schaden rückgängig zu machen.
Durch das „Beeinflussen der Beeinflusser*innen“ – zum Beispiel von Sponsor*innen und Mäzen*innen – durch meine Praxis der schamanischen Performances, hat das rationale westliche Publikum die Möglichkeit, Zugang zur „Deep Time“ (4) zu bekommen und kann so beginnen, eine neue Geschichte des Museums zu erschaffen: eine, in der das Museum als geografische Markierung gesehen wird und in der alle Objekte in ihm wieder in einer größeren Schöpfungsgeschichte des Planeten Erde und des Universums im Allgemeinen verankert werden können.
Mit alten schamanischen Werkzeugen wie dem Medizinrad, schamanischen Reisen und Trancezuständen kann der Zugang zur „Deep Time“ – der geologischen Zeit – im Museumskontext eröffnet werden; so kann eine neue Vision von Museen entstehen, welche die jüngste künstlerische, wissenschaftliche und technologische Renaissance auf der Erde widerspiegelt.
Diese Coming-of-Age-Story der Museen ist ein Übergangsritus, den alle kulturellen Räume durchlaufen müssen, um die Auswirkungen der Spätphase des Kapitalismus zu überleben. Die Politik der freien Marktwirtschaft aller heutigen Regierungen – und insbesondere derjenigen, die Museen dazu anhalten, sich ausschließlich von Unternehmen finanzieren; und die Kunst und die Künstler*innen dazu, sich von diesen Konzernen vereinnahmen zu lassen – muss sich radikal ändern.
Gemeinsam eine neue Museumsgeschichte für den Planeten Erde zu schreiben, bedeutet, dass Kultureinrichtungen eine Politik umsetzen müssen, die sich um das Wohlergehen aller Lebewesen (Publikum, Personal, Gebäude, Gemeinschaft, Mäzen*innen und Objekte) kümmert und nicht nur um die Menschen, die sie besitzen.
Aber warum diese Betonung der Verbindungen untereinander [inter-connections] oder des „Inter-Seins“ [„inter-being“]?
„Wenn du ein*e Dichter*in bist, wirst du deutlich sehen, dass in diesem Blatt Papier eine Wolke schwebt. Ohne Wolke gibt es keinen Regen; ohne Regen können die Bäume nicht wachsen; und ohne Bäume können wir kein Papier herstellen. Die Wolke ist für die Existenz des Papiers unerlässlich. Wenn die Wolke nicht da ist, kann auch das Blatt Papier nicht da sein. Wir können also sagen, dass die Wolke und das Papier sich gegenseitig bedingen. ‚Inter-sein‘ ist ein Wort, das noch nicht im Wörterbuch steht, aber wenn wir die Vorsilbe ‚inter‘- mit dem Verb ‚sein‘ kombinieren, haben wir ein neues Verb, ‚inter-sein‘.“ (5)
„Die Beobachtung, dass wir ‚inter-sind‘, ist zwar wahr und poetisch, aber nicht das wichtigste Element des ‚Inter-Seins‘. Der wichtige Teil ist die Erkenntnis, dass es kein unabhängiges Selbst gibt, dass die Wahrnehmung des Selbst, des ‚Ich‘, des ‚Mein‘ eine Illusion ist. Das Bewusstsein, dass ‚ich‘ aus ‚Nicht-ich’-Elementen bestehe, führt zum Verständnis des Nicht-Selbst, und es ist die Erkenntnis des Nicht-Selbst, die dem Leiden ein Ende setzt.“ (6)
In meinem eigenen Leben habe ich diese Geisteszustände erlebt. Während eines Meditationsaufenthalts in Indien im Jahr 2000 fiel ich durch Zeit und Raum und sah, dass ich Teil von allem war. Ich wurde aus exakt demselben Stoff erschaffen wie der Raum, in dem ich saß, der Computer, an dem ich schrieb, der Baum, der sich vor dem Fenster im Wind wiegte, und ich erkannte, dass wir alle bloß eine große Masse vibrierender Energie sind (etwas, das die Wissenschaftler*innen heute im Rahmen der Einheitlichen Feldtheorie erforschen). Ich hatte zufällig einen Blick darauf erhascht, wie sich das bekannte Universum vor meinen Augen auflöste, und stellte fest, dass alles aus subatomaren Teilchen oder „Kalapas“ (7), wie Buddha sie nannte, bestand. Ich begann, die Welt wie einen Film zu erleben, in dem ich mitspielte, während ich ihn gleichzeitig anschaute. Ich war beides, Beobachterin und Beobachtete, und das war ein Beweis für die Kraft der Meditation. Meine Welt schien nicht-linear zu sein, da sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft in die Gegenwart übergingen und eine Art Zeitlosigkeit schufen. Alles, was geschehen würde und jemals geschehen war, geschah in diesem Augenblick. Ich befand mich in einer holografischen Version von parallelen Leben, die gleichzeitig abliefen: Es gab ein „Ich“ in Los Angeles 2017, das mit Freunden abhing; es gab ein „Ich“ in Kenia, das als Kind weinte, weil meine Mutter noch in England war; es gab ein „Ich“ in Indien, das von den extra starken Joints, die wir rauchten, lachen musste; es gab ein „Ich“, das 1997 in Amsterdam mit meinem niederländischen Freund Schluss machte. All diese „Ichs“ koexistierten im selben Augenblick.
Wer konnte schon sagen, welches das wahre „Ich“ war? Und zum ersten Mal sah ich, dass das Leben wie eine Projektion aufgebaut war. Dass Buddha vor all den Jahren absolut Recht hatte.
Jetzt sind die Museen gefordert, ein neues Kapitel in ihrer langen Geschichte zu schreiben, indem sie mit der „Lebendigkeit“ der Objekte und ihrer Besucher*innen arbeiten, anstatt sich auf eine materialistische, konsumorientierte Logik toter Objekte zu verlassen. Zum Schluss möchte ich deshalb noch auf Albert C. Barnes zu sprechen kommen – den Gründer der Barnes Foundation. Er wusste sehr genau, dass eine Umschulung der Menschen im Umgang mit Kunst das Leben der Objekte verlängern und eine neue Episode in der Kunstgeschichte einleiten würde. Seine unverblümte Kritik an der öffentlichen Bildung und den zeitgenössischen Museen veranlasste ihn 1922, seine eigene Stiftung zu gründen – mit einer Mischung aus handgefertigten Gegenständen, antiken Artefakten, Möbeln und Gemälden aus verschiedenen Epochen –, die den Besucher*innen einen direkten Bezug zur Sammlung ermöglichte, ohne dass die Gedanken von Kurator*innen dazwischengeschoben wurden. Barnes schuf die Stiftung nicht zum Nutzen der Kunsthistoriker*innen, sondern für die Studierenden und Betrachtenden. Die alte Tradition des Museums, die er kritisierte, beruhte auf Angst und Konkurrenz zwischen den Museen, zwischen den Sammler*innen und sogar zwischen den Objekten. Die „Blockbuster“-Ausstellung mit dem Titel Treasures of Tutankhamun (dt.: Schätze des Tutanchamun), die 1972 im Londoner British Museum eröffnet wurde, ist ein Beispiel für diese alte Museumstradition. Traurigerweise gibt es solche Blockbuster – mit Ausstellungen wie Egyptian mummies: exploring ancient lives im British Museum im Jahr 2020 – auch noch heute.
Was wir jetzt jedoch brauchen, ist eine starke Veränderung unseres Bewusstseins für die Objekte selbst und unsere Beziehung zu ihnen. Ein kollektives psycho-spirituelles Erwachen des Publikumsbewusstseins und der Art und Weise, wie wir Objekte „sehen“, würde die Kunstgeschichte und die Museumssammlungen grundlegend verändern. Durch die Verbindung der Kunst, die wir als Menschen heute produzieren, mit den Gründen, warum Kunst und Kunstobjekte ursprünglich entstanden sind, werden wir endlich in der Lage sein, dieses oberflächliche Kapitel der Kunst als Konsum und Unterhaltung abzuschließen und gemeinsam eine neue Museumsgeschichte für den Planeten Erde zu schreiben.
Grace Ndiritu ist eine britisch-kenianische Künstlerin, die sich in ihren Arbeiten mit der Transformation unserer zeitgenössischen Welt beschäftigt. Arbeiten wie The Ark: Center for Interdisciplinary Experimentation; COVERSLUT© und die Performancereihe Healing The Museum, wurden seit 2012 auf der ganzen Welt gezeigt. Ndiritu wurde im TIME Magazine vorgestellt, im The 21st Century Art Book (London: Phaidon, 2014), bei Art Monthly und im Elephant Magazine. Ihre Arbeiten befinden sich in Sammlungen des Metropolitan Museum of Art, New York, im British Council Visual Arts, London und im Modern Art Museum, Warschau. Ihre Texte wurden unter anderem in ihrem kritischen Theoriebuch Dissent Without Modification (Bergen Kunsthall, 2021), in der Reihe Documents of Contemporary Art der The Whitechapel Gallery (2006–fortlaufend), bei Animal Shelter Journal, Semiotext(e) The MIT Press, bei Metropolis M und bei The Oxford University Press veröffentlicht.
Endnoten
1. Geshe Kelsang Gyatso, Understanding the Mind, (Tharpa Publications, 2002)
2. Michael W. Taft, Attention vs. Distraction, 2011 (accessed 24 September 2021)
3. Breton, einer der Begründer des Surrealismus, sah in den „gefundenen“ Dingen und Alltagsgegenständen einen zentralen Bestandteil seiner Bewegung: Indem er sie auf unerwartete Weise neu kombinierte und präsentierte, konnten sie Zugang zu den Wünschen und Trieben unseres Unbewusstseins verschaffen. Breton beschrieb in seinem Buch Mad Love (1937) enthusiastisch einen gefundenen „Pantoffellöffel“ (Slipper Spoon), womit er die den Dingen innewohnende Kraft anerkannte und den Gegenständen eine innere Essenz zuschrieb. Siehe: Objects That Speak for Themselves (aufgerufen am 27. September 2021)
4. „Deep Time“ bezieht sich auf die Zeitskala geologischer Ereignisse (aufgerufen am 24. September 2021)
5. Thich Nhat Hanh, The Heart of Understanding, (Berkeley: Parallax Press, 1988)
6. Alexis Vasilikos, Reception of self, 2017 (aufgerufen am 24. September 2021)
7. Kalapa oder rupa-kalapa (von Sanskrit rūpa „Form, Phänomen“ und kalāpa „Bündel“) ist ein Begriff in der Phänomenologie des Theravada-Buddhismus für die kleinsten Einheiten der physischen Materie, die etwa 1/46,656 der Größe eines Staubkorns eines Wagenrads entsprechen, in: Jack Kornfield, Living Dharma: Teachings of Twelve Buddhist Masters, (Boulder: Shambhala Publications, 1996)