Text | Essay | Gropius Bau 2022

Kein einzelnes Wesen sein: Otobong Nkanga und Theaster Gates

Von Robert Maharajh

Robert Maharajh untersucht, wie die kollektiven Praktiken von Otobong Nkanga und Theaster Gates die Idee des Kunstwerks, des Archivs und der Institution neu formen.

Verfügbar seit 20. Mai 2022

Lesezeit ca. 16 Min

Deutsch und Englisch

Wortmarke Gropius Bau

Die Politik schlägt vor, uns zu Besseren zu machen, aber es ging uns schon gut in der gegenseitigen Verschuldung, die sich niemals gut machen lässt. Wir schulden es einander gegenseitig, die Institution zu widerlegen, die Politik unverbesserlich zu machen, unsere eigene Festlegung Lügen zu strafen. Wir schulden einander das Unbestimmte. Wir schulden einander alles.(1)
– Stefano Harney und Fred Moten

In Bezug auf seine Entscheidung, die Archive der Johnson Publishing Company zu erwerben, macht Theaster Gates deutlich, dass er sich nicht als Archivar im herkömmlichen Sinne versteht: „Meine Sammlungen sind immer noch aktives Rohmaterial, ich bastele immer noch daran herum ... Die Zusammenstellung ist nie abgeschlossen, sie ist nicht immer abrufbar – es ist ein Haufen Zeug.“(2) Was ihn interessiert, ist „die Macht, alltägliche Dinge so zu organisieren, dass die Leute verstehen, dass die Besonderheit nicht immer in der Sache selbst liegt – sondern darin, dass eine Gesellschaft, eine Nation, ein Volk oder eine Person sich die Mühe macht, sie zu organisieren.“(3)

Was wird in einem Archiv oder einer Institution aufbewahrt – und warum? Was hat Wert und ist zukunftsfähig, und was wird am Ende entwertet, verdrängt, im Keller versteckt? Diese Fragen sind zutiefst mit Macht, Autorität und Befehlshierarchien verbunden, wie Derrida zeigte, als er die Etymologie des Wortes auf das griechische Wort archeion zurückführte. In seiner Umschreibung bedeutet archeion: „ein Haus, ein Wohnsitz, eine Adresse, die Wohnung der höheren Magistratsangehörigen, der árchontes.“(4)

Für Otobong Nkanga gibt es keine einheitliche Vorstellung von einem Ort, an dem für etwas gesorgt wird: „Wenn man etwas in einen Ausstellungsraum stellt, erzwingt man damit, dass sich um diese Arbeit gekümmert wird.“(5) Ihre Vision von Fürsorge ist ein relationales und fluktuierendes Feld. Dieses Verständnis prägt ihre künstlerische Praxis, die in einem expansiven Sinn sowohl Kunstinstitutionen als auch Netzwerke unabhängiger Organisationen als Verbreitungsorte nutzt. Ein Beispiel dafür ist ihr Projekt Carved to Flow (2017–heute), das sich in mehrere soziale Räume und Forschungsbereiche erstreckt. Es ist zu einem Modus der fortwährenden spekulativen Praxis geworden, die sich – unter der Rubrik der Fürsorge für die beteiligten Einrichtungen und Gebilde und des gemeinsamen Gestaltens – durch die Zeit, Krisen und improvisierten Zukünfte hindurch entfaltet.

Installationsansicht, The Black Image Corporation. Theaster Gates, 25.4.–28.7.2019 © Gropius Bau, Foto: Luis Kürschner

Die Strukturen, die Gates und Nkanga schaffen, entspringen ihrer Beschäftigung mit bestimmten Formen des Wissens und der sozialen Existenz, die unter Druck gesetzt, abgewertet und marginalisiert wurde oder wird. Ihre Praktiken erwachsen aus und sind tief verbunden mit Lebensformen, die ein Element dessen aufweisen, was die amerikanische Schriftstellerin und Akademikerin Saidiya Hartman als Eigenwilligkeit bezeichnen würde: Sie bilden so etwas wie eine Kurve, die neben der Linie von Autorität und Zentralität verläuft. Carved to Flow entstand 2017 in Athen während einer Zeit, als der griechische Staat wirtschaftlich zusammenbrach und sich die Migrationskrisen im Nahen Osten, in Nordafrika und Europa zuspitzten. Das Projekt verkörpert das Durchdenken von und Arbeiten mit dem, „was in einer Gesellschaft geschieht, die Menschen, Körper, Pflanzen und Tiere – einfach alles – zur Veränderung zwingt.“(6) In ähnlicher Weise ist ein Großteil von Gates’ Praxis in das Leben der South Side von Chicago eingebettet, einer Gegend mit weitgehend Schwarzen Bewohner*innen, die jahrzehntelang unter Wirtschaftsflucht und Vernachlässigung durch die Bürger*innen sowie unter den Konsequenzen systematischer Benachteiligung litt.

Konzepte von Eigenwilligkeit und Flüchtigkeit spielen ebenfalls im Werk von Fred Moten eine sehr große Rolle. In Anlehnung an Derridas Untersuchung zeichnet Moten eine Erblinie kultureller Autorität nach, die auf die Aufklärung zurückgeht (am deutlichsten ist sie in Kants Kritik der reinen Vernunft und anderen Publikationen der 1790er Jahre definiert) und die die Grundidee des modernen Subjekts bildet. Moten zufolge sind Kants Propositionen ein katastrophales Ereignis in der Weltgeschichte. Und zwar aufgrund dessen, was er darin ausschließt: „Es ist das Abweichende, was Kant stört; es stellt in seinem System eine Störung von außen dar.“(7) Was außerhalb der Kant’schen Prinzipien liegt – unregulierte Differenzierungs- oder Entstehungsprozesse –, befindet sich gleichzeitig außerhalb des Bereichs der Institutionen, wird abgewertet oder als Störung bzw. Bedrohung kodiert. Entscheidend für Moten ist, dass einer der wichtigsten Störfaktoren der der Rasse ist. Kants Anwendung des Rassebegriffs ist laut Moten sogar „das beispielhafte regulative und/oder teleologische Prinzip.“(8)

Das weite Feld, das außerhalb des regulierten institutionellen Denkens liegt – und insbesondere die Identifikation mit Blackness und Schwarzen oder „eigenwilligen“ Lebensformen – ist das, was Moten und sein Mitstreiter Stefano Harney erforschen und worin sie sich über das Konzept des „Studiums“ engagieren. Es ist ein Terrain außerhalb der politischen, akademischen oder institutionellen Sphäre, das aus dem gemeinschaftlichen Prozess, der sozialen Aktivität hervorgeht – oder vielleicht auch nur aus dem „Konsens, kein einzelnes Wesen zu sein“(9), um Édouard Glissant zu zitieren.

Dieser Konsens ist jedoch nicht als Akt der Subjektivität zu verstehen, sondern als soziales Feld. „Wir sind der Idee verpflichtet, dass Studieren etwas ist, das man gemeinsam mit anderen Menschen macht“(10), schreiben Moten und Harney in The Undercommons. „Es ist das Reden und Umhergehen mit anderen Menschen, das Arbeiten, Tanzen, Leiden, eine nicht reduzierbare Konvergenz dieser drei Dinge, die unter dem Begriff der spekulativen Praxis zusammengefasst werden können […]. Der Sinn, es Studium zu nennen, besteht darin, deutlich zu machen, dass die unaufhörliche und irreversible Intellektualität dieser Aktivitäten bereits vorhanden ist […]. Diese Dinge zu tun, bedeutet, sich an einer Art gemeinsamer intellektueller Praxis zu beteiligen. Es ist wichtig, dies anzuerkennen – denn diese Anerkennung ermöglicht den Zugang zu einer vielfältigen, alternativen Geistesgeschichte.“(11)

Mac Folkes bei der Pressekonferenz der Ausstellung The Black Image Corporation. Theaster Gates, 25.4.–28.7.2019 © Gropius Bau, Foto: Mathias Völzke

Durch Prozesse der Fürsorge und des Studiums sind sowohl Gates als auch Nkanga in soziale Felder und Lebensformen eingebunden und setzen sich mit Geistesgeschichten auseinander, die der stark rassifizierten Linie kant’scher Regulierung und institutioneller Parameter nebengelagert sind. Während sie mit Institutionen interagieren, errichten beide Künstler*innen auch Gegenräume als Mittel zur Bewahrung und Verbreitung von Kultur und bringen damit eine greifbare Art der Fürsorge für die Gemeinschaften, deren Teil sie sind, zum Ausdruck. Gleichzeitig überdenken sie die relationale Natur des Kunstwerks auf diese Weise vollkommen neu.

Gates’ Interesse am Archiv der Johnson Publishing Company, die 1942 von dem afroamerikanischen Geschäftsmann John H. Johnson gegründet wurde, rührte zum Teil daher, dass Leute erwähnten, sie hätten noch alte Ausgaben der Zeitschriften Ebony oder Jet. „In dem Moment, in dem du entscheidest, dass sie etwas anderes verdienen als den Keller, fängst du an, Kultur zu bewahren“(12), sagt er. Das Archiv bildet inzwischen einen Kernbestandteil der Stony Island Arts Bank – früher eine verfallende, leerstehende Bank in South Side Chicago, einem Viertel, das hauptsächlich von Schwarzen und jüdischen Communitys bewohnt wird. Den Kauf und die Restaurierung des Gebäudes finanzierte Gates durch die Ausgabe von Bankanleihen als Kunstwerke auf der Art Basel 2013. So schuf er effektiv eine Gegeninstitution in einem Gebiet, das zuvor unter wirtschaftlicher Unterinvestition und Vernachlässigung litt. Moten schreibt über Gates in Nowhere, Everywhere: „Seine ortsgestaltende, dingliche Anordnung von Objekten in ungewöhnlichen Gärten, die in der fortwährenden, allgemeinen (Fehl-)Bewertung des Nichts als nichtig angesehen wurden, trägt dazu bei, nicht anerkannten Reichtum sichtbar zu machen und zu vermehren.“(13)

Nkanga erforscht „nicht anerkannten Reichtum“ in einer künstlerischen Praxis, die sich über Kontinente erstreckt, dabei gleichzeitig auf intensive Weise ortsgebunden bleibt und vielfältige soziale Räume und menschliche Existenzen umfasst. Die Seife, die als Teil von Carved to Flow produziert wird, stellt somit auch ein Archiv oder einen Index regionalen Wissens und psychischer Zustände dar. Die Einbeziehung von Holzkohle als Material beschwört den Begriff der Flüchtigkeit herauf: Sie entsteht durch die Erhitzung organischen Materials in Abwesenheit von Sauerstoff und symbolisiert die Degradierungen – physischer oder psychischer Natur –, die Menschen, Pflanzen oder ganze Länder nach Luft schnappen lassen, in die Flucht treiben oder erstarren lassen. Zugleich ist der Prozess der Seifenherstellung jedoch auch generativ: Es werden Kenntnisse des Ölanbaus, der Ölgewinnung, -herstellung und -lagerung genutzt (in Fortführung der alten Traditionen aus Aleppo). Das performative Umfeld der Seifenherstellung schafft einen Raum der Gemeinschaft und des Studiums, in dem Hersteller*innen, Verkäufer*innen und Zuschauer*innen zusammenkommen – der Kauf von Seife muss mit einem Gespräch beginnen. Die Arbeit erstreckt sich auch auf die wirtschaftliche Sphäre und hilft, Produzent*innen, Verkäufer*innen und andere am Prozess Beteiligte zu unterstützen.

Seife hat besondere Eigenschaften. Wenn sie Archiv und Ware ist, dann ist sie auch Material – und zwar eines von eigentümlicher Intimität. Sie berührt die Haut, hinterlässt Spurenmoleküle; der Geist griechischer Olivenbäume und verkohlter Wälder – und der jener vielen Hände, die sie pflegten – verweilt in den Poren. „Ein Gefühl für das Fühlen anderer, die dich fühlen (...)"(14) schreiben Moten und Harney in The Undercommons und verweisen auf die haptische Gemeinschaftlichkeit, die sie als Privileg der afrikanischen Diaspora sehen, als Erbe des Grauens des atlantischen Sklavenhandels: „Das ist das aufständische Gefühl der Moderne, ihre geerbte Liebkosung, das Sprechen ihrer Haut, die Berührung ihrer Zunge, die Rede ihres Atems, das Lachen ihrer Hand.“ (In Nkangas Wandteppichen, Zeichnungen und Workshops finden sich zahlreiche Bilder von Händen, die in der Pflege oder im gemeinschaftlichen Streben verbunden sind).

In den frühen Phasen von Carved to Flow ging es darum, Materialien zu verstehen, indem disparate Elemente kombiniert und in Beziehung gesetzt wurden. Die dritte Phase der im Gropius Bau präsentierten Arbeit – Germination (dt.: Keimung) – geht jedoch über Anbau, Herstellung und Wertschöpfung hinaus. Als Mittel zur Wiederherstellung, zur Rückzahlung der Wissensschuld, die in die Produktion der Seife eingeflossen ist, wird das vergängliche Objekt zu einem Vehikel für die Evolution in den Bereich der Bewahrung, der Weitergabe und des Austauschs von Wissen. Der Erlös aus dem Verkauf der Seife fließt in den Betrieb mehrerer Räume. Akwa Ibom Athen, kuratiert von Maya Tounta, wurde 2019 mit interaktiven Gesprächen über zirkuläre Ökonomien und Seifenherstellungs-Workshops mit Migrantinnen eröffnet. Akwa Ibom Ostnigeria, das sich auf dem Land der Familie Nkangas befindet, beginnt mit dem Ziel, lokales Wissen über Materialien zu bewahren – zum Beispiel in Bezug auf die traditionelle Verarbeitung von Bast sowie Palm- und Erdöl. Diese Traditionen sind durch die kommerzielle Ausbeutung großer Konzerne zunehmend gefährdet. Gleichzeitig bietet Akwa Ibom eine Unterstützungsstruktur für alle Beteiligten: In der Anfangsphase wird mit dem Verkauf von Produkten eine Mikroökonomie für die ortsansässigen Arbeiter*innen geschaffen.

Carved to Flow ist ein sich ständig entwickelnder Prozess, der nicht auf individueller Subjektivität (oder „auktorialer/künstlerischer Souveränität“) basiert; das Projekt bildet einen unberechenbaren Verlauf in Raum und Zeit ab. Sein grundlegendes Feld ist nicht das der künstlerischen Form oder Intentionalität, sondern vielmehr das der gegenseitigen Beziehung und Fürsorge. Mit den Worten Nkangas: „Es geht nicht mehr darum, ein Kunstwerk zu schaffen – wenn man ein Teil davon ist, wird man zutiefst verantwortlich für alle anderen, die daran teilnehmen.“(15) Im Raum des Werkes ist die Ökonomie des Überlebens untrennbar mit psychischen Topographien verbunden, als Teil einer Meditation über die Beziehungen innerhalb von Nationalstaaten, Terrains und ökologischen Traumata: „Was bedeutet es, das Fehlen einer Unterstützungsstruktur für ein anderes Wesen zu überdenken?“(16) Diese entscheidende Frage wird jedoch auch auf mikrokosmischer Ebene betrachtet: Um die Unterstützung der Betroffenen zu ermöglichen, wird die Form des Werkes unter dem Begriff der „Metamorphose [zusammengefasst], als vielfältige Wege des Seins – sie folgt einer anderen Linie.“(17)

Otobong Nkanga, Carved to Flow, 2017, Öffentliche Programmsitzungen, The Workstation, 2017 (in Zusammenarbeit mit Evi Lachana und Maya Tounta), documenta 14, Athen © Otobong Nkanga, Foto: Wim van Dongen

Die Improvisation ist zentraler Bestandteil der Praxis beider Künstler*innen. Gates’ Entwicklung vom Töpfer zum Stadterneuerer vollzog sich in mehreren, aufeinander aufbauenden Schritten, wobei die Natur und Poetik der einen Disziplin die andere beeinflusste. Er setzt dies mit seiner Biografie und den historischen Umständen in Beziehung: Sein Vater wurde kurz vor der Rente von einem Kühlschrankhersteller gefeuert, weil er sich weigerte, einen jüngeren Weißen auszubilden, der dann erfahrenere Schwarze Mitarbeiter leiten sollte. Er gründete eine Reihe von Unternehmen, um für den Unterhalt seiner Familie zu sorgen: eine Autowaschanlage, einen Dachdeckerbetrieb, eine Immobiliensanierung und einen Süßigkeitenladen. „Mein Vater und meine Mutter ... gehörten zu einer Generation, die sich fragte: Wie setzt man seine Fähigkeiten in etwas um, das einem hilft, zu überleben? Es hieß nie: ‚Mache eine Sache und mache sie gut.‘ Den Luxus dieser Philosophie konnten wir uns nicht leisten.“(18)

Nkangas Arbeitsmethoden lassen sich ebenfalls mit ihrer Biografie in Verbindung bringen. Während ihrer Jugend in Nigeria half sie ihrer Mutter, einer Regierungsangestellten, Stoffe zu färben, die an Designer*innen verkauft wurden – als Einkommen in einer Zeit, als keine staatlichen Löhne gezahlt wurden. Die Bedeutung kommunaler Unterstützungsstrukturen ist bereits seit ihrer Kindheit in Afrika tief verwurzelt: „Wenn man sich nicht auf den Staat verlassen kann, wird es für die Menschen unerlässlich, ihre eigenen Formen der kommunalen Widerstandsfähigkeit zu schaffen. Dieser Ansatz bildet das Fundament von Carved to Flow: Es geht nicht darum, ob etwas ein Kunstwerk ist oder nicht, es geht darum, wie man Fürsorge – eine unterstützende Struktur – installiert. Wenn sich dazu die Form des Werkes komplett verändern muss, dann ist das in Ordnung.“(19)

Improvisation ist für Moten eine lebenswichtige Fähigkeit. Er führt die Wurzeln des Wortes auf das lateinische visare zurück – sehen; pro visare heißt also nach vorne schauen oder vorwärtsblicken. „Improvisieren bedeutet demnach fortzufahren, ohne nach vorne zu schauen, ohne Voraussicht“(20), sagt er. Diese Verfahrensweise werde abgewertet, weil „die westliche philosophische Tradition ein idealisiertes Subjekt hervorbringt, dessen Rationalität sich, zumindest auf eine Weise, als Planung, als Voraussicht manifestiert. Und so wird einem Werk, das ohne diese Planung und Voraussicht entsteht, im Allgemeinen ein geringerer Bezug zu jener normativen Rationalität zugesprochen.“(21) Während er jedoch das Thema durch seine Schriften weiter ausführt, legt er eine improvisatorische Fähigkeit zur Umgestaltung offen, die die Grenzen der rationalen Subjektivität überschreitet und die Codes der Rationalität durcheinander bringt, indem sie sich in ein Gebiet des Visionären bewegt: „Was ohne Voraussicht ist, ist nichts anderes als Voraussicht“(22), schreibt er. Und diese Fähigkeit zur Improvisation eröffnet Möglichkeiten zur Dekonstruktion – vielleicht sogar zur Neuformulierung – der Aufklärung und ihrer bedrückenden sozio-politischen und kulturellen Manifestierungen.(23)

Wenn Improvisation nicht einfach Handlung oder Rede ohne Vorbereitungen ist, schreibt er, müsse man „mit einer Art Drehmoment vorausschauen, welches den Gegenstand der Betrachtung formt. Man muss dies tun, ohne die Assoziationen einzuschränken, durch eine Verdrehung der Epoche oder eine verdoppelte Wendung in der Schreibung und unvorbereiteten Gestaltung und Umgestaltung von Regeln, anstelle ihrer Befolgung.“(24)

Nkanga und Gates formulieren Regeln neu und schaffen Räume, die nicht dem normativen Ausdruck, sondern der Erforschung, dem Studium und der Improvisation in diesem visionären Sinne dienen; Orte, die nach außen blicken und miteinander verknüpfte Zukünfte formen und dabei die Brüche der Vergangenheit und Gegenwart mit einbeziehen. Mit Motens Worten könnte man dies als „Verweilen im Bruch“ bezeichnen; mit denen von Donna Haraway als „unruhig bleiben“.

Robert Maharajh, Editor at Large im Gropius Bau, ist ein Schriftsteller und Kurator, der in London und der Karibik aufgewachsen ist. Er studierte Literatur und Philosophie in Großbritannien. Er war Mitbegründer und Kurator der von Künstler*innen geführten Ost-Londoner Galerie T12, wo er mit zahlreichen Künstler*innen und Denker*innen wie Gustav Metzger, Otto Muehl, Simon Critchley und Hans Ulrich Obrist zusammenarbeitete. Er war Redaktionsleiter für „Not Evenly Distributed“, ein Onlineprojekt, das sich mit den Themen der 20. Biennale von Sydney beschäftigt. London ist der richtige Ort für ihn, außer wenn er es nicht ist. Einmal traf er Curtis Mayfield an einem regnerischen Tag in Brixton.

Endnoten
1. Stefano Harney und Fred Moten, Die Undercommons: Flüchtige Planung und schwarzes Studium, Wien 2016, S. 15.
2. Theaster Gates im Gespräch mit Andrew Perchuk, The Getty Center Conversation, Los Angeles, 8. Mai 2019: https://www.youtube.com/watch?v=Cammz0BMWKU (Zugriff am 12. Oktober 2020). Übersetzt von Christoph Jehlicka. Die Archive der Johnson Publishing Company waren im Rahmen der Ausstellung  The Black Image Corporation. Theaster Gates vom 25. April bis 28. Juli 2019 zu sehen.
3. Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
4. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997, S. 11.
5. When you put something in an exhibition space you force that work to be taken care of.
Otobong Nkanga im Gespräch mit Clara Meister, Kuratorische Referentin, Gropius Bau, 2019. Übersetzt von Christoph Jehlicka. Otobong Nkanga war  In House: Artist in Residence 2019. Ihre Einzelausstellung  There’s No Such Thing as Solid Ground ist vom 10. Juli bis 13. Dezember 2020 im Gropius Bau zu sehen.
6. Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
7. Fred Moten, Stolen Life (Consent Not to Be a Single Being), Durham and London 2018. S. 1. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
8. Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
9. Édouard Glissant im Gespräch mit Manthia Diawara, in: Manthia Diawara, Édouard Glissant: One World in Relation, K’a Yéléma Productions, 2009, 48 Min. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
10. Stefano Harney und Fred Moten, The Undercommons: Fugitive Planning & Black Study (Wivenhoe, New York, Port Watson: Minor Compositions, 2013), S. 110. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
11. Ebd.
12.Dance of Malaga: A Conversation with Theaster Gates, a.a.O. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
13. Fred Moten, Black and Blur, Durham 2017, S. 165-166. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
14. Stefano Harney und Fred Moten, Die Undercommons: Flüchtige Planung und schwarzes Studium, Wien 2016, S. 120.
15. Otobong Nkanga im Interview mit Clara Meister, Kuratorische Referentin, Gropius Bau, 2019. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
16. Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
17. Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
18. Conversations with Artists: Theaster Gates, Theaster Gates im Gespräch mit Sarah Newman, National Gallery of Art, Washington D.C., April 2017: https://www.youtube.com/watch?v=vCavX_VyL6c (Zugriff am 12. Oktober 2020).
19. Otobong Nkanga im Interview mit Clara Meister, Kuratorische Referentin, Gropius Bau, 2019. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
20. Fred Moten im Gespräch mit Wu Tsang, Gropius Bau, 2019. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
21. Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
22. Fred Moten, In the Break: The Aesthetics of the Black Radical Tradition, Minneapolis und London 2003, S. 63. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
23. Vgl. Fred Moten, Stolen Life (Consent Not to Be a Single Being), a.a.O., S. 40-45. Übersetzt von Christoph Jehlicka.
24. Fred Moten, In the Break, a.a.O., S. 63. Übersetzt von Christoph Jehlicka.

Übersetzung: Christoph Jehlicka