Text | Essay | Gropius Bau 2022
Lese-Spaziergang mit dem Daodejing in Berlin: Eine Übung
Von Zheng Bo
Der Mensch als kleiner Teil der Natur: Der Künstler Zheng Bo schreibt über das grundlegende ökologische Denken des Daodejing und das Lesen für die Bäume im Berliner Tiergarten.
Das Daodejing, das dem Weisen Laozi aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. zugeschrieben wird, ist ein grundlegender chinesischer Text über ökologisches Denken. Im Gegensatz zu Konfuzius (551–479 v. u. Z.), dessen Lehren auf einem anthropozentrischen Weltbild basierten – mit der Menschheit als zentralem Element der Existenz –, sah Laozi den Menschen nur als einen kleinen Teil der Natur, auf derselben Stufe mit den unzähligen anderen Wesen, die ebenfalls in dieses Universum geboren wurden, das seinerseits aus einem dunklen, kosmischen Loch hervorging.
Nachstehend folgen einige Auszüge aus dem Daodejing(1), die wir in der Übung gelesen haben, die ich am 7. September 2020 als Teil meines Aufenthalts als In House: Artist in Residence am Gropius Bau geleitet habe. Dies sind die Gedanken, die die Übung begleiteten:
Um das Daodejing zu lesen, gehen wir in den Tiergarten. Bäume, Vögel, Boden und Sporen helfen uns, tief durchzuatmen und unsere Sinneswahrnehmungen auszudehnen. Wir lesen laut, gemeinsam, allein und wir lesen den Bäumen vor. Zwischen den Lesungen gehen wir spazieren, damit unser Körper unseren Geist dazu anregen kann, sich zu bewegen, herumzuwirbeln und sich zu verstricken. Eine Stunde lang bewohnen wir den Text und lassen seine Reste kompostieren. Schließlich stoßen wir auf ein Stück unbearbeitetes Holz, die Einfalt ohne Namen.
In Kapitel 1 wird die Sprache – die namenlose und die benannte – als Tor zur „Offenbarwerdung aller Kräfte“ beschrieben. Der Mensch will Referenzen fixieren, die den Weg zur Bedeutung ebnen:
Der SINN, den man ersinnen kann,
ist nicht der ewige SINN.
Der Name, den man nennen kann,
ist nicht der ewige Name.
Jenseits des Nennbaren liegt der Anfang der Welt.
Diesseits des Nennbaren liegt die Geburt der Geschöpfe.
Darum führt das Streben nach dem Ewig-Jenseitigen
zum Schauen der Kräfte,
das Streben nach dem Ewig-Diesseitigen
zum Schauen der Räumlichkeit.
Beides hat Einen Ursprung und nur verschiedenen Namen.
Diese Einheit ist das Große Geheimnis.
Und des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis:
Das ist die Pforte der Offenbarwerdung aller Kräfte.(2)
In Kapitel 7 wird der Gedanke des Für-sich-selbst-Lebens und des Egoismus in Gegenüberstellung zum Rückzug aus der eigenen Persönlichkeit beschworen. Es geht um Fürsorge und die daraus resultierende Dauerhaftigkeit des Seins:
Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd.
Die Ursache der ewigen Dauer von Himmel und Erde ist,
daß sie nicht sich selber leben.
Darum können sie dauernd Leben geben.
Also auch der Berufene:
Er setzt sein Selbst hintan,
und sein Selbst kommt voran.
Er entäußert sich seines Selbst,
und sein Selbst bleibt erhalten.
Ist es nicht also:
Weil er nichts Eignes will,
darum wird sein Eigenes vollendet?(3)
Dieses Konzept des Rückzugs wird in Kapitel 16 als „Selbstenteignung“, also als innere Leere, formuliert, die den Weg zur „Stille“, zum inneren Gleichgewicht und damit zum „Sinn“ ebnet.
Wenn wir die äußerste Selbstenteignung erreicht,
die Stille unerschütterlich bewahren,
so mögen alle Wesen zugleich sich regen:
wir schauen zu, wie sie wiederkehren.
Der Wesen zahllose Menge entwickelt sich,
doch jedes wendet sich zurück zu seiner Wurzel.
Zurückgewandt sein zur Wurzel: das ist Stille.
Stille: das ist Rückkehr zur Bestimmung.
Rückkehr zur Bestimmung: das ist Ewigkeit.
Die Ewigkeit erkennen: das ist Weisheit.
Wer die Ewigkeit nicht erkennt, der handelt blindlings und unheilvoll.
Erkenntnis der Ewigkeit bringet Duldsamkeit.
Duldsamkeit bringet Edelsinn.
Edelsinn bringet Herrschaft.
Herrschaft bringet himmlisches Wesen.
Himmlisches Wesen bringet den SINN.
Der SINN bringet Dauer.
Ist das Ich nicht mehr, so gibt es keine Gefahren.(4)
Das Handlungs- bzw. Namenlose und die Fähigkeit „Sinn“ zu finden, hängen tatsächlich zusammen, wie Kapitel 37 andeutet. „Wünsche“ und Begierden werden als störende Faktoren gekennzeichnet, wenn es darum geht, Gleichgewicht, Stille und die Möglichkeit der Neuausrichtung zu erreichen, dargestellt durch die „Einfalt ohne Namen“ – eine vom Menschen unberührte und doch perfekte Natur:
Der SINN ist ewig ohne Handeln,
und nichts bleibt ungewirkt.
Wenn Fürsten und Könige ihn zu wahren verstünden,
so würden alle Geschöpfe von selber sich gestalten.
Und wenn beim Gestalten die Wünsche sich regten,
so würde ich sie zügeln durch Einfalt ohne Namen.
Die Einfalt ohne Namen führt zur Wunschlosigkeit.
Die Wunschlosigkeit führt zur Stille:
So wird die Welt von selber recht.
Zheng Bo ist ein Künstler und Theoretiker. Er beschäftigt sich 2020 als In House: Artist in Residence im Gropius Bau mit Pflanzen als politischen Akteurinnen. Vergangenheit und Zukunft sind zentrale Parameter seiner politisch und wissenschaftlich informierten künstlerischen Praxis, in der er sich sozialökonomischen Themen und dem Verhältnis von Mensch und Natur widmet.
Endnoten
1. Anmerkung des Übersetzers: Das Daodejing gilt als der meistübersetzte Text nach der Bibel. Der Umgang mit Übersetzungen dieses Textes ist problematisch: Schon im Chinesischen bereiten Überlieferungsschäden und die inhaltliche Vieldeutigkeit chinesischer Schriftzeichen den Interpreten Schwierigkeiten, weshalb mehrere hundert Kommentare zum Text entstanden. So unterscheidet sich auch die hier verwendete Übersetzung des deutschen Sinologen Richard Wilhelm an einigen Stellen stark von der englischen Ausgabe, die während des Spaziergangs verwendet wurde.
2. Laotse, Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben, aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm, Jena 1911, S. 3.
3. Ebd. S. 9.
4. Ebd. S. 18.
5. Ebd. S. 39.
Übersetzung: Christoph Jehlicka