Text | Gespräch | Gropius Bau 2022
Orte der Gegenseitigkeit und Rematriierung schaffen
Ein Gespräch zwischen Eeva-Kristiina Nylander, Marian Pastor Roces und Natasha Ginwala
Was ist das Museum heute? Und welche Bedeutung hat Kunstschaffen im Kontext von Kulturen, die systematisch unterdrückt oder zerstört wurden? Auch wenn die Debatte um die Repatriierung von Kunstwerken wichtig ist, dreht sich ein Großteil des Diskurses um problematische Vorstellungen von Erbe und Nationalstaatlichkeit. Das Aufspüren und Verständnis von matrilinearem Wissen eröffnet dagegen Möglichkeiten, über Gendergerechtigkeit nachzudenken und Raum für Wissenssysteme zu schaffen, die bisher als verboten galten. In diesem Gespräch tauschen sich die Archäologin und Forscherin Eeva-Kristiina Nylander, die unabhängige Kuratorin und Institutionskritikerin Marian Pastor Roces, und die Assoziierte Kuratorin at Large des Gropius Bau, Natasha Ginwala, über die Idee der Rematriierung (1) aus. Vor diesem Hintergrund beleuchten sie die Rolle von Museen bei der Verbindung von vielfältigen Umwelten und Gemeinschaftsperspektiven sowie bei der Suche nach Wegen zur Heilung und Rekonstituierung.
Natasha Ginwala: Léuli Eshrāghi, samoanisch-/persisch-/kantonesische Schriftsteller*in, Künstler*in, Forscher*in und Kurator*in erwähnte in einem unserer Gespräche während Ámà: 4 Days on Caring, Repairing and Healing, dass Léuli bei der Präsentation bestimmter Formen von Zeremonien oder ritueller Codes als Teil der Performance-Praxis, Raum für Trauer und die Verarbeitung traumatischer Erinnerungen lässt. Léuli schlug vor, diese Zeichensysteme als etwas Flüchtiges aufrechtzuerhalten und bestimmte Informationen zurückzuhalten, damit dieser Modus der Wechselwirkungen nicht mit der Zeit auch zu einer Art Performance des transparenten Terrors wird. In diesem Sinne möchte ich euch beiden zu euren jeweiligen Forschungsgebieten folgende Frage stellen: Wie kann man heute Plattformen für interkulturelle Verständigung schaffen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Gemeinschaft und ihre Beteiligten geschützt werden?
Marian Pastor Roces: Die Frage, wie solche Plattformen des wechselseitigen Verständnisses entstehen können, aber gleichzeitig Wissenssystem geschützt werden, die traditionell auf Stille beruhen, begleitet mich täglich. Die Philippinen, auf denen ich lebe, gehören zu den Regionen, in denen diese Aufgabe zusätzlich durch gewalttätige Ereignisse in den letzten fünfzig Jahren erschwert wurde. Aus diesem Grund müssen bei dieser Fragestellung verschiedene Arten des Schweigens mitgedacht werden. So sind beispielsweise Frauen, die in Kriegszeiten durch sexuelle Gewalt zum Schweigen gebracht wurden, vielleicht dieselben Frauen, die auch eine andere Art des Schweigens praktizieren, weil in alten Kulturen die wichtigsten Dinge verschleiert wurden. Bei dem Versuch, ihre Erinnerungen offenzulegen und eine nationale Gemeinschaft zum Zuhören zu verpflichten, gilt es eben auch, das einfache Recht auf Schweigen anzuerkennen – und das Überleben von Kulturen, die auf Austerität des Sprachgebrauchs basieren. Vor allem angesichts Geschichten unermesslichen Schmerzes sollte die Kunst eine stille, respektvolle Distanz wahren; und die Kunstwelt sollte wissen, wo die Grenzen ihrer Repräsentationstechniken liegen. Durch das Kuratieren und den Aufbau von Institutionen versuche ich persönlich, meine Antworten auf ethischer Ebene zu finden. Derzeit kuratiere ich beispielsweise auf der Insel Basilan im Süden der Philippinen die Einrichtung des Museum to Cross-Cultural Understanding, ein Projekt der Bürgermeisterin von Isabela City, Sitti Djalia Turabin Hataman. Wir beschäftigen uns hier mit verschiedenen Arten von Stille, und es kommt immer deutlicher zum Vorschein, dass auf den südostasiatischen Inseln ein archaisches System komplexer Wechselwirkungen fortbesteht. Denn auf den Philippinen werden über 170 Sprachen gesprochen und sie alle bewahren dieses System; sie alle gehören zur austronesischen Sprachfamilie, die sich über eine große Region erstreckt, welche von Madagaskar bis zu den Osterinseln reicht. Wenn wir das Archaische hervorheben, sollten wir trotzdem nicht versuchen, es als Ethos wiederherzustellen. In diesem Projekt, das auf einer Abkehr vom Nativismus basiert, scheint es mir möglich, auf eine kosmopolitische Sichtweise hinzuarbeiten, die Stille als polyvalent begreift und bei der Betrachtung von Sprache, auch das Schweigen mitdenkt.
Dabei ist es wichtig, den Kontext dieses speziellen Ortes zu kennen: Von den 1970ern bis vor etwa fünf Jahren betrachtete die Mehrheit der philippinischen Bevölkerung Basilan als „Badlands“. Zusammen mit dem Rest der sogenannten muslimischen Philippinen, deren Zentrum auf Mindanao liegt, waren die Menschen auf Basilan lange Zeit durch ein kollektives Selbstverständnis geprägt, welches sich in Bezug zum Ozean entwickelte – und das für die christliche Mehrheit wiederum das Unkontrollierbare und Bedrohliche verkörpert. Basilan wurde außerdem vor allem mit extremer Gewalt in Verbindung gebracht – ein Problem, das sich in den frühen 2000er Jahren verschärfte und durch Enthauptungen und Lösegeldentführungen auf grausame Weise verschlimmert wurde.
Ein großer Teil dieser Gewalt hat sich inzwischen erschöpft, auch wenn wir nicht wissen, wie lange die heutige, entspanntere Situation anhalten wird. Sie ermöglicht jedoch einen verstärkten Verkehr zwischen den Menschen, der, um genau zu sein, nie wirklich zum Erliegen kam. Selbst während der Jahre der Gewalt ging der Austausch weiter – dank Verwandtschaftsbeziehungen sowie langfristiger wirtschaftlicher und kultureller Netzwerke, die beachtliche Seereichweiten überspannen. Diese Netzwerke gibt es natürlich nicht erst seit dem 21. Jahrhundert – in den meisten Fällen reichen sie bis ins 19. Jahrhundert oder in noch frühere Zeiten zurück.
Natasha Ginwala: Léuli Eshrāghi, samoanisch-/persisch-/kantonesische Schriftsteller*in, Künstler*in, Forscher*in und Kurator*in erwähnte in einem unserer Gespräche während Ámà: 4 Days on Caring, Repairing and Healing, dass Léuli bei der Präsentation bestimmter Formen von Zeremonien oder ritueller Codes als Teil der Performance-Praxis, Raum für Trauer und die Verarbeitung traumatischer Erinnerungen lässt. Léuli schlug vor, diese Zeichensysteme als etwas Flüchtiges aufrechtzuerhalten und bestimmte Informationen zurückzuhalten, damit dieser Modus der Wechselwirkungen nicht mit der Zeit auch zu einer Art Performance des transparenten Terrors wird. In diesem Sinne möchte ich euch beiden zu euren jeweiligen Forschungsgebieten folgende Frage stellen: Wie kann man heute Plattformen für interkulturelle Verständigung schaffen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Gemeinschaft und ihre Beteiligten geschützt werden?
Marian Pastor Roces: Die Frage, wie solche Plattformen des wechselseitigen Verständnisses entstehen können, aber gleichzeitig Wissenssystem geschützt werden, die traditionell auf Stille beruhen, begleitet mich täglich. Die Philippinen, auf denen ich lebe, gehören zu den Regionen, in denen diese Aufgabe zusätzlich durch gewalttätige Ereignisse in den letzten fünfzig Jahren erschwert wurde. Aus diesem Grund müssen bei dieser Fragestellung verschiedene Arten des Schweigens mitgedacht werden. So sind beispielsweise Frauen, die in Kriegszeiten durch sexuelle Gewalt zum Schweigen gebracht wurden, vielleicht dieselben Frauen, die auch eine andere Art des Schweigens praktizieren, weil in alten Kulturen die wichtigsten Dinge verschleiert wurden. Bei dem Versuch, ihre Erinnerungen offenzulegen und eine nationale Gemeinschaft zum Zuhören zu verpflichten, gilt es eben auch, das einfache Recht auf Schweigen anzuerkennen – und das Überleben von Kulturen, die auf Austerität des Sprachgebrauchs basieren. Vor allem angesichts Geschichten unermesslichen Schmerzes sollte die Kunst eine stille, respektvolle Distanz wahren; und die Kunstwelt sollte wissen, wo die Grenzen ihrer Repräsentationstechniken liegen. Durch das Kuratieren und den Aufbau von Institutionen versuche ich persönlich, meine Antworten auf ethischer Ebene zu finden. Derzeit kuratiere ich beispielsweise auf der Insel Basilan im Süden der Philippinen die Einrichtung des Museum to Cross-Cultural Understanding, ein Projekt der Bürgermeisterin von Isabela City, Sitti Djalia Turabin Hataman. Wir beschäftigen uns hier mit verschiedenen Arten von Stille, und es kommt immer deutlicher zum Vorschein, dass auf den südostasiatischen Inseln ein archaisches System komplexer Wechselwirkungen fortbesteht. Denn auf den Philippinen werden über 170 Sprachen gesprochen und sie alle bewahren dieses System; sie alle gehören zur austronesischen Sprachfamilie, die sich über eine große Region erstreckt, welche von Madagaskar bis zu den Osterinseln reicht. Wenn wir das Archaische hervorheben, sollten wir trotzdem nicht versuchen, es als Ethos wiederherzustellen. In diesem Projekt, das auf einer Abkehr vom Nativismus basiert, scheint es mir möglich, auf eine kosmopolitische Sichtweise hinzuarbeiten, die Stille als polyvalent begreift und bei der Betrachtung von Sprache, auch das Schweigen mitdenkt.
Dabei ist es wichtig, den Kontext dieses speziellen Ortes zu kennen: Von den 1970ern bis vor etwa fünf Jahren betrachtete die Mehrheit der philippinischen Bevölkerung Basilan als „Badlands“. Zusammen mit dem Rest der sogenannten muslimischen Philippinen, deren Zentrum auf Mindanao liegt, waren die Menschen auf Basilan lange Zeit durch ein kollektives Selbstverständnis geprägt, welches sich in Bezug zum Ozean entwickelte – und das für die christliche Mehrheit wiederum das Unkontrollierbare und Bedrohliche verkörpert. Basilan wurde außerdem vor allem mit extremer Gewalt in Verbindung gebracht – ein Problem, das sich in den frühen 2000er Jahren verschärfte und durch Enthauptungen und Lösegeldentführungen auf grausame Weise verschlimmert wurde.
Ein großer Teil dieser Gewalt hat sich inzwischen erschöpft, auch wenn wir nicht wissen, wie lange die heutige, entspanntere Situation anhalten wird. Sie ermöglicht jedoch einen verstärkten Verkehr zwischen den Menschen, der, um genau zu sein, nie wirklich zum Erliegen kam. Selbst während der Jahre der Gewalt ging der Austausch weiter – dank Verwandtschaftsbeziehungen sowie langfristiger wirtschaftlicher und kultureller Netzwerke, die beachtliche Seereichweiten überspannen. Diese Netzwerke gibt es natürlich nicht erst seit dem 21. Jahrhundert – in den meisten Fällen reichen sie bis ins 19. Jahrhundert oder in noch frühere Zeiten zurück.
In Basilan und seiner Hauptstadt, der Hafenstadt Isabela, stützt sich die Friedenskonsolidierung auf das zivilgesellschaftliche Mantra der wirtschaftlichen Integration. Inklusion bedeutet hingegen interkulturelle Verständigung, die sich nicht nur über Religionsgrenzen, sondern auch über die Grenzen von Sprachen, Bevölkerungsgruppen, Ideologien und Familienzugehörigkeiten hinweg erstreckt. Die Überschneidungen spielen sich auf unterschiedlichen Zeitachsen ab. Der Frieden beruht nicht nur auf interreligiösem und inner-sektaristischem Austausch, sondern auch auf der Kraft von nuancierten Ähnlichkeiten und Unterschieden, die potenziell Linien möglicher Verständigung aufzeigen.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind historisch, wirtschaftlich und sprachlich bedingt. Alleine in Isabela City werden zehn Sprachen gesprochen: Einige davon sind die Sprachen mächtiger Gruppen, wie z.B. die der Tausūg, die vor etwa zwei Jahrhunderten die große Seemacht der Sultanat von Sulu bildeten; andere Sprachen stammen von marginalisierten Seenomad*innen. Doch abgesehen von Chinesisch, Englisch und Spanisch gehören alle Sprachen, die auf Basilan gesprochen werden, zur austronesischen Sprachfamilie. Die 4000-jährige Geschichte dieser Sprachfamilie hat Verhaltensweisen und Weltanschauungen hervorgebracht, die noch heute tief verwurzelt sind und ein gemeinsames Erbe darstellen – unabhängig davon, welcher Religion die Sprecher*innen heute angehören. Außerdem ist maritimes Wissen weit verbreitet, und obwohl es in den verschiedenen Sprachgruppen nicht gleichmäßig verteilt ist, bildet es eine allgegenwärtige kulturelle Basis.
Das Meer ist hier für die Vorstellungen vom Selbst und der Gemeinschaft von enormer Bedeutung, was metaphorisch gesehen sowohl den Islam als auch das Christentum auf Basilan (und auf den übrigen Philippinen) fließend werden hat lassen, und von einem Indigenen Unterton eines ausgeprägten austronesischen Animismus begleitet wird. Die Prämisse des Museum to Cross-Cultural Understanding, welches 2023 eröffnet wird, um den Frieden weiter zu fördern, ist daher der Glaube an die Möglichkeit von Heilung durch tiefgreifende Ähnlichkeiten, die den Unterschieden zugrunde liegen. Eine wichtige Dimension der Gemeinsamkeiten ist das Schweigen als Maß der Würde; eine wichtige Dimension der Unterschiede ist hingegen das Schweigen aus Gründen der Unterdrückung.
Eeva-Kristiina Nylander: Ich würde in Bezug auf die anfängliche Frage, wie Plattformen für interkulturelle Verständigung geschaffen werden können, den Akt der Repatriierung von Prozessen der Rematriierung unterscheiden: Repatriierung ist das, was passiert, wenn ein Museum Objekte oder Besitztümer zurückgibt und Provenienzforschung betreibt. Wenn jedoch all diese Informationen an die Herkunftsgemeinschaft gelangen und mit traditionellem Wissen und stillen Informationen in Verbindung gebracht werden, dann findet ein Prozess der Rematriierung statt. So etwas passiert zum Beispiel innerhalb der Sámi-Gemeinschaft (2); hier können die Menschen ihre Muttersprache sprechen und müssen sich nicht rechtfertigen oder ihre kulturellen Verhaltensweisen erklären. Man gehört zu einer Familie und erzählt, wer man ist, in einer warmen Atmosphäre, die es zu schützen gilt – was dort passiert, bleibt dort.
Für meine laufende Arbeit im Zusammenhang mit der Repatriierung von sámischen Kulturgütern war die Feier zum 100-jährigen Bestehen der Sámi-Versammlungen eine große Inspiration. Diese Veranstaltung fand 2017 eine Woche lang in Trondheim oder Tråante (wie es in der Sprache der Südsámi genannt wird) statt. Es gab mehrere Ausstellungen über ethnografische Kulturgüter der Sámi, aber auch verschiedene zeitgenössische Präsentationen sowie diverse Arten von politischen und kulturellen Treffen. Es war wunderschön – die ganze Stadt war voller Sámi, sámischer Fahnen und man hörte überall sámische Sprache. Während dieser Zeit sah ich gemeinsam mit der Künstlerin Outi Pieski einen Ládjogahpir in der Repatriierungsausstellung mit dem Titel Bååstede (was in der südsámischen Sprache „Rückkehr“ bedeutet) im Norsk Folkemuseum. Diese anmutige, kronenartige Kopfbedeckung, die von den Frauen im sámischen Gebiet im heutigen Nordnorwegen und Finnland bis zum Ende des 19. Jahrhunderts getragen wurde, interessierte mich, seit ich 2006 begann, mich mit der Repatriierung der Sámi zu beschäftigen. Es gibt ein überliefertes Narrativ, das besagt, der Teufel bewohne die Fierra (die Ausbuchtung des Hutes), weshalb die Priester, die nach Sápmi kamen, diese Hüte zerstören wollten und sie deshalb verbrannten. Outi und ich beschlossen, dieses Thema als Zusammenarbeit zwischen einer Wissenschaftlerin und einer Künstlerin zu erforschen, die schließlich zu dem interdisziplinären Projekt Ládjogahpir. Máttaráhkuid gábagahpir. The Foremother’s Hat of Bride (2017-2020) führte. Als Teil unserer Recherche besuchten wir verschiedene Museen und Institutionen in Europa – unter anderem das Museum Europäischer Kulturen in Berlin-Dahlem – und in den nordischen Ländern, um uns die Ládjogahpir in den Sammlungen anzusehen und zu studieren. Es war uns jedoch wichtig, unsere Ergebnisse mit der sámischen Gemeinschaft zu teilen, bevor wir sie veröffentlichten, was in der Wissenschaft eher ungewöhnlich ist. Wir begannen auch, Workshops für Sámi-Frauen zu organisieren, zu deren Tradition der Ládjogahpir gehört. Diese Veranstaltungen fanden an verschiedenen Orten statt, zum Beispiel im norwegischen Sápmi in Kárášjohka und in Deanu šaldi sowie auf der finnischen Seite von Sápmi in Ohcejohka. Wir begannen die Treffen damit, dass wir alles miteinander teilten: Wissen, Erzählungen, Geschichten aus den Archiven – all das, was wir an Provenienzen gefunden hatten. Als Teil des Projektes hatte ich auch die Möglichkeit, Interviews mit den teilnehmenden Frauen zu führen. Dabei wurde mir klar, dass ich ihre Stimmen an die Mehrheitsbevölkerung und die Museen weitergeben wollte, in deren Besitz sich die Objekte befinden, die eigentlich den Sámi gehören. Es gibt immer noch über 50.000 sámische Gegenstände, die in Institutionen und Museen außerhalb von Sápmi aufbewahrt werden, und es ist so wichtig klarzustellen, warum es essenziell ist, diese Gegenstände wieder zurückzubringen. Deshalb haben wir beschlossen, diese Gespräche in einer Publikation (Ládjogahpir – Máttaráhkuid gábagahpir, 2020) zu veröffentlichen, die für mich ein Beispiel dafür ist, wie man auch in Zukunft Indigene Objekte oder Besitztümer erforschen kann. Und es ist heute großartig zu sehen, wie der Ládjogahpir nun langsam wieder ein Teil der sámischen Gesellschaft wird.
Natasha Ginwala: Ich glaube, in euren beiden Beiträgen kommt es klar zum Ausdruck, was Gayatri Chakravorty Spivak in Death of a Discipline (2003) als „learning to learn from below“ (Lernen, von unten zu lernen) bezeichnet. Dabei geht es nicht nur um das Lernen von unten, sondern auch um den Aspekt des „Lernens zu lernen“ vor dem Hintergrund epistemischer Ignoranz. In Bezug auf den Kunstbereich könnte dieser Prozess mit folgenden Fragen einhergehen: Worüber wissen wir nicht Bescheid? Und wer hat eigentlich die Autorität, Institutionen zu schaffen und zu beauftragen? Könnet ihr berichten, wie sich im Zusammenhang eurer Forschungsbereiche und Projekte Machtverhältnisse durch die Schaffung neuer Orte der Begegnung und Gegenseitigkeit verändert haben? Und habt ihr Vorschläge, wie Kunstinstitutionen verstärkt an diesen Prozessen teilhaben könnten?
Marian Pastor Roces: Wir müssen uns wieder der Sprache zuwenden. Durch die Aufnahme kultureller Materialien in die Lager und Bestandsverzeichnisse der Museen wird komplexe Materie in Objekte verwandelt. Sobald diese vermeintlichen Ojekte identifiziert, verarbeitet, dokumentiert, in einer Datenbank kodiert und damit aus ihren ursprünglichen komplexen Zusammenhängen herausgelöst sind, verwandeln sie sich zu Einheiten, die in den (Waren-)Verkehr von Kulturmaterial eingesaugt werden. Museen und Galerien sind Hauptakteur*innen bei dieser Verwandlung von dynamischen Phänomenen in bloße (wenn auch auratische) Objekte – wie bereits vielfach in der kritischen Forschung dargelegt wurde. Meine eigenen kritischen Erkenntnisse habe ich aus meiner Arbeit über philippinische Textilien gewonnen, die in der Vergangenheit nicht mit nominalen Kategorien bezeichnet wurden. Das Aufzeichnungssystem bestimmt jedoch nicht nur Ausstellungspraktiken, sondern garantiert auch die Konsumierbarkeit dieser schwebenden Dinge, die dann plötzlich greifbar und verfügbar sind. Und genau hierin liegt auch eine Form der Gewalt und des Verlusts: in dieser besonderen Art des Schweigens, die sich radikal von der stillen Würde unterscheidet, die einige der Kulturen, die diese Materialien geschaffen haben, aufrechterhalten.
Eeva-Kristiina Nylander: Ich denke, in meinem Forschungsgebiet geht es auch darum, das Gespräch von den westlichen Museen – den Institutionen in Finnland – zu den Sámi zu verlagern und damit die Machtverhältnisse zu verändern. Durch diese Veränderung können die Sámi ihre eigenen Objekte studieren und wieder etwas über sie lernen; sie können mit ihren Geistern und denen ihrer Vorfahr*innen zusammen sein; die Liebe erfahren, die in Duodji – in das Kunsthandwerk – gesteckt wird, wenn man es betreibt. Es ist eine sehr intime Situation, die natürlich auch bestimmte Seinszustände erfordert.
In einem neuen Ausstellungsprojekt mit dem Titel Enâmeh láá mii párnáh – These lands are our children im Sámi Museum Siida in Inari, an dem eine große Gruppe von sámischen Forscher*innen, Museumsfachleuten, Künstler*innen und Kunsthandwerker*innen beteiligt ist, besteht unser Ansatz zum Beispiel darin, die Geschichte durch die Augen dieser Menschen zu erzählen, anstatt über das Sammeln von Objekten zu berichten, wie wir es letztes Jahr in Mäccmõš, maccâm, máhccan – The Homecoming (2021/22) im Finnischen Nationalmuseum in Helsinki getan haben. Die Geschichte dieser Objekte und unsere gemeinsame Geschichte sind in vielerlei Hinsicht schwierig und brutal, weshalb wir versuchen, die Objekte mit Hilfe der Sammlung und zeitgenössischer sámischer Kunst, die diese umgibt und in ihre Arme schließt, zu betrachten. Es geht um Wechselwirkungen, die auch Marian in Bezug auf Mensch und Natur betont hat, was mich schlussendlich daran erinnert hat, dass alle Indigenen Gruppen letztlich etwas gemein haben: dass man nie mehr nimmt, als man braucht, und immer etwas zurückgibt. Es geht dabei um einen Dialog und eine zeitgemäße Art, denjenigen, die einem etwas gegeben haben, etwas zurückzugeben.
Endnoten
1 Rematriation ist ein von der sámischen Politikwissenschaftlerin Jovnna Jon Ánne Kirstte Rávdná/Rauna Kuokkanen geprägter Begriff. Er bezeichnet eine Wiederbelebung der Indigenen Prinzipien der Gleichheit zwischen den Gendern, wie sie in den sámischen Gemeinschaften traditionell gepflegt wird. Rematriation ist ein affirmativer Ausdruck der sozialen und politischen Handlungsfähigkeit der sámischen Frauen. Sie ist auch eine Geste der spirituellen und kulturellen Rehabilitierung im Prozess der Dekolonisierung der Sápmi.
2 Sámi sind die Indigenen Bevölkerungsgruppen, die in Sápmi leben, einer Region, die sich über große Teile im Norden Norwegens, Schwedens, Finnlands und des russischen Gebiets der Kola-Halbinsel erstreckt. Die Sámi haben um die Anerkennung ihrer souveränen Rechte, ihrer Sprachen, ihrer materiellen Kultur und ihres Gemeinschaftslebens gekämpft, einschließlich der kulturellen Autonomie, der politischen Vertretung, des Umweltschutzes, der Entkolonialisierung des spirituellen Erbes und der traditionellen Lebensgrundlagen.
Eeva-Kristiina Nylander ist Archäologin und promoviert am Giellagas Institut für Sámi-Studien an der Universität Oulu, Finnland. Sie befasst sich mit dem kulturellen Erbe der Sámi und mit Repatriierungsprozessen in Zusammenarbeit mit der sámischen Gesellschaft. Derzeit ist sie an der Entwicklung einer Ausstellung im Sámi Museum Siida in Inari, Finnland, beteiligt.
Marian Pastor Roces ist unabhängige Kuratorin und Kritikerin mit Schwerpunkt auf Institutionen. Sie arbeitet zu Themen wie zeitgenössische Kunst, Museen, Identitätspolitik, Kleidung und damit verbundene Zeichensysteme sowie dem Scheitern des demokratischen Projekts in vielen Teilen der Welt.
Natasha Ginwala ist Kuratorin, Autorin und Redakteurin. Sie ist künstlerische Leiterin von COLOMBOSCOPE in Colombo, Sri Lanka, und Assoziierte Kuratorin at Large am Gropius Bau. Sie war zusammen mit Defne Ayas künstlerische Leiterin der 13. Gwangju Biennale (2021).