Text | Essay | Gropius Bau 2022
Politik der Pflanzen. Vorläufige Fragen
Zheng Bo im Gespräch mit Natasha Myers
Die Beziehung zwischen Mensch und Nicht-Mensch ist entscheidend für unser Überleben – was aber würde es bedeuten, wenn wir Pflanzen innerhalb unserer Politik verorten würden? Der Künstler Zheng Bo und die Anthropologin Natasha Myers diskutieren über Dekolonisierung, die Rolle Indigenen Wissens und ob das Heilen von Land auch gleichzeitig die Heilung von Gemeinschaft bedeuten kann.
Der Künstler und Theoretiker Zheng Bo war 2020 In House: Artist in Residence im Gropius Bau und beschäftigte sich in diesem Rahmen mit Pflanzen als politischen Akteurinnen. In der ersten Phase seiner Recherche entstanden im gemeinsamen Gespräch mit Experten*innen aus Anthropologie, Ökologie und Philosophie Fragen für nachfolgende Untersuchungen. Der 5. Mai 2020 markierte im ostasiatischen Lunisolarkalender den Sommeranfang (⽴夏); an diesem Tag diskutierten die Anthropologin Natasha Myers und Zheng Bo, was Solidarität zwischen Pflanzen und Menschen in Zeiten des „Planthroposcene“ bewirken kann. Der Begriff „Planthroposcene“ legt die Einmischung der Pflanzenwelt in das viel diskutierte Konzept des Anthropozäns nahe. Ihr Gespräch wurde als Audiolivestream für das Publikum des Gropius Bau übertragen. Während der Konversation ging Zheng auf Hongkongs Lantau Island und Myers in ihrem Garten nahe der Eichensavannen Torontos spazieren. Die Zuhörer*innen waren dazu eingeladen, es ihnen gleichzutun und auf einem Spaziergang in der Natur über mögliche Beziehungen zwischen Menschen und Pflanzen nachzudenken. Der folgende Auszug dokumentiert ihr Gespräch und beleuchtet die politische Dimension unserer Beziehung zu Pflanzen – von der Konsequenz des kolonialen Verständnisses, sie als extrahierbare Waren zu begreifen, bis hin zum revolutionären Potenzial, Pflanzen in den Mittelpunkt unseres politischen Alltags zu stellen und so die Zukunft unseres Planeten zu verändern.
Bo: Während der letzten acht Jahre habe ich mit Pflanzen gearbeitet und dabei Installationen, Kurzfilme und Workshops realisiert, doch ich musste feststellen, dass meine Praxis weitgehend intuitiv war. Ich habe Ihren kürzlich veröffentlichten Essay How to Grow Liveable Worlds: Ten (Not-So-Easy) Steps for Life in the Planthroposcene (Wie man bewohnbare Welten wachsen lässt: Zehn (nicht ganz so einfache) Schritte für das Leben im Planthroposcene) (2021) gelesen – ich glaube, „Planthropocene“ ist ein Begriff, den Sie geprägt haben. Dieser bezeichnet ein Hybrid aus Pflanze und Mensch. In Ihrem Essay führen Sie zehn Schritte auf. Schritt zwei, erklären Sie, ist die Zerschlagung der jetzigen Welt, um andere Welten zu ermöglichen. Ich hatte folgendes Bild vor Augen: In nicht allzu ferner Zukunft werden wir aufhören, Pflanzen als stumme Wesen zu behandeln, wir werden ihre Intelligenz wertschätzen und ihnen Gehör schenken, wir werden ihre Ideologien und Vorlieben verstehen und sie als gleichberechtigte Partnerinnen in Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen, von der lokalen bis zur planetarischen, einbeziehen. Meines Erachtens ist dies eine äußerst politische Vorstellung.
Natasha: Jede Interaktion mit Pflanzen, also jeder Moment, in dem wir uns mit ihnen beschäftigen – ob wir sie als Nahrung aus dem Boden entnehmen, Arzneimittel aus ihnen gewinnen, ihre Körper für unseren Kraftstoff nutzen oder sie für den Bau von Behausungen verwenden – ist politisch. Wirklich beeinflusst, bewegt und herausgefordert haben mich die großen Fragen zum Kolonialismus. Jedes Mal, wenn wir eine Pflanze in eine Art von Austausch einbeziehen, selbst wenn es um ästhetische Fragen geht, beteiligen wir uns am häufigsten an kolonialen Wissensformen über Pflanzen. In diesem Moment behandeln wir sie wie Kolonisator*innen. So wurden sie zu Nutzwerten und extrahierbaren Waren, die problemlos in unsere Warenketten eingeschleust werden können. Zuallererst sollten wir anfangen, darüber nachzudenken, wie Pflanzen schon jetzt im Zentrum der Politik unseres Alltags stehen. Wir müssen uns fragen, inwiefern sie Teil des politischen Geschehens sind. Wie können wir Pflanzen in den Mittelpunkt einer neuen Art von Politik stellen? Wie können wir den politischen Raum reorganisieren und diese Organismen eingliedern, die uns alles geben, was wir zum Leben brauchen, einschließlich des Sauerstoffs, den wir atmen? Wir müssen lernen, mit diesen Lebewesen zusammenzuleben – gut zusammenzuleben. Es geht darum, sie ins Zentrum unserer politischen Bühne zu rücken, damit wir die Zukunft dieses Planeten wirklich verändern können.
Bo: Ich denke, es gibt zwei Zweige: unsere alltäglichen Beziehungen zu Pflanzen in einem politischen Licht zu sehen (sogar unser tägliches Essen von Pflanzen lässt sich als politischer Akt verstehen) und Pflanzen in unser Verständnis der Weltpolitik einzubeziehen. Wenn wir Pflanzen betrachten, begreifen wir sie oft nicht als potenzielle Partner für eine gemeinsame Entscheidungsfindung. Viele von uns haben begonnen, unser Verhältnis zu Pflanzen zu erkennen und auf unsere Beziehung zu ihnen als Nahrung, Medizin und ästhetische Partnerinnen zu achten. Ich kann mir Pflanzen aber nur sehr schwer als politische Partnerinnen in kollektiven Entscheidungsprozessen vorstellen. Ich glaube, wie Sie sagten, dass es vielleicht zwei Wege gibt, dies zu tun – oder mindestens zwei Verzweigungen. Der eine ist eine Neudefinition unserer Politik, denn Formen der Politik, ob nun Autoritarismus oder repräsentative Demokratie, sind nur auf den Menschen ausgerichtet. Es stellt sich die Frage, ob wir Pflanzen in diese Formen einfließen lassen, oder ob wir völlig neue Formen erfinden sollten. Das ist die eine Frage – die andere ist, ob wir erkennen, inwiefern Pflanzen derzeit schon als politische Akteurinnen fungieren. Wie treffen sie Entscheidungen? Ich glaube, Sie haben hier Bezug auf die zelluläre Ebene genommen. Wenn wir die molekularen Mechanismen von Pflanzen wirklich verstehen, beginnen wir zu begreifen, wie sie Entscheidungen treffen und kommunizieren. Da wir hauptsächlich über Politik auf menschlicher Ebene nachdenken, als Individuen oder Bürger*innen, stellt sich mir folgende Frage: Wie können wir unsere Politik auf die zelluläre und molekulare Ebene verlagern?
Natasha: Ja, in dem Artikel Conversations on Plant Sensing (Gespräche zur Pflanzensensorik) aus dem Jahr 2015 habe ich mit Wissenschaftlern*innen gesprochen, die die Handlungsfähigkeit von Pflanzen auf der molekularen und zellulären Ebene verorten. In den letzten sechs Jahren habe ich jedoch anders über Pflanzen nachgedacht und das Politische der Pflanzenwahrnehmung auf andere Art und Weise erkannt. Im Kern der Arbeit über Pflanzenwahrnehmung steckt eigentlich eine Aufforderung, unseren Blick von der molekularen Ebene ausgehend hochzuskalieren. Wir befassen uns zu sehr mit der molekularen Erklärungsebene von pflanzlichen Wahrnehmungs- und Empfindungsmechanismen. Dabei übersehen wir jedoch etwas, was uns zurückführt zur Frage des kolonialen Verständnisses, das auf der Auslöschung jeder anderen Art von Pflanzenkenntnis beruht. Die Evakuierung des Gefühls ist der erste Schritt, den man gehen müsste, um zur molekularen Ebene zu gelangen und über Empfindungsfähigkeit auf einer molekularen Ebene nachzudenken. Ich bin daran interessiert, uns dazu zu bewegen, über eine andere Einheit nachzudenken. Ich denke, die geeignete Einheit ist die Beziehung. Es ist die Beziehung zwischen Mensch und Pflanze, die ich als Einheit für politische Handlungsfähigkeit in den Mittelpunkt stellen möchte. Das Schöne daran ist, dass dadurch der selbstherrliche Mensch, das altbekannte liberale humanistische Subjekt, das angeblich autonom ist und in der Lage sein sollte, rational zu handeln, sofort verdrängt wird.
Wenn wir eine Verlagerung in Richtung „Planthroposcene“ in Betracht ziehen, ersetzt ein „Planthropos“ den „Anthropos“ und stellt eben jene hybride Gestalt vor, die zugleich Pflanze und Mensch ist. Es ist ein Prozess der Verwicklung und des sich Ineinanderfaltens, bei dem sich Pflanzen und Menschen über Jahrtausende hinweg am Leben des anderen beteiligt haben, und zwar in dem Maße, dass wir untrennbar mit Pflanzen verwachsen sind. Das wahrlich Mächtige an dieser Herangehensweise ist nicht nur die Verschiebung der Rolle des Menschen und die Fokussierung auf diese hybride, rhizomartige Lebensform. Entscheidend ist auch die Forderung, dass mit dem Einpflanzen von „pflanzlichen“ Konzepten der Subjektivität, Konzepten von Gemeinschaft und mit Praktiken der Verwurzelung gearbeitet wird, bei denen es darum geht, Verantwortung zu übernehmen für den Menschen, für das Hier, das Jetzt, die Gegenwart, in der wir uns befinden. Pflanzen beherrschen diese Art der Verwurzelung, von der wir Menschen eine Menge lernen könnten. Man kann sie aus keiner ihrer Beziehungen entwurzeln; die Pflanze lässt sich nicht von einer Person trennen, auch nicht von der Nahrung, die sie verzehrt, den Medikamenten, die sie aufnimmt, von der Kleidung, mit der sie sich schmückt, ihren Duftstoffen. Wenn wir unsere vollkommene Verflechtung mit dem Pflanzenreich erkennen, können wir beginnen, uns zu solidarisieren. Wir können Pflanzen zur Seite stehen. Wir können herausfinden, wie und wo sie wachsen wollen und wie sie nicht nur uns, sondern auch andere Wesen nähren wollen.
Bo: Ich habe auch darüber nachgedacht, wie wir Pflanzen als dezentrale „Wissende“ im Gegensatz zu uns (Menschen) auffassen könnten. Menschen neigen zu dem Glauben, ein zentralisiertes Bewusstsein zu besitzen, das im Gehirn konzentriert ist. Ich denke, wenn wir wirklich anfangen, unser pflanzliches Wesen zu erwecken, merken wir aber, dass unser Bewusstsein ebenfalls dezentral und gar nicht so sehr im Gehirn verankert ist. Wenn ich das auf die politische Ebene übertrage, frage ich mich, wie wir politische Entscheidungsfindung begreifen. Es ist nicht mehr nur eine Aktivität des Gehirns. Es muss eine dezentrale politische Entscheidungsfindung sein.
Natasha: Es ist wahrscheinlich kein einfacher Schritt, wenn es um jede politische Entscheidung geht. Ob man eine Schaufel in den Boden steckt, etwas ausgräbt, Land anders nutzt, hier etwas baut oder dort etwas niederreißt – jede dieser Entscheidungen, die hinsichtlich unserer privaten Grundstücke und umschlossenen Räume getroffen werden, hat Konsequenzen für die Pflanzenwelt. Wir sprechen hier nicht von einer Art der repräsentativen Demokratie, in der Bäume einen Platz am Tisch hätten. Im „Planthroposcene“ wird es jedoch einen Platz am Tisch geben für die Menschen, die diese Bäume kennen, für die Menschen, deren Land es ist und die für diese Bäume sprechen können. Darin liegt die Veränderung. Pflanzen haben ihre Menschen. Selbst mitten in einem Wald haben sie die Menschen, die diesen Wald entweder geschützt haben oder ihn verwüsten ließen. Zu jeder Pflanze auf der Welt gibt es eine menschliche Beziehung. Was würde es bedeuten, unsere Entscheidungsfindung auf die Menschen umzuverteilen, die sich tatsächlich für die jeweiligen Pflanzen aussprechen können? Genau darüber denke ich gerade bei meiner Arbeit zur Unterstützung des Indigenous Land Stewardship Circle hier in Toronto nach. Wie können wir die Menschen in den Mittelpunkt stellen, für die diese Eichensavannen nicht nur ein Dienst des Ökosystems sind? Es handelt sich um Beziehungen des Überlebens. Meine Kolleg*innen haben mich gelehrt, dass diese Eichensavannen keine Bruchstücke der Natur sind, die von der Wissenschaft gerettet werden müssen; vielmehr sind sie Schauplätze von Generationen der Solidarität und des Überlebens. Wem vertraut man also: Den Menschen, die seit zehn Jahren eine Beziehung zu einem Ökosystem haben und versuchen, dieses zu regenerieren; den Menschen, die auf diesem Land überlebt haben und seit Jahrtausenden in Verbundenheit mit den Bäumen leben; den Menschen, die Zeit hatten, dieses Land kennenzulernen und somit die Entscheidungen treffen sollten? Dies wäre sofort umsetzbar. Zu einer Veränderung der heutigen Politik könnte es durch folgende Frage kommen: Wie können koloniale Regierungen anfangen, Indigenen Bevölkerungsgruppen die Kontrolle zu überlassen?
Bo: Als ich las, dass Sie die Arbeit des Indigenous Land Stewardship Cirlce in Toronto unterstützen, war genau das die Frage, die mir in den Sinn kam. Wer hat eigentlich das Wissen, mit dem man die Bedürfnisse und Energien von Pflanzen spüren kann, über Generationen hinweg gewahrt?
Natasha: Es sind die Ältesten und Hüter des Wissens, die die Überlieferungen kennen. Sie sind es auch, die aktiv versuchen, neues Wissen und neue Beziehungen zu schaffen. In manchen Fällen müssen sie rekonstruieren und neu ansetzen. Die Verwüstungen des Kolonialismus bewirken, dass wir alle auf tiefgreifende Weise kolonisiert sind. Um Indigenes Wissen am Leben zu erhalten, ist es notwendig, dass die Menschen für die landbezogenen Lehren raus auf das Land gelangen. Das ist essentiell, um eine wirklich tiefgründige und generationenübergreifende Heilungsarbeit der Traumata der Kolonialisierung zu gewährleisten. Ein großer Teil dieser Arbeit konzentriert sich auf Pflanzen, ob es nun Zedern, Eichen oder Ahornbäume sind. Koloniale Renaturierungsökolog*innen kommen in eine Eichensavanne wie die, in der ich im High Park arbeite, sehen sich die Ahornbäume an und wollen diese einfach fällen. Sie sagen: „Oh, der gehört nicht in eine Eichensavanne. Hier ist ein Zucker-Ahorn, den fällen wir einfach.“ Nun ist das aber der heiligste Baum für die Haudenosaunee. Er ist Quelle des Ahornwassers und Ahornzuckers, er ist Quelle so vieler wichtiger Lehren. Die koloniale Logik lässt das Entscheidende außer Acht, nämlich dass es die Menschen waren, die diese Ökologie geschaffen haben, indem sie über Jahrtausende hinweg das Feuer nutzten, um die Eichensavannen zu verwalten. Was mich an der Eichensavanne fasziniert, ist, dass es sich wirklich um ein „Planthroposcene“ handelt, in dem Menschen gelernt haben, sich mit den Pflanzen zu verschwören, um so bewohnbare, nahrhafte Welten wachsen zu lassen. Wenn man die Menschen aus dieser Landschaft entfernt, ist es keine Eichensavanne mehr. An einem solchen Ort merken wir, dass wir genau jene Menschen wirklich zur Verwaltung des Landes brauchen, wenn Heilung das Ziel ist.
Bo: Also, es geht nicht um Menschen im Allgemeinen, sondern um eine Gemeinschaft. Es ist eine Lebensart.
Natasha: Genauer gesagt, ist es eine Beziehung. Den Menschen die richtige Beziehung zum Land zu vermitteln, ist wirklich grundlegend für diese Arbeit. Die Indigenen „Earthworkers“, mit denen ich zusammenarbeite, wollen die Menschen nicht vom Land fernhalten, sie wollen so viele Menschen wie möglich auf das Land bringen. Sie wollen Möglichkeiten der Heilung schaffen – nicht nur innerhalb der Beziehungen Indigener Gemeinschaften, sondern der Beziehungen aller Menschen zu Land. Aus ihrer Sicht benötigt jede*r eine andere Beziehung zum Land, um eine lebenswerte Zukunft zu gestalten. Für den Indigenous Land Stewardship Circle besteht die Arbeit also darin, einen Weg zu finden, wie Indigene Menschen in Städten die Verwaltung urbaner Landflächen übernehmen können. Das würde ein „Planthroposcene“ schaffen: Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, die wissen, wie man sich mit Pflanzen verschwört – auch in den Mittelpunkt der Entscheidungsfindung. Ihre Führung könnte uns alle lehren, dass es bei der Heilung von Land auch um die Heilung von Gemeinschaft geht und dass eine andere politische Ausrichtung unser aller Zukunft verändern könnte.
Der Text des ursprünglichen Audio-Interviews wurde nachbearbeitet.
Natasha Myers ist Professorin für Anthropologie an der York University in Toronto und Direktorin des Plant Studies Collaboratory. Ganz im Zeichen des „Planthroposcene“ widmen sich ihre aktuellen Forschungsprojekte der pflanzlichen Sinneswahrnehmung sowie der politischen Dimension von Gärten und der anhaltenden kolonialen Gewalt der Renaturierungsökologie.
Zheng Bo ist ein Künstler und Theoretiker, der derzeit auf Lantau Island in Hongkong lebt und arbeitet. Als In House: Artist in Residence im Gropius Bau untersuchte er Möglichkeiten zur Gleichstellung der Arten auf diesem Planeten. Während seiner Residency konnte Zheng seine Recherche im Austausch mit Wissenschaftler*innen und im Rahmen von öffentlichen Vorträgen und Workshops vertiefen.
Übersetzung: Katerine Niedinger