Text | Gespräch | Gropius Bau 2023
Rewriting History as a Chorus
Maaza Mengiste und Natasha Ginwala im Gespräch
Der folgende Gesprächsauszug zwischen der Autorin und Fotografin Maaza Mengiste und Natasha Ginwala, assoziierte Kuratorin at Large am Gropius Bau, beleuchtet die sensorische Prägung von Zeit und Gedächtnis, die dem Roman wie auch in Landschaften der Geschichtschreibung eingraviert sind. Die Veranstaltung fand als Teil des von Magnus Elias Rosengarten kuratierten Diskursprogramms Breathe statt. Ihr Nachhall entfaltete sich in der Ausstellung YOYI! Care, Repair, Heal im Gropius Bau und untersuchte die Einflussnahme verschiedener Machtverhältnisse auf die Fähigkeit, zu atmen.
Natasha Ginwala: Der Titel der Veranstaltung, in der unser Gespräch stattfindet, lautet There Is No Poetry in This Place. Im Augenblick ist „this place“, dieser Ort, für dich Berlin. In der Vergangenheit waren es Italien, Äthiopien und die Verstrickungen der beiden Orte. Im Guernica Magazin erschien ein Artikel, in dem du über deine Reise nach Kuba und deine Annäherung an die revolutionäre Geschichte aus der Perspektive der Außenseiterin schreibst. Dabei fasziniert mich besonders die Rolle der Poesie als Möglichkeit, aus Erinnerungsströmen zu schöpfen – Erinnerungsströme, die sowohl zur Familie als auch zu Fremden gehören. Das ist spannend, gerade da es Breyten Breytenbach war, der deine Mentorenschaft übernahm. Ich würde sehr gerne mehr dazu hören.
Maaza Mengiste: Mitten im Schreibprozess für mein erstes Buch, Unter den Augen des Löwen (2010) flog ich nach Havanna, Kuba. Der Grund war meine Unsicherheit, akkurat beschreiben zu können, was es heißt, in einer kommunistischen Diktatur zu leben. Einer der eindrücklichsten Momente war, als ich nachmittags in einem Café saß, ein Mann an meinen Tisch kam und mich fragte, ob ich aus Äthiopien käme. Er erzählte von seinem Vater, einem Soldaten, den Fidel Castro in den 1970er Jahren nach Äthiopien geschickt hat. (1) Sein Vater hätte in drei verschiedenen Kriegen in Afrika gekämpft: In Mozambique, in Angola und schließlich in Äthiopien. „Drei Kriege – und wissen Sie, was mein Vater dafür bekam, als er zurückkehrte? Einen Schwarzweißfernseher“, sagte der Mann. In seiner Aussage lag so viel Bitterkeit, so viel Schmerz. Ich konnte die vom Krieg gezeichneten Generationen vor mir sehen. Schließlich sagte der Mann: „Unser Blut ist in eurer Erde. Wir sind für immer verbunden. Du bist meine Familie.“ Das habe ich nie vergessen. Die Art und Weise, wie kleine Worte und kurze Momente nationale Geschichte aufleuchten lassen, ist für mich das Wesen der Poesie.
Inspiriert hat mich der südafrikanische Dichter und mein damaliger Professor Breyten Breytenbach, mit dem ich lange Gespräche führte. Breyten saß für seinen Einsatz gegen die Apartheid in Südafrika im Gefängnis und war sogar zum Tode verurteilt. Wir haben viel über Geschichte gesprochen, über das Aufschreiben von Geschichte und die Rolle der Fiktion. Ich stand noch ziemlich am Anfang meines schriftstellerischen Werdegangs und erzählte ihm von meinen Zweifeln, über Revolution und Krieg zu schreiben. Er [der Krieg] war eine nationale Tragödie. Eine Katastrophe. Wie könnte ich etwas fiktionalisieren, das ein Recht darauf hat, wahrheitsgetreu zu bleiben? Wie sollte es mir gelingen, die Toten zu ehren, während ich kein historisches oder politikwissenschaftliches, sondern ausgerechnet ein fiktionales Buch schrieb? Was Breyten mir sagte, werde ich nie vergessen: „Fiktion ist der Weg und du bist diejenige, die ihn beschreiben sollte. Fiktion vermag Wahrheiten zu erzählen, an denen die Geschichte scheitert.“ Fiktion vermittelt uns die Wahrnehmung von Individuen und kann Geschichten erfahrbar machen, die wir anderweitig niemals hören könnten.
Ginwala: Deine Begegnung mit dem Mann in Kuba illustriert, wie asynchrone Zeitlichkeiten Generationen überspringen können. Ähnliches erfahren wir in der Wirkung der Akustik und klanglichen Präsenz in deinem zweiten Roman, Der Schattenkönig (2019). Mir kommt eine konkrete Passage aus dem Roman in den Sinn: „Schon formte sich in den Kehlen der Frauen der letzte Schrei der Schlacht“ – und auch die Rolle von Haile Selassies (2) Grammophone und sein Beharren auf das Zuhören als Form des Vergessens.
Mengiste: Ich wollte dieses Buch gleich einer musikalischen Komposition schreiben. Dabei hat mich eine zentrale Tradition aus Ostafrika inspiriert: Die Weitergabe von Erinnerungen über Lieder. In Äthiopien zum Beispiel singen die Azmari darüber, was in den verschiedenen Dörfern passiert und über konkrete Momente in Kämpfen und Kriegen. Homer macht etwas Ähnliches in der Ilias. Die Griech*innen haben das aber nicht erfunden. Es ist seit Jahrtausenden Bestandteil von verschiedenen Kulturen in der ganzen Welt – in Äthiopien etwa und über Afrika hinweg. Mit dem Rhythmus der Musik wollte ich arbeiten und Wege finden, den Roman wie mit verschiedenen Stimmen zum Klingen zu bringen, wie ein ausgedehntes Lied – wobei jede dieser Stimmen etwas anderes tut. Eine Funktion der Struktur aus verschiedenen Stimmen war, unterschiedliche Perspektiven von Historizität im Buch stattfinden zu lassen. Ich beobachte oft ein lineares Verständnis von Geschichte: Erst ist A passiert, danach B und schließlich C. Das ist allerdings nicht korrekt. A ist geschehen. B, C und D sind gleichzeitig passiert, abhängig von der Sprechposition und ihrem Standpunkt. Geschichte ist keine gerade Linie. Sie ist ein Prisma, eine Kette verschiedener Stimmen und Narrative. Gewöhnlich gibt es ein offizielles Narrativ. Aber die Version der Geschichte, auf die sich geeinigt wurde, ist niemals vollständig. Denn sie lässt bestimmte Stimmen stets aus. Sie wird immer die Menschen außen vor lassen, deren Geschichte nicht als erinnerungswürdig gilt und nicht gehört wird. Ich wollte einen Roman erschaffen, der diese anderen Stimmen sprechen lässt, selbst wenn sie einander widersprechen. Also zog ich in Erwägung, mich an Musik zu orientieren und mein Schreiben für einen Chor aus verschiedenen Stimmen zu öffnen.
Ginwala: Selbstverständlich sind Teile deines Romans während dem Schreiben entstanden. Die Verstrickungen aus Mythos und Fakt, insbesondere im Kriegstempo, der prismatische Wulst der Geschichte, Momente revolutionären Gährens, das wir in so vielen Teilen der Welt gerade sowohl konsekutiv als auch simultan beobachten können: All das wird in deinem Schreiben abrufbar, zugänglich – über einen Modus, in dem auch die Fotografie ein Spektrum an Bedeutungen ausfüllt. Stellenweise wirken die Fotografien als eindringliches, fast spukendes Andenken. Manchmal fungieren sie auch als Refrain, der die kontinuerliche und nicht-lineare Virulenz imperialer Gewalt an die Oberfläche spült.
Mengiste: Fotografien waren einer der ersten Zugänge, über die ich die realen Katastrophen des Kriegs und ganz konkret des Kriegs von 1935 (3), zu verstehen begann. Benito Mussolini hatte das Ziel, ein Narrativ von Ostafrika zu erschaffen, das die Gewalt rechtfertigte, die er für diesen Krieg antizipierte. Vor der Invasion schickte er Fotojournalist*innen in das Land, um eine Erzählung von Afrikaner*innen als durchgehend „primitiv, barbarisch, unzivilisiert, dumm, schwach, feige“ zu erschaffen. So sollte die italienische Öffentlichkeit glauben gemacht werden, dass Ostafrikaner*innen, dass Äthiopier*innen wirklich auf die Zivilisierung durch Italiener*innen angewiesen wären und die Invasion eigentlich ein Akt des Wohlwollens und der Güte sei. Nach wie vor kann ich einige der Fotografien nicht ansehen. Mit Hilfe von Flugblättern wurden Männer aus den armen Dörfern im Süden des Landes für das italienische Militär rekrutiert. Die meisten von ihnen waren unausgebildete junge Männer, die, abgesehen von ein paar Gängen zum Markt, noch nie von Zuhause fort waren. Diese zutiefst armen Dörfer hatten wesentlich mehr mit Teilen Äthiopiens gemein als mit Rom. Den Männern wurde erzählt, dass der Krieg schnell und einfach sein würde. Doch der Krieg war brutal. Soldaten, die sich eine Kamera leisten konnten, nahmen sie mit und manche der Fotografien wurden schließlich Postkarten. Diejenigen, die sich keine Kameras leisten konnten, tauschten nicht selten eine Zigarette gegen ein Foto oder eine Postkarte.
Ginwala: Viel lässt sich schöpfen aus deiner Beziehung zum Sehen und deinen „looking relations“ (Blickbeziehungen), um es mit den Worten der Autorin und Aktivistin bell hooks zu beschreiben. Deine Beziehung zur Linse interessiert mich sehr: Was macht den Rhythmus dieser Beziehung aus?
Mengiste: Auf einer Reise nach Äthiopien nahm ich vor vielen Jahren die Kamera in die Hand, um meinen Großvater zu fotografieren. Er war sehr krank und ich wollte eine Erinnerung an ihn. Ich unterbrach meine fotografische Arbeit für mehrere Jahre, auch weil meine Ausrüstung gestohlen worden war. Etwa zehn Jahre später, in der Entstehungsphase des Schattenkönig entschied ich mich für den Kauf einer Kamera wie Ettore (4) sie in den 1930er Jahren benutzt hätte. Auf diese Weise konnte ich langsam erfassen, wie es war, damals zu fotografieren: das dazugehörige Tempo, den Rhythmus. Die Hälfte der Zeit über gelang es mir nicht, die Kamera richtig zu laden. Das zwang mich zur Entschleunigung, zur Geduld. Ich war gezwungen, über das, was ich innerhalb des Rahmens sah, nachzudenken – über Licht, über Schatten, über alles, was nötig ist, um ein Bild zu machen. Seitdem fotografiere ich analog in Schwarzweiß. Es ist ein Weg, aus den Worten auszutreten und mich dennoch einer Geschichte innerhalb eines Rahmens zuzuwenden. Der Verzicht auf Farben zwingt mich, die Linien, die Gestalten und die Formen anzuschauen. Und zu betrachten, auf welche Weise diese Linien und Formen, das Licht und die Dunkelheit in der Lage sind, eine komplett andere Geschichte zu erzählen als das, was eigentlich da ist. Ich habe die Angewohnheit, eine Menge Filmrollen zu verwenden und sie dann manchmal jahrelang nicht zu entwickeln. Das Gefühl ähnelt dem des Bücherschreibens, wo die Form zwar bekannt ist, man die Bruchstücke aber erst später zusammenfügen und sehen kann, woraus sie eigentlich bestehen. Somit bewegt es sich außerhalb der Zeit. Es ist kein Urlaubsfoto, sondern zeigt zwei Jahre später etwas komplett anderes.
Ginwala: Mich beeindruckt, was du über die gezielte Verzögerung in der Ankunft der Bilder gesagt hast und auch, wie sie mit der Zeitlichkeit des Schreibens verwoben ist. Als du über Linien und Formen sprachst, musste ich auch über die menschliche Präsenz hinaus denken. Aus deinen Romanen lässt sich deine Beziehung zur Landschaft herauslesen. Die Landschaften, die du bereist hast, manchmal aber auch solche, die du auf Fotografien gesehen hast. Und dennoch liegt solch eine Vitalität in der Weise, wie Flüsse und Felsblöcke und Winde durch Höhlen und Staubwüsten heulen. Ich bin neugierig, mehr über die Figuration der Landschaft in deinen Romanen zu hören.
Mengiste: Darüber habe ich bisher noch gar nicht nachgedacht. Ein Teil geht auf das zurück, was Raúl, der kubanische Mann, mir in dem Café in Havanna gesagt hat: Im Boden ist so viel Geschichte enthalten. Meine Familie hält mich manchmal für verrückt, wenn ich in Teilen von Addis Ababa bin, von denen ich weiß, dass dort etwas passiert sein muss und nichts anderes tun möchte, als für eine Minute dort auf dem Boden zu knien. Ihn anzufassen, weil es sich anfühlt, als könnte ich etwas oder sogar die Menschen darunter berühren. Wenn Menschen mich fragen, wo ich herkomme, antworte ich immer: „Wo ich her bin, ist da, wo die Knochen meiner Familie sind. Das ist, wo ich bin.“ Der Boden ist gewissermaßen lebendig. Er spricht. Wir spüren, wenn ein Ort uns bewegt. Wir erinnern etwas oder merken, dass jemand anderes hier gewesen ist. Das ist etwas, das jede Art von Geografie übersteigt. Es ist nicht die Erde selbst, aber es existiert. Ich wollte, dass die Landschaft in meinem Buch sich gemeinsam mit den Geschichten und Historizitäten der Männer und Frauen aus dem Boden erhebt, lebendig wird. Auf einer meiner letzten Reisen nach Äthiopien bevor ich mein Buch an den Verlag schicken musste, schaute ich mir eine der Gegenden an, wo Kämpfe stattgefunden hatten. Ich fuhr zu ein paar der Dörfer und habe auch mit manchen Menschen gesprochen, die dort wohnten. Mindestens zwei Mal haben sie mir von den Höhlen erzählt, die unberührt blieben und immer noch die Knochen der Menschen enthielten, die dort gestorben sind. Die Dorfbewohner*innen haben sie in ihrem Zustand belassen. Denn sie haben die Sakralität dessen, was dort ist, verstanden und auch, dass der Boden immer noch spricht. Das ist etwas, das ich vermitteln wollte, ohne allzu offensichtlich zu werden: Dass die Erde wesentlich mehr in sich trägt als wir uns vorstellen.
Ginwala: Ich halte die Rolle weiblicher Revolutionär*innen in deinem Schreiben für sehr interessant – Frauen aus deiner matriliniearen Familie, die eine lebendige Ethik aus Widerstand, Kollision und Verlassenheit navigieren. Dabei kam mir der Anfang des Gedichts Equality von Maya Angelou in den Sinn.
Mengiste: Als ich das Buch geschrieben habe, wusste ich zunächst nicht, dass Frauen in diesem Krieg gekämpft haben. Ich dachte, dass ich die Geschichte erzählen würde, die ich so oft gehört habe: Die Geschichte über die Männer meiner Familie. Im Zuge meiner Recherche stieß ich auf eine Fotografie, die eine uniformierte Frau neben einem Pferd stehend zeigte. Das war einer der ersten Hinweise für mich, dass Frauen in diesem Krieg gekämpft haben. Ich trat einen Schritt zurück und habe noch einmal meine alten Rechercheinhalte durchgesehen. Dabei fand ich einen Artikel aus der New York Times vom November 1935. Er war über eine Generalin, die ein Gewehr in die Hand nahm und die verbliebene Armee ihres Mannes in die Schlacht geführt hat. (Ich glaube, ihr Mann war erschossen worden.) Als ich den Schattenkönig schrieb, ging ich davon aus, dass über das ganze Land verteilt etwa tausend Soldatinnen gekämpft hätten. Vor Kurzem hat mir allerdings ein Wissenschaftler gesagt, dass es mehrere Tausende gewesen seien. Nicht einmal meine Vorstellungskraft konnte ihnen in ihrer Anzahl gerecht werden. Schon immer waren Frauen Teil von Befreiungsbewegungen: in antikolonialen Bewegungen, in Revolutionen, in Kriegen. Und doch werden sie immer wieder aus der Geschichte herausgeschrieben. Sie werden als alternativen, nie aber als zentraler Teil der Geschichte an den Rand verdrängt. Historien werden nicht gleichberechtigt behandelt. Jedes Mal, wenn eine Frau aus der Dunkelheit auftaucht, denken wir, dass sie die erste und einzige war. Dabei gab es so viele.
Ginwala: Im Rahmen die Ausstellung YOYI! Care, Repair, Heal im Gropius Bau haben wir mit verschiedenen Künstler*innen zusammengearbeitet, die sich individuell oder kollektiv Praktiken des Heilens verschrieben haben. Gleichzeitig bedenken sie auch die Unmöglichkeit des Heilens in vielen Verhältnissen, insbesondere innerhalb vieler institutionalisierter Infrastrukturen der Pflege. Du hast folgend darüber geschrieben, wie du eine Kartographie der Verschwundenen im Rahmen der Triennale der Photographie Hamburg betrachtet hast: „Bei der Beschäftigung mit den Verschwundenen kann sich die Trauer nie vollständig ausbilden, geschweige denn in Heilung einen Abschluss nehmen.“ Es wäre schön mehr über diesen Gedankengang zu erfahren.
Mengiste: Erinnerungen an die Revolution in Äthiopien und an Gespräche mit Freund*innen aus Argentinien, aus dem Iran, aus so vielen verschiedenen Ländern haben mich darüber nachdenken lassen, was passiert, wenn ein Körper verschwindet. Was geschieht, wenn jemand verschwunden wird? Warum tun Regime das? Worin besteht die Macht, einen Körper vom Ort seines Gedenkens, vom Ort der Trauer zu trennen? Ich glaube, Regime verstehen, dass einen Körper zu entwenden, bedeutet, einer Menschengruppe die Möglichkeit zur Heilung zu rauben. Es verunmöglicht die Bewegung von Trauer zur Wut und von der Wut zur Heilung und gegebenenfalls zurück zu rechtmäßiger Wut. Sie haben das Ziel, uns vergessen zu lassen und uns solche Angst zu machen, dass wir still bleiben und somit die verschwundene Person wirklich verschwindet. Wenn man einen Körper verschwinden lässt, überlässt man eine ganze Personengruppe dem Zustand aus Trauer und Angst, der über Generationen hinweg anhalten kann. Wem die Trauerarbeit verunmöglicht wird, der*dem bleibt kein anderes Vokabular. Nichts bleibt dann übrig. Ich habe viel darüber nachgedacht, was wir anstelle dessen tun könnten und wünschte, ich hätte eine Antwort. Aber ich bearbeite die Frage selbst noch. Das Vermögen darüber zu sprechen, ist vielleicht eine der größten Rebellionen, die wir der Ungerechtigkeit entgegensetzen können. Sprechen ist oft das Schwierigste. Den Leerraum mit einer Stimme auszufüllen, sie “Ich erinnere mich und das ist, wer hier war” sagen zu lassen, wird zum Akt des Widerstands gegen das (Ver-)Schweigen. Ich glaube, dass mit dem Sprechen zu beginnen alles ist, was zu tun ist. Das ist das Werkzeug, das uns zur Verfügung steht. Vor einer Weile bat ich ein Familienmitglied, von meinen drei Onkeln zu erzählen, die verschwunden gemacht wurden. Statt zu sprechen, stand sie auf und hat ein Lied gesungen. Ich habe verstanden, dass ich einfach zuhören musste. Vielleicht kann ich sie später, wenn sie sich stark genug fühlt, etwas über meinen Onkel fragen. Die Antworten kommen manchmal auf verschiedensten und überraschendsten Wegen zu uns.
Maaza Mengistes Roman Der Schattenkönig (The Shadowking) wurde von der New York Times, NPR, Time, Elle und anderen Publikationen als eines der besten Bücher 2019 ausgezeichnet. Ihr Debüt Unter den Augen des Löwen (Beneath the Lion’s Gaze) war auf der Liste der zehn besten afrikanischen zeitgenössischen Büchern des Guardian. Maaza Mengiste wurde mit dem American Academy of Arts and Letters Award in Literature ausgezeichnet und erhielt Stipendien u. a. von der Guggenheim Foundation, dem National Endowment for the Arts, Creative Capital, dem DAAD, dem Cullman Center for Scholars and Writers und dem Fulbright Scholar Program.
Natasha Ginwala hat die Ausstellung YOYI! Care, Repair, Heal ko-kuratiert und ist Assoziierte Kuratorin at Large im Gropius Bau. Sie kuratierte Überblicksausstellungen zu Bani Abidi, Akinbode Akinbiyi und Zanele Muholi sowie das mehrteilige Ausstellungs- und Forschungsprojekt Indigo Waves and Other Stories: Re-Navigating the Afrasian Sea and Notions of Diaspora (mit Bonaventure Soh Bejeng Ndikung and Michelangelo Corsaro). Als Co-Leitung der Gwangju Biennale 2021 mit Defne Ayas stellte sie eine aktive Zunwendung zu matriarchalischen Ansätzen in den Fokus, sowie erweiterter Intelligenz zur Wiederherstellung des anzestralen Wissens und des Vermächtnisses von Widerstand.
Endnoten
1 Kuba unterstützte während des Kalten Krieges Unabhängigkeitskämpfe und neue Regierungen mit Militärinterventionen im Ausland
2 Herrscher Äthiopiens von 1930 bis 1974 und der namensgebende König in Der Schattenkönig
3 Der Abessinienkrieg, ein bewaffneter Konflikt, der zur Unterwerfung Äthiopiens unter die italienische Herrschaft führte, fand zwischen 1935 und 1936 statt).
4 Figur eines italienischen Fotografens in Der Schattenkönig