Text | Essay | Gropius Bau 2022

Alles wird gefressen, auf die eine oder andere Weise oder: Sich in das verwandeln, was fehlt

von Serafine1369

SERAFINE1369, 2020 © Jamila Johnson-Small

Ich glaube, 2019 hatte ich einen Zusammenbruch. Wahrscheinlich hatten den viele. Ich fühlte mich wie ein Geist und ein Medium gleichzeitig – verschwommene Grenzen, undichte Ränder, blutende Schwingungen. Um mich selbst zu kanalisieren, sammelte ich die Beweise, die Lebenszeichen, und deutete mich selbst zurück, als Zauberformel, um durch diese Fragmente wieder Präsenz heraufzubeschwören. Diese Traumdeutungen sind Teil der Praxis des Kartenerstellens und des Wegfindens die zu dem intimen Prozess gehören, in dem ich mich selbst zurückbeschwöre und zur Hilfe rufe. Ich verwandle mich in das, was fehlt.

Verfügbar seit 17. März 2022

Lesezeit ca. 5 Min

Deutsch und Englisch

Wortmarke Gropius Bau

Ich finde eine Blume in meinem Schrank, die auf den ersten Blick wie eine Orchidee aussieht. Sie ist in Plastik verpackt und vielleicht ein ungeöffnetes oder nie überreichtes Geschenk. Ich nehme sie heraus und es ist eine rote Kunstpflanze, die aufgepumpt oder eingestöpselt werden muss. Wenn wir denken, es sei etwas Besonderes und dann merken, das ist es nicht. Wer hat mir erzählt, dass Seltenes am besten ist? Oder ist Massenproduktion immer ein Zeichen von Zerstörung statt von Wachstum? Auch ich werde zu Plastik, verdaue langsam, baue langsam ab – es wird Lebzeiten dauern. Sind wir deshalb von Pilzen und Myzelnetzwerken so besessen, weil die Zersetzung das ist, was diese Zeit verlangt? Wessen Lebzeiten? Was ist der Maßstab?

Ich hielt etwas Zurückgelassenes für ein Geschenk, etwas Verlassenes für ein Zeichen, diese ständige unbewusste Suche nach Sinn und Richtung ist auch eine Suche nach Gesellschaft, das heißt Leben. Ich mochte Orchideen noch nie besonders und Blumen erschienen mir frivoler und kurzlebiger als Blätter ... Ich habe immer nach Dingen gesucht, die Bestand haben, aber außer Plastik und Systemen der Unterdrückung weiß ich nicht, was es da gibt, und diese Beschäftigung mit der Zersetzung lehrt uns vielleicht, wie man loslässt und wie man in säkularen Gesellschaften stirbt. Alles wird gefressen, auf die eine oder andere Weise. Das Fehlende wird durch die Aussage heraufbeschworen, die Abwesenheit fragt nach einem Namen wie die Stimmen von Geistern. Manchmal denke ich, dass das Leben meines Körpers, seine Schwingung, ein Ruf ist, ein ständiger Schrei.

Mir fällt gerade ein, dass ich meine Fahrradkette reinigen muss. Ich wünschte, es gäbe jemand anderen, der sich um solche Dinge kümmert, oder einfach mehr Zeit. Ich gehe auf die Toilette und da sitzen zwei sehr kleine Männer in der Badewanne, etwa 50 cm groß. Ich frage sie, warum sie nicht irgendwo anders schlafen gegangen seien und sage, dass das Wohnzimmer frei sei. Sie sagen, es ginge ihnen gut und sie könnten in der Badewanne stehend ausruhen (ich bin mir nicht sicher, ob es sich um Menschen oder empfindungsfähige Spielzeuge handelt). Ich hatte früher viele Träume mit empfindungsfähigen Spielzeugen – was hat es bloß damit auf sich, wenn Dinge nachts „lebendig“ werden?

Der Traumraum, das veränderte Licht, die Schatten, die veränderte Perspektive ... Es ist so abgefahren, dass wir jeden Tag dorthin gehen. Ist Vertikalität jemals erholsam? Die Nacht ist horizontal und der Tag vertikal, die Nacht ist Ruhe und der Tag Bewegung ... Moment mal, ist Ruhe das Gegenteil von Bewegung, ist Ruhe gleich Bewegungslosigkeit? Ich denke über das Aufladen nach. In welchen Körperhaltungen hast du das Gefühl, dich aufzuladen? Bei mir ist es: Mit der Wirbelsäule nach unten, sich in Beziehung zum Boden schlängelnd, sich dekomprimierend, die Kurven und Kanten neu formend ... die gerade gerückt wurden durch den Tag und die Angst vor all den Begegnungen, und wenn ich aufhören würde, diese als „Mikro-Aggressionen“ zu bezeichnen, wäre ich nicht in der Lage, mich weiter zu bewegen. Das ist der Punkt, denke ich, oder ein Punkt – muss ich mich weiterbewegen? Und warum? Vielleicht könnte ich in diesen Momenten einfach stehen bleiben und meinen Körper bewohnen, mich wieder auftanken, den Fluss des Qi und des Blutes wiederherstellen, seine Wärme spüren und nicht dieses eisige Zeug, das Körper sofort überflutet, genau wie extrem heiße Dinge so heiß sind, dass sie kalt sind, d.h. jenseits der Unterscheidbarkeit. Vielleicht wird durch die Verwandlung zu Stein eine andere Zeitachse heraufbeschworen, ein anderes System von Bewegung und Prägung. Dieses Fleisch ist weich und zart. Vor meinem geistigen Auge ist es rosa, aber ich weiß, dass das internalisierter Bullshit ist, und ich fülle den imaginären Fleischraum mit Farbe, mit Burgunderrot, mit Blautönen, mit lilafarbenen blutergussartigen Flecken, Variationen von Rot und Weiß für die Faszien, knorpelige Säcke, die mich zusammenhalten, und ich sage danke und lasse das Bild los, während ich ein inneres Kribbeln spüre.

Im Haus sind meine Teddys überall auf den Sofas verteilt und ich ärgere mich, dass sie angefasst werden. Die tropische Astrologie sagt mir, dass ich Jungfrau in meinem zweiten Haus habe – diese Beziehungen sind nicht zwanglos. Meine Füße sind nass, meine Hausschuhe matschig und feucht, als hätte ich sie im Schnee getragen – so verunsichert bin ich, wenn ich die Kontrolle über meine Dinge verliere, über Dinge, die ich mit Energie versehe und denen ich die Vollmacht gebe, sich ohne meine vorherige Zustimmung anfassen zu lassen. Ich kann diesen Gefühlen sagen, dass sie Überreaktionen sind, und alles, was passiert, ist, dass sie abrutschen und zu einer Pfütze unter meinen Füßen werden, zu einem Gefühl von psychosomatischer Feuchtigkeit. Die Traditionelle Chinesische Medizin geht davon aus, dass das innere Gleichgewicht verloren geht, wenn der Körper nicht in der Lage ist, mit Veränderungen in der Umwelt umzugehen.

Ich hasste es, da zu sein und zu versuchen, das Unvermeidliche zu vermeiden. Und jetzt frage ich mich, was ich mir dabei gedacht habe, bei diesem „Versuchen“? Was sind die Strategien, um dem Schicksal zu entgehen? Ich glaube, das könnte das Ziel meiner Generation sein ... vielleicht geht es darum, das Tempo der Zersetzung zu beeinflussen oder darum, was wo und mit wem abgebaut wird ...

Ich habe dieses Fläschchen oder Glas mit so etwas wie Goldglitter und es schwappt ständig über. Ich weiß, wenn ich Dinge fallen lasse, liegt das an einer psychischen Verbindungsunterbrechung. Das Jahr war voll von solchen Unterbrechungen, von Spaltungen. Ich mag Glitter noch nicht einmal, aber er ist campy und außer Kontrolle und er funkelt und ich schätze, dass dies die Teile von mir waren, die ich nicht im Griff hatte, verschüttet, angezogen und abgestoßen ... Der Glitter ist beinahe magnetisch oder so, die Partikel scheinen flüssig zu sein, wenn sie sich bewegen, (fast) lebendig. Ist das sowas wie Quecksilber? Ich bücke mich, um ein Häufchen davon aufzusammeln und zurück in mein Fläschchen zu bekommen. Vielleicht will ich manchmal deshalb nicht teilen, weil ich nicht genau weiß, wann ich zu viel verschenke, und einfach nein zu sagen, wäre doch klarer, nicht? Dieses Fläschchen mit verschüttetem Glitter fühlt sich an wie mein dummes Herz.

Irgendetwas stimmt nicht. Ich habe einen Stock zum Kämpfen und das Gefühl, kraftlos zu sein. Später schwellen meine Finger an und werden klumpig. Herzmeridian und Perikardmeridian. Herz und Herzbeschützer. In diesem Fall, Fläschchen und Stab. Aber geht es beim Schutz darum, etwas fernzuhalten oder kleinzuhalten oder abzuwehren? Ich denke, es gibt Zeiten, in denen es beim Schutz darum geht, sich zu ergeben – die Zeitachse zu vergrößern. Und in denen es beim Kämpfen auch um Kapitulation geht. Und zwar in einem schnelleren Rhythmus, mit dem man am Umsturz arbeiten kann. Ich denke dabei an Massenselbstmorde von Sklav*innen. Mein Körper kribbelt, weil es mich fröstelt, das zu sagen – wer will das hören, wer würde soweit gehen wollen? Und weshalb. Das ist keine Frage und der Punkt enthält die Antwort.

Ich wache auf und höre meine eigenen Schreie im Traum. Ich habe das Hören, das Lauschen im Traum geübt und bin beeindruckt und verzweifelt zugleich. Die innere Resonanz ist laut und hallt bis in den Tag hinein. Ich befinde mich in einem fremden Land, in dem alles aus Metall ist und ich kann mich nicht erinnern, dass es ein Außen gibt. Metall steht für Stärke, aber zu viel Metall bedeutet Feststecken, Starrheit. Ich bin eindeutig gefangen. Und die Falle ist einfach das, was ist, die Falle ist die Tatsache des Seins. Lebendige Aufforderung, etwas loszulassen, damit sich das virtuelle Imaginäre verschieben kann. Plötzlich, als ich das Geräusch meiner Ausatmung höre, merke ich, dass ich den Atem angehalten habe, der Brustkorb wird weicher und senkt sich. Ich wundere mich oft über dieses „Loslassen“. Bei jedem Vollmond rufen die Internet-Astrologen und Astro-Anhänger zum Loslassen auf und ich frage mich, wo dieser Mechanismus liegt, welche Worte, welche Öffnung und welche Muskelentspannung ich nutzen muss, um die Dämonen herauszulassen? Und wie sehen die Dämonen überhaupt aus? Mein ganzer Verstand ist ein Komplex aus toxischen Gedanken, aber wer spiegelt hier wen/was? Ich hatte gerade die Vision, dass mein Kopf voller kleiner Fledermäuse ist, die bei Vollmond aus meinem Mund fliegen. Sollte ich mir das während der Meditation in der nächsten Mondphase vorstellen? „Fliegt, meine Hübschen, fliegt.“ Die grüne Hexe aus Der Zauberer von Oz, die sich in Wasser verwandelt, hat mir Angst gemacht. Unheilige Verwandlung von fest zu flüssig und Luft – was ist wirklich hier, und warum bedeutet hier sein nichts in Bezug auf Beständigkeit? Wo ist ein Anker? „Alles, was fest ist, schmilzt zu Luft“, soll Karl Marx gesagt haben. Auch hier gibt es unterschiedliche Zeitmaßstäbe, oder? Wenn ich neben einem Stein sitze, ist das in Ordnung. Mach ihn zu einem Magmastein. Mach ihn zu einem Felsen, der das Ende des sichtbaren Landes an einem Strand darstellt. Seine Kanten, seine Beschaffenheit, geformt von Hitze und Druck, Zeit und Gegenwart, Wasser, Bewegung ...

Ich glaube, am Ende zerschlage ich eine Flasche und ramme sie ihm in den Kopf. Ich seufze und erinnere mich an die Angst und die Wut darüber, dass ich mich so heftig wehren musste. Ich erinnere mich daran, wie schwer es war, diese Spannung, diese Kraft, in meinen Armen zu halten. Ich glaube, er steht auf und sein Gesicht formt sich neu, füllt sich wieder aus und heilt sich. Habe ich überhaupt keine Wirkung? Bin ich einfach unwirksam? Ein Geist in einem virtuellen Krieg, der immer müder wird, während sich um mich herum nichts ändert? Er hat einen langen Mantel und eine blasse, wächserne Haut und eine lange Nase. Ich bin mir nicht sicher, dass ich ihn nicht mag, obwohl er eine Bedrohung darstellt. Ist das das Stockholm-Syndrom? Oder die Tatsache, dass mögen oder nicht mögen vielleicht nicht so wichtig ist, wenn man angegriffen wird? Oder ist er vielleicht gar keine Bedrohung und ich habe nur Angst. (Habe ich mich im Traum selbst in die Irre geführt?)

Dann sehe ich einen anderen Mann, der Feuer gefangen hat, weil er etwas von mir berührt hat. Er benutzt eine Schere, um das letzte brennende Stück von sich abzuschneiden, und er entfernt auch ein Stück verkohltes Fleisch über dem Schlüsselbein. Ich glaube, ich höre, wie die Haut abgetrennt wird. Ich verwunde Körper. Wieder ist diese Person relativ unbeeindruckt. Vielleicht hat sie auch besondere Heilungsfähigkeiten.

Ich bin zu einer Sexarbeiterin gegangen, um Sex zu haben, aber es funktioniert einfach nicht; ich frage mich verwirrt, wie ich bekomme, was ich will, und bekomme deshalb gar nichts. Gibt es einen Unterschied zwischen der Bitte um etwas Bestimmtes und der Frage, ob jemand weiß, wie ich gerne ficke/gefickt werde? Ist es derselbe Kanal, der für beides offen sein muss, oder geht es bei dem einen um Sprache und bei dem anderen um andere Arten von intimer Kommunikation auf einer gewissen Ebene von Vertrauen und Offenheit? Was hat Sprache mit Gefühl zu tun? Manchmal weiß ich einfach nicht, was ich will, und dann bin ich vielleicht in dem Moment davor. In dem Moment vor der Klarheit einer sprachlichen Äußerung. Auf eine gute oder schlechte Art und Weise. Nicht, dass ich die Verwendung von binären und reduktiven Begriffen wie „gut“ und „schlecht“ gutheißen will oder so.

Ich bin im Gefängnis. Ich denke, wir haben jetzt verstanden, dass das „Gefängnis“ ich selbst bin, und ich bin auch ein Zeichen in Bezug auf die Umgebung. Ich tue mein Bestes, um mich über die Regeln hinwegzusetzen und schöne Dinge wie ein bodenlanges schwarzes PVC-Kleid zu bekommen. Eines Tages trage ich eine orangefarbene Bundfaltenhose und PVC-Ballettschuhe. Ich flirte mit einer weiblichen Wärterin, die neu ist, und versuche, Zugang zu Dingen wie Schuhen und einer Behandlung für eine der Frauen zu bekommen, die wirklich schlechte Füße hat, denn sie trägt keine Schuhe und ihre Zehennägel kräuseln sich waagerecht und ihre Füße sind hart und empfindlich von Pilz und Schmutz. Es gibt ein Durcheinander, denn manchmal schlafe ich nicht im Gefängnis. Es ist eine Touristenattraktion oder neben einer Touristenattraktion ... Ich gehe raus und mische mich unter die Öffentlichkeit. Ich weiß nicht, wie meine Strafe lautet

SERAFINE1369 ist Künstler*in und Tänzer*in Jamila Johnson-Small. SERAFINE1369s Arbeit entfaltet sich über eine Vielzahl von Kontexten, Rollen, Kollaborationen und Medien und verschränkt Körper, Zeitlichkeiten, Träume und kollektive Geschichten in einem gemeinsamen Raum, der sich eindeutigen Lesarten entzieht.

Übersetzung: Christoph Jehlicka