Text | Interview | Gropius Bau 2022

„Wie spricht dieser Ort?“

Interview mit SERAFINE1369

Last Yearz Interesting Negro, Someone wise once told me that you should just give people what they want, 2018, Videostill © Jamila Johnson-Small
© Jamila Johnson-Small

Im Rahmen des In House: Artist in Residence Programms (2021) im Gropius Bau setzt sich SERAFINE1369 als Künstler*in und Tänzer*in mit Intimität, Technologie, Entfremdung und Grenzen an den Schnittstellen von Performance, Tanz, Text und Choreografie auseinander. Im folgenden Gespräch gibt SERAFINE1369 Einblicke in die Arbeit mit ephemerem Material und erläutert, wie sich der Körper durch seine Porosität für das Orakelhafte öffnet und dabei unsere Beziehung zu uns selbst und zu anderen lenken und erweitern kann.Im Rahmen des In House: Artist in Residence Programms (2021) im Gropius Bau setzt sich SERAFINE1369 als Künstler*in und Tänzer*in mit Intimität, Technologie, Entfremdung und Grenzen an den Schnittstellen von Performance, Tanz, Text und Choreografie auseinander. Im folgenden Gespräch gibt SERAFINE1369 Einblicke in die Arbeit mit ephemerem Material und erläutert, wie sich der Körper durch seine Porosität für das Orakelhafte öffnet und dabei unsere Beziehung zu uns selbst und zu anderen lenken und erweitern kann.

Verfügbar seit 16. März 2022

Lesezeit ca. 16 Min

Deutsch und Englisch

Wortmarke Gropius Bau
  • SERAFINE1369 © Jamila Johnson-Small, Foto: Ayka Lux

Sonja Borstner: In einem   Gespräch über Performance mit Fernanda Muñoz-Newsome beschrieben Sie Ihre Arbeiten als „ortsresponsiv“. Im November 2021 werden Sie die Duo- Performance When we speak I feel myself, Opening im Gropius Bau präsentieren, die in Zusammenarbeit mit Muñoz-Newsome entstanden ist. Wie wird diese Zusammenarbeit auf die spezifische Architektur des Gropius Bau und Ihre Residency mit dem Titel visions Bezug nehmen?

SERAFINE1369: Ich bewege mich bei den Vorbereitungen zu der Arbeit in einem Spannungsfeld. Ich frage mich einerseits: „Was ist bereits da? Was bringt dieser Raum mit? Wie spricht dieser Raum – zu mir, zu anderen?“ Und ich überlege andererseits: „Was muss ich tun, um hier sein zu können, um sichtbar zu sein und gesehen zu werden?“

Der Gropius Bau ist nicht unbedingt für Performances gebaut. Damit meine ich, dass längeres Tanzen auf diesen Bodenbelägen belastend und möglicherweise schädlich für meine bzw. unsere Gelenke ist und die Akustik des Raums sich vermutlich nur für Stille und nicht für Gespräche oder verstärkten Klang eignet. Diese Frage nach der Reaktionsfähigkeit (engl. „responsiveness“) wird also zu der Frage, wie man sich auf etwas zubewegen kann, ohne sich selbst, seine Bedürfnisse und Interessen zu verlieren oder zu verleugnen. Wie die Arbeit – als Öffnung, als Ventil – dem Raum begegnen kann, ohne dass der Raum die Arbeit dominiert und völlig transformiert. Die Reaktion besteht auch darin, darauf zu achten, wie das, was ich mitbringe, im Raum Resonanz findet und mit dem Kontext in Dialog tritt (oder das eben nicht tut).

Letztes Jahr erzählte mir jemand, dass kein Zuhören ohne Konsequenzen bliebe, und ich denke, dass sich darin das Responsive ausdrückt: im Anspruch, sowohl dem Innen als auch (mit) dem Außen zuzuhören. Ich treffe nicht mit einer Idee ein, die ich dem Raum aufzwinge, sondern denke über den Raum nach, betrete ihn und finde heraus, was sich daraus ergibt – als „Visionen“, die aus der Architektur, dem Budget, den logistischen Zwängen, der Museumsinfrastruktur, dem Zeitrahmen, den Wünschen meines Körpers, und dem entstehen, was in meiner Fantasie ausgelöst oder evoziert wird.

Sonja Borstner: Wie hat der Lockdown und die Isolation Ihre Beziehung zum Raum als Performer*in verändert?

SERAFINE1369: Ich glaube, dass ich stärker in die Mikroebene hineingezoomt habe. Ich beschäftigte mich bereits mit Mikrobewegungen: den Auswirkungen einer Verschiebung im Raum auf alles andere, dem Vergehen von Zeit (oder der Präsenz von Zeit oder Zeitsituation/en). Diese Beschäftigung führte zu Überlegungen über Schwingungen als Quelle, als Licht, als Bewegung und als Klang. Aber ich habe auch über unsere Körper als Mechanismen nachgedacht, welche durch das Entstehen und Empfangen von Schwingungen geformt werden: als Einfluss- und Kommunikationssysteme subtiler und epischer Art, die alle Substanzen und Lebewesen auf dem Planeten gemeinsam haben. Ohne die ständige energetische Präsenz so vieler anderer konnte ich mehr fühlen. Ich fühlte mich selbst detaillierter und das hat meine Erfahrung des Seins im Raum und mein Verständnis von ihm verändert.

Sonja Borstner: Ihre Arbeiten – von Performance über Tanz bis zur Choreografie – verkörpern ein Art interdisziplinäres Hybrid an der Schnittstelle dieser Kategorien. Worin bestehen die Herausforderungen bei der Arbeit mit Medien, die oft als ephemer gelten?

SERAFINE1369: Das Ephemere ist für mich nicht weniger materiell. Es ist ein Irrtum, dass diese Dinge keinen physischen Ausdruck oder langfristige Auswirkungen haben. Das gehört zu den Herausforderungen bei der Arbeit mit unsichtbaren Medien, oder Dingen, die vermeintlich entstehen und wieder verschwinden. Sobald ich im Austausch mit Institutionen oder Kurator*innen eine E-Mail erhalte, die mit den Worten beginnt: „Könnten Sie sich vorstellen …“, beginne ich bereits, mich innerlich darauf einzustellen und zu überlegen, welche Vorschläge ich mir erlauben kann. Ich denke darüber nach, was möglich wäre, was ich machen könnte, wenn es Raum dafür gibt, und wie ich mich zu diesem Kontext in Bezug setzen möchte. Es ist eine minutiöse innere Umstellung oder Umorientierung in Richtung konkreter Projektideen. Ab diesem Moment beginnt für mich spürbar das Tätigsein, aber diese Arbeit wird nicht als Arbeit anerkannt. Dabei ist es ein unabdingbarer Teil meines Schaffensprozesses, denn ich schöpfe immer aus einer sich ständig erweiternden Sammlung von Praktiken oder Dingen. Das Performen ist eine energetische Arbeit, der sich das Selbst energetisch aussetzen muss. Um meine Arbeit präsentieren zu können, muss ich mich öffnen, und diese empfindsame Verfassung ist Teil der Arbeit – der Tätigkeit.

Eine andere Herausforderung bei der Präsentation der eigenen Arbeit ist es, dass sich vor Aufführungen die Unruhe anderer Leute in diesem empfänglichen Zustand energetisch auf mich übertragen kann. In solchen Momenten besteht meine Aufgabe jedoch darin, keinen Unterschied zwischen meinen und anderen Emotionen zu machen, sondern als Kanal zu fungieren und bewusst mit meinem energetischen Feld zu arbeiten, ohne sich abzugrenzen, verteidigen oder schützen zu wollen. Nach einer Performance in diesem Modus bin ich manchmal für einige Zeit sehr erschöpft. Das ist meiner Meinung nach nicht unbedingt schlecht, aber die Zeit nach dem Performen wird selten thematisiert oder kompensiert.

Ich habe auch das Gefühl, dass diese Herausforderung etwas ist, auf das ich versuche in unterschiedlicher Weise zu achten – sowohl in Bezug auf mein Verhalten in Gesprächen als auch auf die Unruhe und die energetischen Übertragungen, die vor und nach Performances vorkommen. Ich versuche mich auch an Diskussionen und Infrastrukturen möglichst zu beteiligen, um die Umsetzung professioneller Fürsorge zu unterstützen, die sich den körperlichen Auswirkungen ephemerer Praktiken annimmt, und um dafür eine Sprache zu finden. Das Navigieren von Begrenzungen und ihrer Politik umfasst das Ephemere, mit dem ich mich beschäftige.

Ich versuche zu verstehen, was es bedeutet, so viel Information in sich zu tragen und beschäftige mich intensiv mit unterschiedlichen Lesetechniken dieser Information. Tanz kann eine solche Technik des Hineinlesens sein, aber seine Sprache – oder Nichtsprache – ist nicht einfach in Verbalsprache übersetzbar.

— SERAFINE1369, 2021

  • SERAFINE1369, III (Something Flat, Something Cosmic, Something Endless), 2021. Im Auftrag der Liverpool Biennale © Jamila Johnson-Small, Foto: Katarzyna Perlak
    © Jamila Johnson-Small, Foto: Katarzyna Perlak

Sonja Borstner: In welcher Beziehungen stehen Sie mit Ihrem eigenen Körper und dem Publikum, wenn Sie sich, wie Sie sagten, in einem Zustand der „Öffnung“ während Ihrer Performances befinden?

SERAFINE1369: Ich arbeite daran, das Urteilsvermögen außer Kraft zu setzen: das Lesen physischer Codes und Zeichen durch meinen eigenen und andere Körper. Ich versuche, den Filter dieser Parameter – die uns im Alltag helfen uns zurechtzufinden, zu schützen, oder uns darauf hinweisen, wie wir uns bewegen sollen und wie wir uns verschiedenen Menschen nähern können – auszuschalten. Anstatt meinen Körper oder mich als einen Satz sozialer Codes oder als Bedeutungsträger*in oder Kommunikator*in codierter Gesten zu lesen, versuche ich, auf einer energetischen Ebene, an das Physische und Sensorische im Raum anzudocken. Mich interessiert, wie ich den Raum gestalten kann, damit sich die Anwesenden geborgen fühlen und gleichzeitig eine Verbindung zu ihren eigenen körperlichen Empfindungen und emotionalen Erfahrungen herstellen können: zu den Erinnerungen, Gedanken oder Gefühlen, die durch sie hindurch strömen.

Sonja Borstner: Körper können als Archive betrachtet werden, die Echos individuellen, kollektiven und historischen Wissens und Erlebens tragen. Sie erweitern diesen Gedanken, indem Sie den Körper als Orakel wahrnehmen und „orakelhafte Praktiken“ in Ihren Arbeiten nutzen. Können Sie erklären, wie sich dieses Konzept auf Ihre Arbeitsprozesse auswirkt?

SERAFINE1369: Körper werden jenseits unserer Kontrolle von der Gesamtheit unseres Erlebens beeinflusst – es passiert einfach. Unser Bewusstsein konstruiert eine persönlichere Realität, aber ich denke, dass der Körper alles aufnimmt. Ich versuche zu verstehen, was es bedeutet, so viel Information in sich zu tragen und beschäftige mich intensiv mit unterschiedlichen Lesetechniken dieser Information. Tanz kann eine solche Technik des Hineinlesens sein, aber seine Sprache – oder Nichtsprache – ist nicht einfach in Verbalsprache übersetzbar.

Wir sind von diesen unerschöpflichen Ressourcen umgeben, die uns so viel vermitteln können, aber gleichzeitig sind wir selbst diese Ressourcen, nicht wahr? Dieses innere Spannungsverhältnis also zwischen Nähe und Distanz, das ich selbst in mir trage, versuche ich als eine Art übersinnliche Technologie im Tanz anzuwenden. Durch orakelhafte Praktiken versuche ich den Raum sowohl vor meiner eigenen Kritik als auch vor äußeren Faktoren zu schützen. Es kommt vor, dass ich selbst bis zum Tag der Performance nicht weiß, was ich tun werde, wie ich einzelne Fragen der Arbeit löse oder warum eine bestimmte Geste oder ein Objekt wichtig ist. Es kommt vor, dass ich es erst nach der Performance herausfinde, aber ich gebe mir die Erlaubnis oder den Raum, nicht zu wissen, wie das Bekannte aussehen könnte.

Sonja Borstner: Die Umdeutung dessen, wie wir Zeit festlegen, messen oder uns vorstellen, scheint ein zentrales Thema Ihrer Beschäftigung und Praxis zu sein. Sie beschreiben, dass Ihre Arbeiten „im Fluss mit der Nichtlinearität von Zeit“ stehen. Könnten Sie erläutern, was Zeit für Sie bedeutet und welchen Einfluss dieses Verständnis auf Ihre Arbeit hat?

SERAFINE1369: Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, Zeit zu erfassen oder festzuhalten. Meine Arbeit ist von einem Bestreben geleitet, mit mehr als der mittleren Greenwich-Zeit zu sein, welche als singuläre Wahrheit, als einzige Messeinheit behauptet wird. Mich interessiert, was mit mir als Person, meinem Körper und dem sozialen Kontext geschieht, wenn ich Räume schaffe, in denen die Unordnung der Zeit als Realität nicht hinterfragt werden muss. Das knüpft an eine Ihrer ersten Fragen nach den Herausforderungen ephemerer Arbeit an, denn ephemere Begegnungen sind nicht vorhersehbar. Wenn es eine Stunde lang an einem bestimmten Tag in einer meiner Performances zu Begegnungen kommt, weiß ich nicht, wann oder wie diese Aufführung bei mir oder einer anderen Person ankommt, weil die Zeitachsen und Beziehungskonstellationen unterschiedlich sind. Uns selbst in Beziehung zu sehen oder zu beobachten, kann ein nützliches Instrument sein. Denn die koloniale Zeitrechnung – die mittleren Greenwich-Zeit, die Zeit der Uhr – ist durch den Sklav*innenhandel manifest und erfolgreich geworden und dieser Dialog und diese Bewegung – eine Bewegung des Kolonialismus und Imperialismus – werden über Kontinente hinweg ermöglicht.

Was bedeutet es für mich, in den zeitlichen Strukturen gefangen zu sein, die meinem Körper und den Körpern meiner Ahnen ihre Handlungsfähigkeit geraubt haben und bis heute rauben? Und was bedeutet es, eine Wahl zu haben, sofern es überhaupt eine Wahl gibt? Wann ist eine 24-Stunden-Struktur ein Behältnis und wann bedeutet diese Gewalt? Wie arbeitet jene Struktur gegen die Struktur meiner und anderer Körperzyklen, wenn sie nicht mit dem 24-Stunden-Tag übereinstimmen? Diese Fragen treiben mich um und gerade erforsche ich die Einheit einer Minute und wie unterschiedlich sie empfunden werden kann. Jede Minute kann sich wie eine Ewigkeit anfühlen, wie eine Sekunde, ungeheuer lang oder sofort um sein. Ich nutze diese Einheit, um mehr über meine körperliche und verkörperte Beziehung zu Zeit zu erfahren und mit dieser Technik ein Verhältnis zu Zeit herzustellen, anstatt von ihr beherrscht zu werden.

Ich nutze diese Einheit, um mehr über meine körperliche und verkörperte Beziehung zu Zeit zu erfahren und mit dieser Technik ein Verhältnis zu Zeit herzustellen, anstatt von ihr beherrscht zu werden.

— SERAFINE1369, 2021

Sonja Borstner: In einer Ihrer jüngsten Arbeiten, I I I (something flat, something cosmic, something endless) (2021), verwenden Sie die Einheit der Minute, um, wie Sie betonen, „die Erfindung der kolonialen Zeit und Macht sowie die Arten, wie wir uns in ihren festen, endlosen Maßeinheiten bewegen“, zu verhandeln. Wie ist das Umdeuten von Zeit innerhalb dieser Performance eingebettet?

SERAFINE1369: I I I (something flat, something cosmic, something endless) ist eine sechsstündige Performance. Gemeinsam mit dem Sounddesigner Josh Anio Grigg habe ich eine 24-Stunden-Sprechuhr aufgenommen, in der ich jede Minute ansage. Ich frage mich dabei: Welche kreativen Kräfte kann diese Struktur freisetzen? Kann sich bei mir durch die Beziehung zu jeder einzelnen Minute, ein Gefühl von „Zeitfreiheit“ einstellen? Wird diese Erfahrung einen Zwang auf uns alle ausüben oder wird sie uns ermöglichen, uns von den Zwängen der Zeit zu befreien? Es ist dieses Spannungsfeld zwischen Struktur und Chaos, vielleicht als Organisationsprinzip, das auch eine gleichzeitige Reizüberflutung darstellt. Das Navigieren auf diesem schmalen Grat zwischen Kontrolle und Hingabe und die Frage, wie wir selbstbestimmt mit Strukturen umgehen können, die uns festhalten oder einschränken, uns determinieren oder darüber entscheiden, wie wir mit unseren Körpern in Beziehungen stehen, interessiert mich.

Wir befinden uns außerdem an einem Wendepunkt, an dem sich zeigen wird, ob die Uhrzeit mit der Himmelszeit, der Sonnenzeit, synchron bleiben wird oder nicht, da die Planeten in Bewegung sind und sich deren Konstellationen immer mehr verändern. Ich frage mich, was es zur Folge haben wird, wenn die Zeit bis dahin vollständig dem Kapitalismus gehört. Ich frage mich auch, ob etwas mit uns geschieht, wenn wir uns von den Himmelskörpern abkoppeln und nur noch innerhalb dieser historischen oder imaginierten Beziehung zur Umwelt existieren.

  • SERAFINE1369, III (Something Flat, Something Cosmic, Something Endless), 2021. Im Auftrag der Liverpool Biennale © Jamila Johnson-Small, Foto: Katarzyna Perlak
    © Jamila Johnson-Small, Foto: Katarzyna Perlak

Sonja Borstner: Seit dem Beginn der Pandemie haben viele Menschen intensive und außergewöhnliche Träume. Es scheint als würden Sie in vielen Ihrer Arbeiten auf Träume als Inspirationsquelle zurückgreifen. Was interessiert Sie an diesen imaginierten Welten, die von linearen Zeitlichkeiten und Orten entkoppelt sind?

SERAFINE1369: Vielleicht sind Träume wichtiger geworden, weil das vorhandene Material weniger die Bewegung im Raum ist als die Bewegung nach innen. Träume sind vielleicht der Ort, an dem viele von uns in den letzten eineinhalb Jahren die intensivsten Bewegungen erfahren haben.

Ich interessiere mich auch für das Träumen als Arbeit: sowohl in Bezug auf die Vorstellung von Arbeit, von Dingen und Begehren, als auch in Bezug auf die Arbeit in der Nacht. Wir sind lebendig, wir ruhen nie. Ich denke, dass „Ruhe“ in gewisser Weise eine Illusion ist, weil sie nur einen anderen Zustand darstellt, in dem wir andere Arten von Aufgaben verrichten: unsere Körper erholen sich von den Auswirkungen der Tagesbeschäftigungen und -prozesse und wir verarbeiten psychische, energetische, emotionale und relationale Informationen des Tages oder eines längeren Lebensabschnitts. Ich finde es etwas beunruhigend, dass Entspannung oder Ruhe konventionell von der Sphäre der Arbeit abgegrenzt wird, denn ich denke, dass unsere Körper ständig arbeiten und dass diese Arbeit Leben ist.

Mich faszinieren die Ergebnisse dieser Arbeit. Es liegt auf der Hand, dass damit mein Interesse am Tanz teilweise begründet werden kann: den Körper zu beobachten oder zu erleben, wie er arbeitet, etwas aushandelt, muskulär und physisch verarbeitet, loslässt; wie seine Mechanismen in Beziehung zu den Kräften stehen, die auf diesem Planeten auf sie wirken. Ich bin sehr neugierig zu erleben, wie sich Körper bewegen und was selbst in den unscheinbarsten Bewegungen eines Körpers offenbart wird.

Das ist das Material, mit dem ich arbeite, das ist der Stoff, aus dem der Tanz besteht. Ich interessiere mich auch für das Poröse, das wir in uns tragen oder halten. Das Poröse, das von außen nachts in das Unbewusste eindringt: so viele Menschen, so viele Körper, so viele Kreaturen. Wir bezeichnen uns selbst als Individuen, aber stimmt das wirklich? Unzählige Bakterien und Lebewesen machen uns aus, aber wir laufen umher und sagen: „Also ich denke ja …“

Sonja Borstner: In Ihrem Essay   Cycles and Fragmentary Returns (2019/2020) schreiben Sie: „Wenn ich mich verloren fühle, suche ich in den früheren Versionen meines Selbst nach Halt und Orientierung“. An anderer Stelle heißt es: „Ich bin längst nicht singulär.“ Das Multiple scheint für Ihre Praxis in vielerlei Hinsicht charakteristisch zu sein, so auch durch verschiedene Pseudonyme, wechselnde Kollaborationen und multimediale Formen. Die Vorstellung, multipel zu sein, steht im Kontrast zu normativen Narrativen der westlichen Kunstgeschichte und dem Konzept der künstlerischen Singularität. Glauben Sie, dass die Vorstellung des Selbst als ein Kollektiv, welches in mehreren Zeitlichkeiten verstrickt ist, diese repressiven historischen Strukturen aufbrechen kann?

SERAFINE1369: Ich hege eine große Faszination für Körper und die Welt, die Umwelt und das Universum. Es gibt viele interessante Dinge, die ich erfahre; Dinge, die ich über die Existenz und die Verkörperung als Zustand höre, die den Narrativen von Singularität und Linearität – die oft verwirrend, ineffizient, ineffektiv und dysfunktional sind – entgegenstehen.

In meiner Arbeit ist es mir sehr wichtig, den Durchbruch des Multiplen zuzulassen, indem der Blick geweitet wird oder die Menschen ihren Fokus selbst wählen können. Sie müssen mir nicht zusehen, während ich performe, sie können sich auf ihre Gedanken konzentrieren, sie können den Gegenstand in der Ecke betrachten, eine Fliege, ihr Handy. In diesem Dazwischen entstehen wir, durch das Multiple in uns. Ich glaube, die Wirkung der Arbeit entsteht insbesondere durch diese Verflechtung, die auch das Multiple der Anwesenden einschließt: im Zusehen, im Sein, im Bezeugen.

Sonja Borstner: Die Kuratorin und Theoretikerin iLiana Fokianaki argumentiert in ihrem zweiteiligen  Essay im Gropius Bau Journal für ein Verständnis von Care als kollektivem und radikalem Akt. Findet das Konzept von kollektiver Care Nachhall in Ihren Arbeiten?

SERAFINE1369: Ich stehe dem aktuellen Trend, über Care zu reden, skeptisch gegenüber. Wenn wir von Care sprechen, müssen wir meiner Meinung nach über Verantwortung und Strukturen nachdenken: In welchen Beziehungen stehen wir zueinander und wie sorgen wir für uns selbst? Gleichzeitig müssen wir ein Bewusstsein dafür entwickeln, welchen Einfluss wir auf die Welt haben. Um auf Ihre anfänglichen Frage zu den Herausforderungen des ephemeren Arbeitens zurückzukommen...Auch andere professionell involvierte Personen sind gefragt, ein gewisses Maß an Selbstwahrnehmung und Selbstfürsorge zu haben, um es auf mich – auf uns als Performer*innen – auszuweiten. Ich versuche, meine Grenzen und Beschränkungen zu verstehen; ich versuche, die Bedingungen zu erkennen, die Kolleg*innen, das Publikum und ich brauchen und wie sie herzustellen sind. Das kann ein lebenslanges Projekt sein.

Ich denke viel darüber nach, wie Care mit Offenheit und Sorgfalt zusammenhängt und frage mich beispielsweise: Wie kann ich diese Offenheit und Sorgfalt anderen eröffnen; anderen, mit denen ich arbeite; anderen, die zusehen? Wie kann ich mich in der Welt bewegen und so gut wie möglich mit meiner Ethik und den Dingen, die ich kenne, in Einklang stehen?

Der orakelhaften Praxis liegt in diesem Sinne auch der Gedanke zugrunde, dass man von allem lernen kann. Alles kann zu etwas Wegweisendem werden, wenn wir uns darauf einlassen, wenn wir offen sind und einander zuhören. Diese Dinge haben für mich mit Care zu tun und auch mit meiner Tanzpraxis als Versuch, zuzuhören und meinem Körper zu erlauben, das zu tun, was er braucht; zu wissen, was und wann er es braucht. Aber es geht nicht nur um meinen Körper als etwas Isoliertes, sondern um meinen Körper als poröses Gefüge.

  • SERAFINE1369, III (Something Flat, Something Cosmic, Something Endless), 2021. Im Auftrag der Liverpool Biennale
    © Jamila Johnson-Small, Foto: Katarzyna Perlak

SERAFINE1369, früher bekannt als Last Yearz Interesting Negro (2016–2020), ist Künstler*in und Tänzer*in Jamila Johnson-Small. SERAFINE1369 bezeichnet Tanz als ein „philosophisches Unterfangen“, als „politisches Projekt mit ethischen, psycho-spirituellen Auswirkungen auf das In-der-Welt-Sein“. SERAFINE1369s Arbeit ist geprägt von der Erforschung von Bewegung und Tanz als Werkzeuge der Weissagung, die mit Mitteln der Choreografie verarbeitet wird. Jüngste Projekte fanden u. a. auf der Liverpool Biennale (2021), im Tai Kwun, Hong Kong (2021), im CA2M, Madrid (2020), im MDT, Stockholm (2020), im Silencio, Paris (2019), auf der Transmediale, Berlin (2019), im Barbican, London (2019), im Café Oto, London (2019), im ICA, London (2018), und im Palais de Tokyo, Paris (2018) statt.

Sonja Borstner ist Autorin und Assistenzredakteurin für das Gropius Bau Journal.

Übersetzung: Winnie Ya Otto und Irina Bondas

  • SERAFINE1369, III (Something Flat, Something Cosmic, Something Endless), 2021. Im Auftrag der Liverpool Biennale
    © Jamila Johnson-Small, Foto: Katarzyna Perlak