Text | Essay | Gropius Bau 2022

Kollektive Care: Verantwortung, Freude, Heilung – Teil 1

Von iLiana Fokianaki

Wages for Housework Campaign.
Courtesy: Schlesinger Library, Harvard Radcliffe Institute, Foto: Betty Lane

Die COVID-19-Pandemie hat das Thema Care weltweit in den Fokus gerückt. Und doch haben wir es versäumt, angemessen zu beleuchten, wie spezifische Dimensionen von Care vernachlässigt wurden – insbesondere solche, die durch den kollektiven Bereich wirken. Wie beeinflussen Geschichte, Politik und Ethik von Care sowie deren gemeinsames Erbe unser heutiges Verständnis von Care? In diesem zweiteiligen Essay werde ich die philosophische Dimension von Care in Bezug auf ihre Politik und Ethik – und hinsichtlich der Idee von Kollektivität – herausarbeiten, um herauszufinden, wie sie die kulturelle Praxis beeinflussen kann. Hier geht es zum  zweiten Teil des Essays.

Verfügbar seit 19. Mai 2022

Lesezeit ca. 25 Min

Deutsch und Englisch

Wortmarke Gropius Bau

Der Ursprung von Care
Das Wort Care leitet sich vom lateinischen cura ab. Linguistischen Theorien zufolge geht es auf die mythologische Figur Cura zurück, eine weibliche Göttin, die aus Ton die erste menschliche Figur schuf. In der altgriechischen Mythologie erschien der Himmels- und Donnergott Zeus (seine altrömische Entsprechung ist Jupiter) und Cura bat ihn, der leblosen Figur eine Seele zu geben, die ihren Namen tragen sollte. Zeus erfüllte ihr den ersten Wunsch, bestand aber in wahrer patriarchalischer Manier darauf, ihr seinen eigenen Namen zu geben. Daraufhin erschien Tellus, die Göttin der Erde, und verlangte, dass die Figur nach ihr benannt werden solle, da der Körper aus ihrer Erde erschaffen worden sei. Schließlich trat eine vierte Gottheit auf den Plan: Cronus (altrömisch: Saturn) entschied, dass Zeus den Geist der Figur nach ihrem Tod haben könne, während Tellus den Körper behalten und Cura sie während ihres Lebens besitzen dürfe. Der Name, für den er sich entschied, war homo (Mensch), da die Figur aus humus, Erde, hergestellt worden sei.

Der Mythos von Cura findet sich in den Fabulae des lateinischen Autors Gaius Iulius Hyginus, der die mündlichen Überlieferungen seiner Zeit dokumentierte, darunter auch grob erzählte Mythen. (1) Die Fabulae sollen ursprünglich aus etwa dreihundert kurzen Mythen bestanden haben, wovon jedoch nur sehr wenige Manuskripte erhalten sind; ein einziges erhaltenes Manuskript im bayerischen Kloster Freising bildete die Grundlage der ersten Druckausgabe im Jahr 1535. Bei meinen Forschungen zu Care habe ich festgestellt, dass Klöster häufig als Care-Strukturen in Erscheinung treten, einerseits im Hinblick auf ihre Aufgabe als Bewahrungsorte des Wissens, andererseits als eine frühe Form dessen, was man heute als „Gemeingut“ bezeichnet. Erstaunlicherweise haben durch die „fürsorgliche“ Praxis der Mönche auch solche Fragmente „nicht-christlicher“ oder „ketzerischer“ Geschichten und Kenntnisse wie der Mythos von Cura überlebt.

Im Lateinischen hat cura viele Bedeutungen: Zum einen bezeichnet es Sorgen und Ängste, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, Care-Aufgaben zu erledigen – also mehr oder weniger den Stress und die Belastung, die es bedeutet, für Dinge oder Menschen verantwortlich zu sein und sich um sie zu kümmern. Zum anderen bezeichnet es das, was man heute gemeinhin unter Fürsorge versteht, nämlich die Freude an der Fürsorge für andere, wobei das Wort eine positive Konnotation von Hingabe hat. Eine dritte, aus dem Lateinischen stammende Bedeutung des Wortes cura ist heilen; es bedeutet in vielen Sprachen mit lateinischen Wurzeln Heilung. Wenn man den Mythos von Cura und die Etymologie des Wortes Care gemeinsam betrachtet, kann man erkennen, wie sich Care als Konzept entwickelt hat: als Zusammenspiel von Verantwortung (Arbeit), Freude und Heilung (sowohl von Problemen als auch von Krankheiten).

Berta Cáceres.
Courtesy: Goldman Environmental Prize

Care als Verantwortung: Selbstverbesserung
In der Philosophie wird Care im Rahmen der Ethik diskutiert. Heute wird die Idee einer Care-Ethik vor allem durch die feministische Theorie erforscht. Das Konzept der Ethik hat die Philosophie lange beschäftigt, meist anhand einer Dichotomie, die so alt ist wie die Zeit selbst – Emotion versus Vernunft. Man kann die Schuld dafür den alten Griechen geben: Sowohl Platon als auch Aristoteles betrachteten die Vernunft als dem Gefühl überlegen; die Vorherrschaft dieser Betrachtungsweise wurde in der Aufklärung unter anderem von René Descartes und Immanuel Kant gefestigt, die den theoretischen Strang des Rationalismus auf diesem Gebiet etablierten. Affekte und Leidenschaften galten als Krankheiten des Geistes, die das Urteilsvermögen trüben. Der Philosoph David Hume argumentierte dagegen für die Emotionen als treibende Kräfte bei der Bildung unseres Ethik-Verständnisses. In seinem 1739 erschienenen Buch Ein Traktat über die menschliche Natur, ist für Hume die Vernunft eine Sklavin der Leidenschaften, womit er meint, dass Emotionen auf eine Handlung projiziert werden, um sie als gut oder schlecht zu bewerten – je nachdem, was wir in Bezug auf diese Handlung fühlen. (2) Während viele andere Philosoph*innen nach weiteren Definitionen suchten, möchte ich eine spezifische Position herausgreifen, die sich mit der Ethik von Care befasst hat und den Mythos von Cura aufgreift. Der deutsche Philosoph Martin Heidegger nutzte den Mythos, um die Rolle von Cura als Schöpferin hervorzuheben – im Gegensatz zu dem, was traditionelle christliche Genealogien bis dahin nahegelegt hatten. Heidegger brach mit der weithin akzeptierten und normierten Vorstellung, die Frau sei die zweite von Gott geschaffene Person und daher nicht zur menschlichen Schöpfung fähig. Dennoch ist dies in Bezug auf die Fragen der sexuellen Differenz und des Weiblichen wohl sein einziger dynamisch-disruptiver Ansatz; selbst Heidegger und seine Untersuchung von Care scheint den Traditionen einer weißen, westlichen, patriarchalen Logik verpflichtet zu sein.

Genau wie Care selbst ist auch die deutsche Übersetzung des Wortes kompliziert. Heidegger unterscheidet sorgfältig zwischen Sorge, Besorgen und Fürsorge. In seinem Hauptwerk Zeit und Sein von 1927 scheint er an einem vagen „moralischen“ Aspekt der Sorge als individueller Eigenschaft interessiert zu sein. Sein berühmtes Konzept des Daseins – der Erfahrung des Seins, die speziell dem Menschen eigen sei – ist ein Mit-anderen-Sein; so wie ich sein Werk lese, schafft er es jedoch nicht, der individualistischen Vorstellung von Care als einem Akt der Pflicht, einem Akt individueller Arbeit in Bezug auf andere (oder zum Nutzen anderer) zu entkommen, und perpetuiert damit die „orthodoxen“ akademischen Vermächtnisse eines eurozentrischen westlichen philosophischen Kanons. In diesem Sinne wird die Ethik von Care immer von der singulären Einheit her verstanden: dem Individuum und seiner Beziehung zu anderen. Sie wird als Aufforderung zur Sorge, als Arbeit, als „Selbstverbesserung“ und sogar als Eigenschaft des überlegenen Selbst eines „zivilisierten“ Menschen positioniert. Care wird jedoch nie kollektiv konzeptualisiert: als Seinszustand, als Zustand der Gesellschaft.

Die individualistische Vorstellung von Care war eine Weiterentwicklung der Idee der Selbsthilfe, die durch die Arbeit von Samuel Smiles weithin bekannt geworden ist. Smiles war ein schottischer Regierungsreformer, der 1859 ein Buch mit dem Titel Self-Help; with Illustrations of Character and Conduct verfasste und die Idee propagierte, dass Fortschritt durch neue Geisteshaltungen und nicht durch neue Gesetze entstünde. Er wurde zum „Lifestyle-Guru“, bevor dieser Begriff existierte, und sein Buch wurde als Inbegriff des viktorianischen Liberalismus gefeiert, weil es die Vorstellung propagierte, dass jeder Mensch alles werden könne, solange er nicht von anderen abhängig sei. Wie der Historiker Asa Briggs, ein führender Experte für die viktorianische Ära, betonte: „Sich auf sich selbst zu verlassen, wurde moralisch – und wirtschaftlich – der Abhängigkeit von anderen vorgezogen. Es war ein Ausdruck von Charakter, selbst wenn es keinen Erfolg garantierte – oder tatsächlich gar keinen zeitigte. Es hatte aber auch soziale Implikationen allgemeiner Natur. Die fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft, so wurde argumentiert, hänge letztlich nicht von kollektivem Handeln ab, sondern von der Verbreitung der Selbsthilfe-Praktiken.“ (3)

Das Theoretisieren über „Selbstverwaltung“ und „Selbstfürsorge“ ab den 1800er Jahren förderte eine westliche Kultur, die sich selbst als autark und allen anderen überlegen betrachtete. So wurde Care auch als Vorwand benutzt, um die Kolonisierung vieler Länder zu rechtfertigen. Die Kolonisator*innen wurden als Beschützer*innen dargestellt, die sich um die Erziehung und „Zivilisierung“ kümmerten – um die Einführung ihrer Untertan*innen in eine bessere Welt. Dies bildete den Deckmantel für – kurz- und langfristige – Gewaltakte, die im Namen der „guten Absichten“ von „Mutterländern“ verübt wurden, die sich um ihre Untertan*innen (ihre „Anderen“, weit in der Ferne) kümmerten. Die Systeme der Unterdrückung, die von den Kolonisator*innen unter dem Deckmantel von Care eingesetzt wurden, umfassten zum Beispiel Standards für Hygiene und Ernährung, die den indigenen Bevölkerungen aufgezwungen wurden, um ihnen das „beizubringen“, was der Westen für angemessene Selbstfürsorge hielt. Am Ende stand die dominante Vorstellung von Care als Verantwortung gegenüber sich selbst und der Gesellschaft, sich selbst zu verbessern und die weniger Glücklichen zu erziehen: die „Wilden“ zu „zivilisieren“.

Jane Fonda bei einer Pressekonferz zu den Maßnahmen in Vietnam, Delft, Niederlanden, 1975.

Care: Neoliberales Vergnügen vs. indigene, bürgerrechtliche und feministische Vermächtnisse kollektiver Freude

Uns, als Hüter des Herzens von Mutter Erde, fällt die Verantwortung zu, die Kräfte der Zerstörung zurückzudrängen.

– Chief Arvol Looking Horse, Hüter der Heiligen Pfeife des Weißen Bisons (4)

Aufgrund der nekropolitischen Form der Macht, die durch den Nationalstaat aufrechterhalten wird, haben indigenes Wissen und indigene Philosophien von Care wenig Präsenz im westlichen Wissenschaftskanon. Trotzdem haben die Anführer*innen der First Nations und indigener Gemeinschaften auf der ganzen Welt dieses Wissen – gegen den äußerst gewaltsamen Widerstand der weißen Vorherrschaft – für ihre zukünftigen Generationen bewahrt. Sie verstehen das Individuum völlig anders als der Kanon der Vernunft im Zeitalter der Aufklärung. Ihre Positionen sind häufig inspiriert von Vermächtnissen nicht-patriarchalischer Gesellschaftsstrukturen, die vielfach durch das Matriarchat geprägt sind und in denen Care auf allen Ebenen menschlichen Handelns als Art und Weise, die Welt zu verstehen und in ihr zu existieren, geteilt wurde. In seinem brillanten Buch Our History is the Future: Standing Rock versus the Dakota Access Pipeline, and the Long Tradition of Indigenous Resistance (2019) schreibt Nick Estes, ein Angehöriger der Lower Brule Sioux, dass das Lagerleben der First Nations „eine weitere entscheidende Funktion [erfüllt]: das Sich-Kümmern, oder das Bereitstellen von Nahrung, Versorgung, Kameradschaft, Ermutigung, Wärme, Liedern, Geschichten und Liebe.“ (5) Estes durchbricht jedoch gleichzeitig die romantischen Vorstellungen, die, „von Disziplinen wie der Anthropologie unterstützt“, im Westen über indigene Kulturen vorherrschen. Er schließt sich Kim TallBear, einem anderen Dakota-Gelehrten, an, der sich auf Racial Politics in der Wissenschaft spezialisiert hat – und argumentiert, dass die Care-Arbeit in den Gemeinschaften der First Nations geschlechtsspezifisch war und immer noch ist, und als „Frauenarbeit“ angesehen wird. (6)

In seinem Buch diskutiert Estes die Politisierung durch indigene Kämpfe und untersucht, wie politische Subjektivität als Teil einer kommunalen Care-Struktur verstanden werden kann. Solche Ansichten finden ihr Echo auch in den Worten von Gladys Tzul Tzul, einer Maya K’iche’ Theoretikerin und Aktivistin, die indigene Politik und Geschlechterbeziehungen in Guatemala erforscht. Sie beschreibt „eine kollektive und gemeinschaftliche [Struktur], keine liberale, in der individuelle Bürger*innen existieren, die vom Staat repräsentiert und geschützt werden.“ (7) So gesehen ist das Selbst nicht das (das Individuum), was mit anderen sein kann, wie es Heidegger formuliert. Dies überträgt sich auch darauf, wie eine Subjektivität (eine Person) sich selbst versteht und wie sie die Politik und Ethik von Care ausübt: Es geht weniger um die Last der Verantwortung oder den idealistischen Charakter, sich um jemanden – oder etwas – zu kümmern, jemandem zu helfen, die Person zu einem besseren Menschen zu machen, sondern vielmehr um die kollektive Freude, gemeinsam Care zu üben, und darum, dass dies die einzige Möglichkeit ist, sich selbst in der Welt zu verstehen. Um es mit den Worten der honduranischen Umweltaktivistin und indigenen Anführerin Berta Cáceres zu sagen: „Lasst uns Gesellschaften aufbauen, die in der Lage sind, auf eine würdige Weise zusammenzuleben – auf eine Weise, die das Leben schützt. Wir kommen zusammen und bleiben hoffnungsvoll, während wir die Erde und ihre Geister verteidigen und pflegen.“ (8)

Die Geschichte des Kolonialismus, des Imperialismus und der Industriellen Revolution sowie die Globalisierung und ihre neokolonialen und neoimperialen Topoi, die heute von den Nationalstaaten und ihren Institutionen in die Tat umgesetzt werden, haben Care als kollektiven Akt immer bekämpft. Ein großer Teil der westlichen Gesellschaft hat seit den 1950er Jahren sein Verständnis von Care als individuelle Entwicklung und persönlichen Fortschritt fest verankert – als eine spezifische Art von sozialer Mobilität und „Selbstverbesserung“, die mit einer konservativen Politik einhergeht. Mit dem Aufkommen des Konsumkapitalismus wurde dieses Verständnis von Care in Produkte übersetzt: Kühlschränke, Autos und sogar Cocktailrezepte von scheinbar fröhlichen Hausfrauen, die ihren Ehemännern die beste Fürsorge zukommen lassen wollten. Selbstfürsorge wurde gleichbedeutend mit pflegeintensiven Frisuren, komplizierten Schönheitsroutinen und angsthemmenden Tabletten. Das gegenkulturelle Fieber der späten 1970er Jahre führte über den New-Age-Spiritualismus der Hippie-Bewegung dazu, dass sich der Mainstream östliche und südamerikanische Praktiken der Religiosität und Selbstfürsorge aneignete. Diese Hippie-Selbstfürsorge, die in den 1980er Jahren in den Ländern der sogenannten „ersten Welt“ weiterentwickelt wurde, ließ zahlreiche Geschäftsmodelle rund um Gesundheit, Selbstverbesserung und Selbsthilfe rasant sprießen. Jane Fonda wurde durch ihre Home-Workout-Videos zur Fitness- und Gesundheitsikone. Sie propagierte die Selbstfürsorge im eigenen Wohnzimmer – und ließ so ihre feministische Rebellionszeit als „Hanoi Jane“ in den 1960er Jahren weit hinter sich. Die kulturelle Prägung dieser Zeit hallt sogar noch heute in der COVID-19-Pandemie nach – unter anderem in einem kürzlich erschienenen Artikel der Zeitschrift Women’s Health, in dem die Autorin Fondas Videos von 1982 als „Lichtblick während meiner Selbstisolation“ (9) bezeichnete.

Der prognostizierte   weltweite Umsatz der Self-Care-Industrie wird den aktuellen Wert von 450 Milliarden US-Dollar noch übersteigen. Forschungen zum Konzept von Care und ihrer Verbindung zum Individualismus zeigen, dass der Individualismus untrennbar mit dem Wohlstand und dem Pro-Kopf-Einkommen der Menschen verbunden ist. Ronald Inglehart zeigt dies in seinem 2018 erschienenen Buch Cultural Revolution: People’s Motivations are Changing, and Reshaping the World. (10) Jene Regionen der Welt, die als entwickelte („Erste-Welt-“)Volkswirtschaften gelten, haben die individualistischsten Kulturen; Regionen wie Osteuropa sind nur teilweise individualistisch ausgerichtet. Die kollektivistischsten Kulturen finden sich wiederum in Entwicklungsländern – in Regionen wie Subsahara-Afrika, Südost- und Zentralasien sowie Süd- und Mittelamerika.

Die skizzierte Entwicklung der individualistischen Vorstellungen von Care löste in bestimmten feministischen Gruppen und Bürgerrechtsbewegungen Widerstand aus; es wurde eine Rückkehr zu kollektivistischen Politiken und Ethiken von Care gefordert. Der Feminismus der zweiten Welle, der in den USA der frühen 1960er Jahren begann und etwa zwei Jahrzehnte andauerte, focht die Vorstellung an, dass Fürsorge ein verpflichtender Akt der Liebe sein sollte. Marxistische Feminist*innen forderten, dass häusliche und reproduktive Care-Arbeit gerecht entlohnt werden müsse. Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang die Initiative „Wages for Housework“ („Löhne für Hausarbeit“), die am 8. März 2000 zu einem weltweiten Frauenstreik aufrief. Es ging darum, die Anerkennung der Arbeit, die mit der Haushaltsführung verbunden ist, sowie die Bezahlung der gesamten Care-Arbeit in Form von Löhnen, Renten, Land und anderen Ressourcen zu erreichen. Eine der Hauptfiguren dieser Bewegung war Silvia Federici. Sie argumentierte: „Indem man der Hausarbeit einen Lohn verweigert und sie in einen Akt der Liebe [Care] verwandelt hat, hat das Kapital viele Fliegen mit einer Klappe geschlagen.“ (11) Die Feminist*innen hoben hervor, dass die materiellen Bedingungen der Unterdrückung innerhalb eines Haushalts aufgrund der ökonomischen, sozialen und psychologischen Abhängigkeiten der Care-Gebenden die realen Care-Beziehungen beeinflussten – oder anders ausgedrückt: die häuslichen Zwänge wirkten sich darauf aus, wie die Care-Gebenden pflegen konnten.

Courtesy und Foto: Joe Brusky / Overpass Light Brigade

Die feministische Theorie beschäftigte sich ab den 1980er Jahren intensiv mit der Ethik von Care. So legte die amerikanische Psychologin Carol Gilligan in ihrem 1982 erschienenen Buch In a Different Voice nahe, dass sich die moralische Einstellung der Frauen von derjenigen der Männer unterscheide. Obwohl ihr Ansatz – selbst von Feminist*innen – stark kritisiert wurde, löste er Forderungen nach einer eindeutig feministischen „Care-Ethik“ aus, der von der amerikanischen Philosophin Nel Noddings in ihrem Buch Caring von 1984 weiter diskutiert wurde. Noddings argumentierte, dass das Konzept der Ethik nur durch die Idee der natürlichen Fürsorge verstanden werden könne – wie bei einer Mutter, die sich um ihr Kind kümmert. Sie stellte in Frage, ob Organisationen, die fernab von Care-Beziehungen operieren, als ethisch bezeichnet werden können, und schlug eine Neuausrichtung der Ausbildung vor, die nicht nur Rationalität und antrainierte Intelligenz, sondern auch eine erhöhte Sensibilität in moralischen Fragen fördern und belohnen solle. Erneut stieß ein solcher Vorschlag in Teilen der damaligen feministischen Bewegungen auf Widerstand; ein vergeschlechtlichter Moralbegriff würde die geschlechtsneutrale bzw. -übergreifende Moral nicht umfassen – er feminisiere die Ethik von Care sogar noch weiter.

Solche Lesarten der Care-Ethik führten dennoch zu neuen Ansätzen in Tätigkeitsfeldern wie der Erziehung sowie der institutionellen und häuslichen Pflege. Die Politikwissenschaftlerin Joan C. Tronto förderte diesen Fortschritt, indem sie betonte, wie wichtig es sei, sich von der Idee der Moral zu lösen und sich stattdessen im politischen Kontext mit der Care-Ethik zu beschäftigen. Für Tronto erfordert Care Achtsamkeit, Fähigkeiten, Verantwortung und Reaktionsbereitschaft. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Berenice Fischer beschrieb sie Care 1990 wie folgt:

„Auf der allgemeinsten Ebene schlagen wir vor, Care als Aktivität einer Spezies anzusehen, die alles umfasst, was wir tun, um unsere ‚Welt‘ zu erhalten, fortzuführen und zu reparieren, damit wir in ihr so gut wie möglich leben können. Diese Welt umfasst unseren Körper, unser Selbst und unsere Umwelt, die wir alle in ein komplexes, lebenserhaltendes Netz zu verweben versuchen.“ (12)

Die Bürgerrechtsbewegung war eine weitere treibende Kraft, die nicht nur die Idee von kollektiver Care förderte, sondern auch eine andere Art der „Selbstfürsorge“ durch gemeinschaftliche Care-Arbeit. Ein weitreichendes Beispiel sind die mutigen und beeindruckenden Community-Programme der Black Panther Party, die immer noch viel zu wenig anerkannt werden. Dazu gehörten kostenlose Dienstleistungen wie das wohl bekannteste Programm „Free Breakfast for Children“ („Kostenloses Frühstück für Kinder“), aber auch zahllose weitere Initiativen wie die Verteilung von Kleidung, kostenloser Unterricht in Politik und Wirtschaft, kostenlose medizinische Versorgung, Unterricht in Selbstverteidigung und Erster Hilfe, Transport von Familienmitgliedern zu Gefängnisinsass*innen, ein Rettungswagen-Programm sowie Angebote zum Drogen- und Alkoholentzug. So wurde die Idee der „Selbstfürsorge als Selbstverteidigung“ gleichzeitig zu einer Form der Fürsorge gegenüber anderen – ein Ansatz, der schon im Gründungsnamen der Partei deutlich wird: Black Panther Party for Self-Defence. Mit den Worten des Mitbegründers Dr. Huey P. Newton:

„All diese Programme befriedigen tiefe Bedürfnisse der Gemeinschaft, aber sie sind keine Lösungen für unsere Probleme. Deshalb nennen wir sie Überlebensprogramme – womit Überleben bis zur Revolution gemeint ist. Wir vergleichen das Überlebensprogramm der Black Panther Party mit dem Überlebenspaket von Seeleuten, die auf einem Floß sitzen. Es hilft ihnen, sich am Leben zu halten, bis sie sich vollständig aus der Situation befreien können. Die Überlebensprogramme sind also keine Antworten oder Lösungen, aber sie werden uns helfen, die Gemeinschaft auf Basis einer echten Analyse und eines wahren Verständnisses ihrer Situation zu organisieren. Wenn Bewusstsein und Verständnis auf ein hohes Niveau gehoben worden sind, dann wird die Gemeinschaft die Zeit erkennen und sich von den Stiefeln ihrer Unterdrücker befreien.“ (13)

Sowohl bei den Feminist*innen als auch bei den Bürgerrechtler*innen entstand die Idee von Care dadurch, dass man seine individuelle Beziehung zu einer Ethik und Politik der Fürsorge nicht als moralische Verpflichtung betrachtete, sondern sich selbst als Teil eines viel größeren Organismus, nämlich der eigenen Gemeinschaft und ihrer Interessen. Dies kann auch als Echo auf die Philosophien und das Wissen der indigenen Völker und First Nations über die Ethik und Politik von Care verstanden werden. Die kollektive Freude an Care wird so auch zu einem Mittel der Selbstbestimmung, zu einem politischen Akt. Sie ist ein Weg, die Arbeit und die Freude an Care zu einem sinnvollen Modell des kollektiven Lebens zusammenzuführen.

Übersetzung: Christoph Jehlicka

iLiana Fokianaki ist Theoretikerin und Kuratorin sowie die Gründerin und künstlerische Leiterin der Kunstinstitution State of Concept in Athen, Griechenland. Darüber hinaus hat sie die Forschungsplattform The Bureau of Care gegründet, die sich mit der heutigen Politik und Ethik von Care beschäftigt und untersucht, wie diese für eine institutionelle Praxis genutzt werden können; für eine Praxis, die, wie sie es nennt, „care-full“ ist. Sie ist Dozentin am Dutch Art Institute und schreibt für Zeitschriften wie e-flux, Frieze, art agenda u.a.  

Endnoten

1. Mary Grant (Hrsg. und Übers.), The Myths of Hyginus (Lawrence: University of Kansas Press, 1960).
2. Vgl. David Hume, „Buch II, Teil III, Sect. III von ‚Von den Motiven des Willens‘“,   Ein Traktat über die menschliche Natur (aufgerufen am 27. Mai 2021).
3. Asa Briggs, „Samuel Smiles: The Gospel of Self-Help”, History Today vol. 37 #5 (Mai 1987), S. 37–43,   https://www.historytoday.com/archive/samuel-smiles-gospel-self-help (aufgerufen am 11. Mai 2021); eigene Übersetzung.
4. Nick Estes, Our history is the Future: Standing Rock versus the Dakota Access Pipeline, and the Long Tradition of Indigenous Resistance (New York: Verso, 2019), S. 75; eigene Übersetzung.
5. Ebd., S. 19; eigene Übersetzung.
6. Ebd., S. 16–19.
7. Gladys Tzul Tzul, befragt von Oswaldo J. Hernández, “Confronting the Narrative: Gladys Tzul on Indigenous Governance and State Authority in Guatemala”,   www.upsidedownworld.org, 10. Februar 2014,   http://upsidedownworld.org/archives/guatemala/confronting-the-narrative-gladys-tzul-on-indigenous-governance-and-state-authority-in-guatemala/ (aufgerufen am 11. Mai 2021); eigene Übersetzung.
8. Eine Abschrift von Berta Cáceres Rede zur Verleihung des Goldman Environmental Prize 2015 ist unter   http://www.disobediencearchive.org/papers.htm zu finden (aufgerufen am 11. Mai 2021); eigene Übersetzung.
9. Melissa Matthews, „Jane Fonda’s Workout Is The Bright Spot In My Self-Isolation”,   www.womenshealthmag.com, 12. April 2020,   https://www.womenshealthmag.com/fitness/a32111020/jane-fonda-workout/ (aufgerufen am 11. Mai 2021); eigene Übersetzung.
10. Ronald F. Inglehart, „Global Cultural Patterns“, Cultural Evolution: People’s Motivations are Changing, and Reshaping the World (Cambridge: Cambridge University Press, 2018), S. 40.
11. Silvia Federici, Wages Against Housework (Bristol and London: Falling Wall, 1975), S. 48; eigene Übersetzung.
12. Joan C. Tronto, Caring Democracy: Markets, Equality and Justice, (New York: New York University Press, 2013), S. 15; eigene Übersetzung.
13. The Dr. Huey P. Newton Foundation, The Black Panther Party: Service to the People Programs (Albuquerque: University of New Mexico Press, 2008), S. 3–4; eigene Übersetzung.