Text | Interview | MaerzMusik 2022
Im Maschinenraum der Kultur

Von 1991 bis 2021 war Ilse Müller aufs Engste mit der Organisation der Festivals für zeitgenössische Musik bei den Berliner Festspielen verbunden. Sie war dabei, als die Musik-Biennale Berlin, das Festival für zeitgenössische Musik der DDR, 1989 in die Berliner Festspiele aufgenommen wurde. Sie war auch dabei, als 2002 die MaerzMusik als Nachfolge-Festival der Musik-Biennale mit Matthias Osterwold etabliert wurde und als 2015 Berno Odo Polzer die künstlerische Leitung des Festivals übernahm.
Organisator*innen lenken die Geschicke eines Festivals in der Regel im Hintergrund, sie steuern und koordinieren die Produktion, schaffen die organisatorischen Voraussetzungen, verhandeln mit Künstler*innen und Agenturen, bilden die Schnittstellen nach innen und nach außen und vieles andere mehr. Im Gespräch mit der Musikwissenschaftlerin Dr. Barbara Barthelmes erzählt Ilse Müller, was ihr Berufsleben geprägt hat und wie sich die politischen Ereignisse wie die Wiedervereinigung, aber auch die Entwicklungen und Veränderungen der Berliner Festspiele auf ihre Arbeit und ihr Leben ausgewirkt haben. Das Besondere der Unterhaltung: Barbara Barthelmes ist selbst zu diesem Zeitpunkt seit vielen Jahren wichtiger Bestandteil der Berliner Festspiele. Erst als freie Autorin, dann als Musikredakteurin in der Kommunikationsabteilung verantwortete sie unzählige Publikationen der MaerzMusik, des Musikfest Berlin und des Jazzfest Berlin, verfasste eine Vielzahl an Texten und multimedialen Beiträgen, führte zahlreiche Interviews und blickt als Wissenschaftlerin, Dozentin und Publizistin auf eine reiche Erfahrung im Bereich der (zeitgenössischen) Musik zurück. Kurz nach dem Gespräch begann für Barbara Barthelmes Anfang des Jahres ein neuer Lebensabschnitt. Somit ist MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2022 die erste Ausgabe seit vielen Jahren ohne die beiden hochgeschätzten und prägenden Kolleginnen, die durch dieses Interview trotzdem im Festival präsent sind.
Barbara Barthelmes (Ba): Die meisten Menschen kennen Dich heute als Organisationsleiterin der MaerzMusik. Wie hat alles angefangen?
Ilse Müller (IMü): Studiert habe ich in den siebziger Jahren an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo ich musikalisch im Uni-Chor aktiv war und dadurch bereits viele Berührungspunkte mit der Musik- und Theaterszene hatte. Dann das Übliche: Diplom, anschließend ein Forschungsstudium im Bereich Musikwissenschaft als Teil einer Arbeitsgruppe zur „Erforschung des Urteilsverhaltens diverser sozialer Gruppen zu Musik“ – wie sich herausstellte, eine in vielerlei Hinsicht ziemlich fragwürdige Unternehmung. Das Ende war klar und unklar zugleich. Ein kurzes Intermezzo beim Komponistenverband brachte mich unerwartet und ziemlich direkt mit der Orchester- und Kammermusik in Berührung – nicht nur mit derjenigen zahlreicher DDR-Komponist*innen, sondern es wurde hier auch mein dezidiertes Interesse an den künstlerischen Produktionen der westlichen Avantgarde geweckt.
Ba: Was kam dann?
IMü: Mit einem kleinen, Cello lernenden Kind und einem Mann mit einem Fulltime-Job an der Komischen Oper brauchte ich vor allem ein anderes Zeitmanagement und entschloss mich, freiberuflich weiter zu machen. Ich empfand das als eine in jeder Hinsicht äußerst kreative Zeit, mit vorwiegend redaktionellen Arbeiten für das Fernsehen: Musikjournale zu den Dresdner Musikfestspielen, den Berliner Festtagen, aber auch zahlreiche Konzertaufzeichnungen unter anderem im Rahmen der 750-Jahr-Feier in Berlin (Ost). Und vor allem auch Zeit für die Familie und die uns am Herzen liegende musikalische Ausbildung unserer Tochter.
Parallel dazu hatte ich die Redaktion der Programmbücher für die damals schon zehntägigen Musik-Biennalen bzw. DDR-Musiktage übernommen und dafür mit einem engagierten Grafiker auch ein neues Design entwickeln können. Wir sprechen von den vom Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler (VKM) der DDR veranstalteten DDR-Musiktagen (seit 1972) und der Musik-Biennale Berlin (seit 1967) als alternierende Festivals für Neue Musik in Berlin.
Von Ost nach West – zu den Berliner Festspielen
Ba: Kannst Du etwas über die Zeit erzählen, in der die Musik-Biennale „unter das Dach“ der Berliner Festspiele gelangte, also die Zeit zwischen Mauerfall 1989 und 1991?
IMü: Ich kann das nur partiell rekonstruieren und berichten. Das Programm für die Musik-Biennale 1989 gab es bereits, und sie hat auch mit diesem Programm stattgefunden. Auch für 1991 waren wohl Planungen schon angelaufen. Natürlich stand jetzt die Frage im Raum, was mit dem Festival passiert? Damals gab es vielfältige Initiativen und einen kleinen Kreis von Musikwissenschaftler*innen, Journalist*innen, Komponist*innen; dazu zählten auch Heike Hoffmann, Gisela Nauck, Frank Schneider, Eberhardt Klemm, ebenso Komponisten wie Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Georg Katzer, die – soweit ich das aus Erzählungen weiß – mit Ulrich Eckhardt, dem Intendanten der Berliner Festspiele, im Gespräch und intensiven Austausch waren.
In dieser Umbruchphase wirkte Ulrich Eckhardt sowohl als Moderator als auch als Mediator, der es mit all seiner jahrelangen Erfahrung in der Kommunikation und der Diplomatie zwischen Ost und West schaffte, dieses Festival im richtigen Moment politisch zu „retten“, indem er es mit programmatischer wie personeller Neuausrichtung in den Festspielverbund Berliner Festspiele – zunächst treuhänderisch – aufnahm, um es eben nicht „auf den Müllhaufen der Geschichte“ zu werfen.
Ba: Und war das ein Kulturclash für Dich?
IMü: Ich bin ja nicht von einer Institution in eine andere gekommen. Zwischenzeitlich war ich weiter in der „Neuen Musik-Szene“ unterwegs, in einer kleinen Gruppe von Leuten, die eine neue Kunstzeitschrift herausbringen wollten – gedacht als ein produktiver Neuansatz der Zeitschrift „Musik und Gesellschaft“. Dahinter verbarg sich ein hoher Anspruch an Qualität bezüglich der Inhalte sowie des äußeren Erscheinungsbildes, der Fotografie und der Grafik. Schlussendlich wurde daraus „MOTIV. Musik in Gesellschaft anderer Künste“, Auflage ca. 1000 Exemplare, schwarz/weiß, mit Fotostrecken und thematischen Schwerpunkten, aktuellen musik- und kulturwissenschaftlichen Beiträgen, Rezensionen. All dies war grafisch edel gearbeitet, gedruckt, nur leider in der Summe viel zu teuer, und es hatte praktisch keine Chance, auf dem (westlichen) Verteilungsmarkt der gedruckten Medien Anfang der neunziger Jahre eine aussichtsreiche Position zu erringen, Abonnent*innen zu finden etc.
Ba: Offensichtlich lag damals ein Perspektivwechsel in der Gesellschaft in der Luft. Die „positionen“, die von Gisela Nauck zusammen mit Armin Köhler 1989 gegründet wurden, hatten ähnliche Ideen. Und Helga de la Motte-Haber hat genau zu dieser Zeit in Westberlin als Lehrstuhlinhaberin an der TU die Musik und ihr Verhältnis zu den anderen Künsten thematisiert.
IMÜ: Die Zeitschrift hieß „MOTIV. Musik in Gesellschaft anderer Künste“. Das bedeutete auch einen Blick auf Tanz, Musiktheater, Jazz und ein anderes Genre: die klassische und die experimentelle Fotografie. Ich bin dann zu den Festspielen gegangen mit einem Bündel von Heften unterm Arm und habe gefragt, ob wir die nicht auslegen, anbieten könnten, im Ticket-Laden oder bei den Festwochen, dem heutigen „Musikfest Berlin“. Das waren meine ersten Schritte zu den Berliner Festspielen, deren Büros damals noch gegenüber der Gedächtniskirche, im „Bikinihaus“ lagen.
Ba: Wie bist Du da aufgenommen worden?
IMü: Das war für mich wirklich eine überwältigende Erfahrung. Diesen Wiedervereinigungsprozess haben ja viele eher als sehr schmerzhaft erfahren. Ich aber kam zu den Berliner Festspielen und wurde gewissermaßen mit offenen Armen und einer gewissen Neugier empfangen.
Ba: Blickst Du heute wehmütig auf diese Zeit zurück?
IMü: Nein, ich bin nicht wehmütig, aber ich schätze diese Zeit rückblickend enorm. Es war für mich eine prägende Phase, sicherlich meine kreativste Zeit und gleichzeitig eine enorme Herausforderung, mit einem beeindruckenden Vertrauensbonus. Ich war konfrontiert mit völlig neuen Arbeitsweisen: schlank, unbürokratisch, inhaltsorientiert, eigenständig, kollegial. Die Festival-Teams waren klein: die Künstlerische Leitung der Musik-Biennale lag in den Händen von Heike Hoffmann und eine weitere – meine – Stelle gab es für die organisatorischen Aufgaben, die Verbindung zur Redaktion, Presse, Öffentlichkeitsarbeit – wie es damals hieß. Die Zusammenarbeit funktionierte auf Abruf und Augenhöhe. Dass es lange dauert, ehe man Antworten bekommt und dass Entscheidungen ewig auf sich warten lassen, das habe ich erst später lernen müssen. Die Arbeitsfelder waren in gewisser Weise fließend, dennoch war ganz klar, wer sich worum kümmert und keiner mischte sich in die Kompetenzen des anderen ein.
Ba: Bei der Musik-Biennale warst Du also für die Redaktion verantwortlich. Warst Du damals auch schon in die Organisation des Festivals eingebunden?
IMü: 1990/91 durfte ich die Redaktion des Festival-Journals übernehmen, zunächst noch freiberuflich. Doch zu dieser Zeit konnte ich bereits an der ersten Buch-Publikation der auf vier Bände angelegten festivalbegleitenden Reihe „Neue Musik im geteilten Deutschland“ mitarbeiten. Der erste Band erschien im Vertrieb des Henschel Verlages pünktlich zum Festival 1993. Er beleuchtete ein Jahrzehnt deutsch-deutsche Entwicklungsgeschichte der Neuen Musik.
1992, als Heike Hoffmann die Künstlerische Direktorin des Konzerthauses wurde, die Leitung der Musik-Biennale aber behielt, fragte sie mich, ob ich nicht die Organisation bei den Festspielen übernehmen und koordinieren könne. Und damit waren „die Würfel gefallen“. Ich hatte zwar gut ein halbes Jahr zuvor beim Vorstand der Gesellschaft der Freunde der Berliner Philharmoniker e.V. nach längerer „intensiver Probezeit“ die einzige Halbtagsstelle angetreten und es war für mich auch menschlich nicht leicht, gleich wieder einen neuen Weg einzuschlagen. Aber natürlich interessierte mich das nun sehr – war es doch genau das, was ich gesucht hatte: zum einen die inhaltliche Arbeit bis hin zur wissenschaftlichen und redaktionellen Mitarbeit bei einer Buch-Produktion – den drei Bänden „Neue Musik im geteilten Deutschland“ – und zum andern die Organisation des Festivals mit all seinen Facetten.
Festivalorganisation im Wandel der Zeiten
Ba: Worin bestand Dein Arbeitsfeld?
IMü: Neben Redaktion, Kommunikation und Organisation habe ich auch das Budget verwalten dürfen. Wir waren mit dem Start 1991 ein Drittmittel-Projekt und erhielten unsere Basis-Finanzierung aus Mitteln der Stiftung Kulturfonds, des Hauptstadtkulturfonds. Es gab immer wieder Versuche, das Festival komplett in den Haushalt der Berliner Festspiele einzustellen. Das war administrativ jedoch schwierig und gelang mit dem Übergang zu einem einjährigen Modus, soweit ich mich erinnere.
Durch die Komplexität der 2001 durch den Hauptstadtkulturvertrag neu formierten KBB, dem Zusammenschluss der verschiedenen Häuser (Berliner Festspiele, Gropius Bau, Haus der Kulturen der Welt, Berlinale) zur „Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH“ und damit zur 100-prozentigen Finanzierung durch den Bund, aber ebenso durch die zunehmende Digitalisierung und verstärkte Arbeitsteilung der Prozesse, wandelten sich auch die Tätigkeitsprofile und Spielräume der einzelnen Organisationsleiter*innen. Die wurden zunehmend kleiner und sehr viel administrativer.
Ba: Vielleicht noch ein Wort zu der inhaltlichen Ausrichtung der Musik-Biennale nach der Wende?
IMü: 1989/90 war klar: Es kann so nicht bleiben, wie es war. Es mussten neue und verbindende Programme entwickelt werden, mit denen man den Fokus weitet, öffnet, neues Publikum und alternative Veranstaltungsorte gewinnt und gleichzeitig zeigt, was es an Neuer Musik, aktuellen Produktionen, Entwicklungslinien gibt: Es wurden enorm viele Uraufführungen initiiert, Kompositionsaufträge vergeben an junge wie gestandene Komponist*innen. Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite regte Ulrich Eckhardt an, programmatisch eine Retrospektive ins Festival zu integrieren, um Folgendes zu verdeutlichen: Wir sind jetzt zusammen in einem Land, lasst uns doch einmal zurückschauen, was hat jeder einzelne Teil des Landes gemacht? Wo liegen die Schnittmengen und wo gibt es große Unterschiede – und das eben nicht nur in der Neuen Musik, sondern über den Tellerrand hinausgeblickt – also in der Bildenden Kunst, im Film, in der Gesellschaft.
Das führte dazu, dass bei jeder folgenden Ausgabe der Musik-Biennale immer auf ein Jahrzehnt vorrangig deutsch-deutscher Musikentwicklung zurückgeschaut wurde: 1993 auf die fünfziger Jahre, 1995 auf die sechziger Jahre, 1997 auf die siebziger Jahre und 1999 auf die achtziger Jahre. 2001 sind diese Rückschauen zusammengeflossen im geeinten Land und am Ende lag auch das vierteilige Kompendium „Neue Musik im geteilten Deutschland“ vor – aus heutiger Sicht eine wichtige Quelle von Dokumenten, Texten, Bildmaterialien, Literaturhinweisen aus diesen Jahrzehnten, in denen es weder Internet noch Wikipedia noch größere Archivbestände gab.
Ba: Und der Impuls für diese Reihe ging von Ulrich Eckhardt aus?
IMü: Ja, ich denke schon. Der ging sicherlich von ihm aus und auch von Heike Hoffmann. Diesen zeitgenössischen Blick auf künstlerische Entwicklungsprozesse, Ereignisse, gesellschaftspolitische Konnotationen und Diskurse fand auch ich enorm wichtig. Denn die Texte, die da abgedruckt sind, die Kritiken, die Statements, die bewahren auf ihre Weise ein historisches Wissen, das ganz schnell auch verschwinden kann, wenn man es nicht „festhält“.
Natürlich kann man heute auch kritisch auf diese Auswahl und Perspektiven, auch auf Fehlstellen blicken. Und natürlich ist dieses Kompendium auch seiner Zeit geschuldet, gewissermaßen ein echtes Zeitdokument.
Konzeptionell musste man sich für einen Weg entscheiden, sonst wäre die ganze Reihe sicher nicht zustande gekommen.
Ba: So wie Du das schilderst, war diese Umbruchsituation Anfang der neunziger Jahre durchaus auch eine glückliche Konstellation?
IMü: Ja, es gab den glücklichen Umstand, dass die positiven Seiten im Fokus standen, wenngleich natürlich auch die kritische Perspektive eine gewichtige Rolle spielte. Das sieht man schon an der namentlichen Auswahl der Werke von Komponisten, die vorher Schwierigkeiten ohne Ende hatten. Ich denke da nicht nur an Goldmann, Schenker, Katzer oder Bredemeyer, sondern auch an nicht so bekannte Namen, beispielsweise an Komponisten wie Christfried Schmidt, von dem selbst im letzten Jahr noch ein wirklich gewichtiges Stück endlich uraufgeführt werden konnte – mehr als 30 Jahre später, schon unglaublich!
Ba: Du hast die Musik-Biennale erlebt und dann die MaerzMusik, zuerst unter Matthias Osterwold und danach unter Berno Odo Polzer. Was hat sich da im Laufe der Zeit verändert?
IMÜ: In diesem Zusammenhang ist es zunächst interessant, über die Institutionalisierung des Festivals insgesamt zu sprechen.
Am Anfang war es ein klares Drittmittel-Projekt unter dem Dach der Berliner Festspiele. Die Berliner Festspiele waren eine GmbH, finanziert von Bund und Land. Und die Stiftung Kulturfonds stellte in den neunziger Jahren alle zwei Jahre eine Million D-Mark für die Realisierung des Festivals inklusive der Buchproduktion bereit – eine großartige und sicher nicht einfache kulturpolitische Entscheidung. Die Festspiele selbst boten für die Durchführung des Festivals zusätzlich die Arbeitsbasis, die Strukturen. Wir konnten alles nutzen, was auch den anderen Festivals zur Verfügung stand – das ganze „Drumherum“ bis hin zum Büroraum. Und: Ulrich Eckhardt versuchte dabei immer wieder, die Musik-Biennale zu institutionalisieren, sprich in den Haushalt der Berliner Festspiele aufzunehmen.
Zur Jahrtausendwende gab es nach längerer Suche und Verhandlungen eine ganz spektakuläre Veränderung: Die Berliner Festspiele konnten ein eigenes Haus beziehen. Sie zogen in die ehemalige Freie Volksbühne in der Schaperstraße und übernahmen damit ein eigenes Theater, das nicht nur Heimat werden sollte, sondern das in der Berliner Kulturlandschaft etabliert, belebt und vor allem bespielt werden musste. Es lag gefühlt „weit im Westen“ der Stadt, in Wilmersdorf, was für so manche Berliner*innen unglaublich fern und unbekannt schien – also wieder eine neue Aufgabe und Herausforderung an uns alle!
2001 übernahm Joachim Sartorius die Intendanz der Berliner Festspiele. Mit ihm gab es deutliche Veränderungen in den Strukturen, den Personalien und Festivals insgesamt und eben auch in der Etablierung des Festivals für Neue Musik als jährliches Ereignis unter neuer Künstlerischer Leitung von Matthias Osterwold.
Er war der Namensgeber für das nun jährlich stattfindende Nachfolge-Festival „MaerzMusik – Festival für aktuelle Musik“. Es gab von nun an geänderte Finanzierungsmodalitäten, die die Voraussetzung für eine komplexere Programmgestaltung und Öffnung der Festivalinhalte mit neuen Formaten boten und es ermöglichten, auch Musiktheater-Produktionen oder technisch sehr aufwendige Projekte in Kooperationen mit anderen Theatern, Festivals, auch beispielsweise dem Hamburger Bahnhof, der Neuen Nationalgalerie oder anderen Partnern zu entwickeln. Nicht zuletzt waren es die vielfältigen Kooperationen und Partnerschaften, mit Botschaften und Kulturinstitutionen, Rundfunkanstalten oder externen Veranstaltungsorten in der Stadt, mit deren Unterstützung große Projekte überhaupt erst möglich wurden. Unter der Leitung und Dank des engagierten Partnerschaftsdenkens von Matthias Osterwold wurde die „knappe Kasse“ deutlich aufgebessert.
Wenn ich zurückblicke, dann empfanden die Künstlerischen Leiter Matthias Osterwold wie auch Berno Odo Polzer das zehntägige Festival, trotz aller Sparbemühungen, für die anstehenden Programmstrukturen nie ausreichend basisfinanziert.
Das zeigte sich überdeutlich, als Berno Odo Polzer 2015 unter der Intendanz von Thomas Oberender die Künstlerische Leitung übernahm.
Nunmehr verflochten sich in dem zehntägigen Festival, das seitdem unter dem Namen „MaerzMusik – Festival für Zeitfragen“ firmiert, gleich drei verschiedene Programm-Ebenen, die vor allem dem Diskurs thematisch einen vergleichsweise großen Raum gaben und damit ein „Festival im Festival“ entstand.
Am Ende der zehn Tage stand jeweils als Finale „The Long Now“, das Projekt im Kraftwerk Berlin, das ein großes dynamisches Publikum auf eine 30-stündige imaginäre Zeitreise einlud. Das Publikumsinteresse war enorm und weit gefächert. Damit wurden die bisherigen Festival-Grenzen allerdings nicht nur strukturell, sondern auch organisatorisch und vor allem finanziell gesprengt. Eine großartige Idee war das mit diversen Partnerschaften, für unser kleines Organisationteam und die Kolleg*innen des Festspielhauses aus den übergreifenden Abteilungen jedoch nicht mehr allein zu stemmen.
Ba: Inwieweit haben sich diese Veränderungen auf Deine Arbeit ausgewirkt?
IMü: Die Festivalstruktur – jeweils zehn Tage mit zwei Wochenenden im März – blieb immer erhalten, die sich über viele Jahre dynamisch ändernden Inhalte jedoch zeigten frühzeitig: ein „Eine-Frau-Betrieb“ konnte nicht von Bestand sein. Es gab ohnehin jeweils vor Festivalbeginn temporäre personelle Unterstützung für die Organisation und Durchführung im Büro und für die Betreuung von Spielorten und Künstler*innen.
In diesem Kontext kam auch Ina Steffan vor vielen, vielen Jahren dazu. Sie sollte eine der wichtigsten Kolleg*innen werden, die bis heute federführend im Team tätig ist. Ihre dauerhafte Beschäftigung erforderte ein zähes Ringen um vertraglich akzeptable Konditionen.
Schon allein wegen der enormen Mehrarbeit durch neu hinzugekommene Förderanträge beim Hauptstadtkulturfonds, der Kulturstiftung des Bundes, Siemens Musikstiftung und anderer Fördertöpfe, aber auch an EU-Förderprojekten oder internationale Kooperationen verlagerte sich ein Großteil des Arbeitspensums aller (trotz Entwicklung neuer Organisationsstrategien der Geschäftsführung der KBB) auf administrative Aufgaben und die digitale Selbstverwaltung des Festivals. Und das ging eben nicht ohne fachkundiges geschultes, erfahrenes und motiviertes Personal!
Aber das wäre ein neues, anderes Thema, das komplex ist und den Gesprächsrahmen wirklich sprengen würde.
Liebe zur Musik oder Kunst und Leben
Ba: Auch wenn Du Dich hauptsächlich der Organisation gewidmet hast, warst Du ja auch immer inhaltlich involviert. Ich bin oft in Dein Büro gekommen, da lief Musik, Du hattest die Partituren, Deine Kladden zu den Komponist*innen und den Werken waren Fundgruben für die Redaktion.
Was war für Dich in den 30 Jahren bei den Berliner Festspielen ein herausragendes Erlebnis?
IMü: Oh, das war wirklich vieles – da fällt die Wahl schwer.
Meine Arbeit war ja vor allem mit den Entstehungsprozessen der einzelnen Programme verknüpft. In jeder Ausgabe stand die Frage neu im Raum, bekommt man das alles hin und wie reagieren die Künstler*innen:
Ich erinnere mich noch gut an die Aufführung von Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ Anfang der 1990er-Jahre, für die das Arditti Quartet eingeflogen wurde und bei der die Musiker*innen des Konzerthausorchesters – damals hieß es noch Berliner Sinfonie-Orchester – sagten: „Ich werde mich nie wieder einteilen lassen für solche Dienste, das mache ich nicht mit“. Also großer Protest und trotzdem dann am Ende eine denkwürdige Aufführung. Viele, viele Jahre später kommt Lachenmann wieder, die Konstellationen sind ganz anders: das Berliner Sinfonie-Orchester heißt jetzt Konzerthausorchester Berlin, es ist enorm verjüngt, die Musiker*innen sind motiviert, sitzen auf der Stuhlkante. Lachenmann sitzt neben ihnen auf der Bühne und probt mit ihnen, teils demonstriert er selbst auf der Geige Spielarten, „zeigt“ genau, wie seine Geräusche entstehen sollen, und am Ende ist es für alle ein unglaubliches Erlebnis – es war „Air“, was wir da gemacht haben.
Das sind tolle Erlebnisse, eben nicht nur mit der Musik, sondern auch im Kontakt mit den Künstler*innen.
Ein anderes Beispiel war der komplex angelegte Werkzyklus von Mark Andre. Wir haben es 2009 geschafft, alle drei Teile des abendfüllenden Werkes „...auf…“ als Trilogie mit dem SWR Symphonieorchester Baden-Baden und Freiburg (diverse, wechselnde Musiker*innengruppen im großen Saal der Philharmonie) erklingen zu lassen. In Donaueschingen gab es die Uraufführung des dritten Teils, bei der ich dabei war. Am Ende der Donaueschingen Musiktage saßen wir abends noch am Tisch mit dem Komponisten Mark Andre und Reinhard Oechsler, dem Manager des SWR Orchesters, zusammen und ich sagte begeistert „Wenn wir es schaffen könnten, endlich das ganze „Ding“ mal zusammenzusetzen und an einem Abend in Berlin in der Philharmonie aufzuführen, das wäre mir doch eine Herzenssache. Beide, Oechsler und Andre, stimmten natürlich zu, zumal die Philharmonie ja ganz andere raumakustische Möglichkeiten bieten würde. Das haben wir dann gemeinsam mit Matthias Osterwold, der ebenfalls schon in diese Richtung gedacht hatte, beraten. Zwei Jahre später gab es eine kongeniale, überaus bewegende Gesamtaufführung.
Ich denke auch an die beeindruckende Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“ 1995 mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden, diversen international renommierten Chören und Solist*innen im Konzerthaus Berlin, wo wir den halben Saal umgebaut haben, was damals keinesfalls gang und gäbe war. Die Besucher*innen standen sage und schreibe quer über den Gendarmenmarkt für Tickets an der Abendkasse.
Wenig später gab es dann die „Music-Box“ mit und von dem Ensemble L'ART POUR L'ART kreiert: ein großer umgebauter LKW mit Plattform an der Längsseite für die Musiker*innen – und das mitten auf dem Gendarmenmarkt. Dort konnte man – wie in einer „Music-Box“ aus den sechziger Jahren – Geld einwerfen und bekam dann ein ausgewähltes bis zu dreiminütiges kleines Musikstück live gespielt – ein ganz anders geartetes Projekt.
Unvergesslich bleibt sicher auch die Uraufführung des Gesamtzyklus der spektakulären „Sinfonie X“ von Dieter Schnebel, 2005 zu seinem 70. Geburtstag von ihm noch einmal um 45 Minuten konzeptionell erweitert und komplettiert – wiederum ein raumspezifisch konzipiertes Werk, aufgeführt in der Philharmonie mit dem Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, dem Lettischen Rundfunkchor Riga, dem Experimentalstudio des SWR, vier Solisten und Sprecher.
Das Schöne an meiner Arbeit war sicher, dass man so vieles versuchte auf den Weg zu bringen und es am Ende zu einem großen Ganzen wurde.
Während des Festivals war ich oft von früh bis abends bei den Proben. Von der Produktionsseite bekommt man dann mit, wie die Musik überhaupt erst zur Aufführungsreife gelangt. Es geht um die Verlebendigung der Partitur. Dazu gehört vieles – ganz pragmatisch: Wie ist der Raum? Welche Instrumente müssen wohin kommen? Wie funktioniert die Akustik, der Zusammenklang, die Kommunikation aller? Wie ist das Licht, können die Musiker*innen gut sehen? Es gibt so vieles … Das macht die Arbeit „im Maschinenraum der Kunst“ sozusagen aus – diese Verlebendigung der Musik.
Ba: Wann immer ich Dich in einem Konzert sehe, sehe ich Dich begleitet von Musiker*innen, Ensembleleiter*innen, Komponist*innen, Kurator*innen. Du kennst alle und alle kennen Dich. Das ist nie nur professionelles Netzwerken, da scheint auch viel Freundschaftliches auf.
IMü: Gut beobachtet! Ja, schon bevor ich überhaupt zu den Festspielen kam, aber hier im Besonderen, konnte ich immer etwas tun, arbeiten, was mich bewegte, interessierte, meine Leidenschaft war und geblieben ist, einfach was mein Leben ausmacht – bei dem das Berufliche, die Kunst und mein Privatleben zusammenkamen. Natürlich hat es nicht immer geklappt, alles in Einklang zu bringen – wer kann das schon?
Aber alles zusammengenommen betrachte ich es als ein großes Geschenk – diese vielen Jahre im Einklang mit der Musik und mit all den großartigen Menschen, die sie für uns erfinden und erklingen lassen – und das gemeinsam mit einem tollen Festspiel-Kolleg*innen-Team erleben zu dürfen.
Das Gespräch wurde im Dezember 2021 geführt.