Text | Gespräch | MaerzMusik 2025
Die Arbeit mit der Stimme geht mit einer Form von Intimität einher

Ein Gespräch zwischen Laura Bowler und Juliet Fraser
Juliet Fraser (JF): Ich denke, der Körper ist ein Element, das wir manchmal vergessen – obwohl wir ihn natürlich nicht vergessen können, solange wir ihn haben. Ich glaube, wir werden uns seiner bewusster, wenn wir älter werden. In meinen Zwanzigern war ich mir als Sängerin meines Körpers viel weniger bewusst. Da ich keine formale Ausbildung hatte, erwartete ich lange Zeit einfach, dass er die Dinge tun würde, die er eben tat. Und er tat sie auch, weil wir über diese Elastizität verfügen, wenn wir jung sind. Aber ich werde mir zunehmend der Konflikte bewusst, die zwischen meiner kreativen Praxis und meinem Körper bestehen.
Laura Bowler (LB): Dieses Zusammenhangs bin ich mir bei meiner Arbeitsweise auch bewusst. Besonders merklich wurde das, als ich „FFF“ neu einstudierte. Ich hatte das Stück seit dem Jahr 2018 nicht mehr aufgeführt. Und bin nicht mehr so fit wie damals [lacht]. Aus diesem Grund war es interessant, es jetzt wieder mit dem gleichen Körper aufzuführen, der sich mittlerweile aber wie ein anderer anfühlt. Diese Veränderung hatte unweigerlich verschiedene Auswirkungen auf die Stimme und das Stück selbst, das ich im Hinblick auf diesen Transformationsprozess geschrieben habe. Um diese Spannungen auf die Stimme zu legen und sie und den Körper in extreme Umstände zu versetzen. Das ist ein Teil dessen, was ich mit dem Stück erforschen wollte.
Dieses Interesse lässt sich auf Jerzy Grotowski zurückführen. Ich habe mit jemandem, der mit ihm zusammengearbeitet hatte, über einen Zeitraum von zwei Jahren physisches Theater und Stimmübungen trainiert. Davor habe ich die meiste Zeit nur komponiert. Aber der größte Teil meiner Gesangspraxis speist sich aus dieser Herangehensweise: Es geht vor allem um die Erforschung des Körpers und darum, wie sich alles, was ich mit meinem Körper mache, auf die Stimme auswirkt. Verschiedene Stimmen durch unterschiedliche Körperteile zu finden, war ein zentraler Aspekt meiner Praxis. Als ich vor sehr langer Zeit mit Jennifer Walshe zusammengearbeitet habe, musste ich Boxen trainieren. Das war eine weitere faszinierende Erfahrung. Nach sechs Monaten Training hatte ich einen neuen Körper! Auch das hat meine Stimme auf so viele verschiedene Arten beeinflusst – als würde ich mit einem gänzlich anderen Instrument arbeiten. Mein Körper hatte Muskeln entwickelt, die vorher nicht da waren, und das wiederum veränderte alles an der Art und Weise, wie ich meine Stimme einsetzte.
JF: Mir scheint, dass ein Boxtraining oder vielleicht auch ein Grotowski-Training auf einer ganzheitlicheren Betrachtungsweise des Körpers aufbaut. Konträr dazu habe ich im Rahmen meiner traditionellen Gesangsausbildung die Erfahrung gemacht, dass meistens sehr spezifisch bestimmte Körperbereiche und -funktionen im Fokus stehen wie dieser Teil hier [deutet auf ihren Kehlkopf], die Zunge oder die Resonanz, aber nur selten ein vollständig verkörperter Zustand. Die gleiche spezifizierende Betrachtungsweise wird praktiziert, wenn man Bewegungsübungen macht: Es geht um einen bestimmten Blick auf den Körper als Performance-Instrument. Ich glaube, was uns in der traditionellen, klassischen Musikausbildung als Sänger*innen fehlt, ist ein ganzheitlicher Ansatz für Stimme und Körper.
LB: Die Ausbildung von Sänger*innen in der Operntradition – und die Körperlichkeit, die sich darin oft manifestiert – sollte bei weiblichen Darstellerinnen besondere Unterstützung erfahren. Ich finde es immer sehr beunruhigend, wenn ich auf einem Podium sitze und jungen, sich noch in der Ausbildung befindlichen Opernsängerinnen bei der Aufführung bestimmter Szenen zuschaue und eine generische Qualität der Bewegungen bemerke, die ihnen vermittelt wurden – diese besondere Emphase von Anmut und Schönheit. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich gerne Hässliches – hässliche Dinge im weiblichen Körper – auf die Bühne bringe.
Laura Bowler
JF: Das bringt mich auf einen weiteren Gegensatz: Die Tatsache, dass über den Körper überhaupt nicht gesprochen wird, wenn man im Chor singt, womit ich selbst angefangen habe. Man stellt 25 Körper auf die Bühne und spricht dann nur über Vibrato und Intonation oder darüber, dass die Soprane zu laut sind!
LB: Was ich an deiner Arbeit faszinierend finde, ist die zutiefst theatrale Qualität deiner Performance, auch wenn das nicht unbedingt der Ausgangspunkt deiner Praxis ist. Daher wollte ich dich nach der Beziehung deiner Praxis zum Theater sowie zu den von dir dargestellten Charakteren fragen.
JF: Ich habe nie sonderlich viel Zeit damit verbracht, über diese beiden Aspekte nachzudenken. Die Frage fühlt sich auch auf eine Art unangenehm an, weil ich mich selbst nicht als Theaterdarstellerin verstehe. Vielleicht betrachte ich mich als theatralische Person, weil ich denke, dass ich ein bisschen verrückt bin – aber nicht als Theaterdarstellerin! Das ist nicht das, was ich als meine Stärke ansehe. Daher habe ich nicht das Gefühl, dass ich in die Theaterwelt gehöre. Ich habe nie eine Theaterausbildung erhalten, ich komme aus dem Bereich des Klangs. Ich bestimme also immer noch selbst, was man sieht, wenn man mir auf der Bühne zuschaut.
LB: Wenn ich dir zuschaue, habe ich den Eindruck, dass du nicht künstelst – alles fühlt sich sehr real an. Das gibt mir das Gefühl, einer Behausung, einer zutiefst theatralischen Behausung des Werks beizuwohnen.
JF: Ich mag keine Künstlichkeit, das gibt mir ein ungutes Gefühl. Vielleicht ist das der Grund, warum ich keine Theaterausbildung absolviert habe. Als ich etwa 14 Jahre alt war, habe ich in der Schule versucht, an einer Inszenierung von „Oliver Twist“ mitzuwirken. Die Erinnerung daran ist ein bisschen verschwommen und eher traumatisch. Ich glaube, ich musste Olivers tote Mutter spielen. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich irgendetwas sagen oder tun musste, aber ich war völlig verängstigt von der Aufgabe [lacht], also bin ich aus der Produktion ausgestiegen! Das einzige Mal, als ich tatsächlich an einer Operninszenierung beteiligt gewesen bin, konnte ich zum Glück unter der Regie einer Person arbeiten, die sich darauf konzentriert hat, Wahrheiten zu finden – es ging nicht darum, etwas vorzutäuschen. Sonst hätte das überhaupt nicht funktioniert.
Mit dem Konzept einer Figur oder eines characters kann ich schon mehr anfangen. Aber ich muss immer durch das Material zur Figur gelangen. Die Stücke, die in dieser Hinsicht für mich extrem wichtig waren und am besten funktionieren, sind die „Récitations“ von Georges Aperghis. Natürlich geht es in diesen Stücken nicht um eine Figur, eine Geschichte oder eine Erzählung – es gibt keine Bühnenanweisungen. Man hat es einfach mit musikalischem Material zu tun, das an sich einen Charakter hat. Das war für mich die Offenbarung: Man kommt mit musikalischen Gesten in Berührung, die dir plötzlich etwas sagen. Es gibt diesen seltsamen, séancehaften Moment, in dem die Figur auftaucht, weil man versucht, die Noten und den Rhythmus richtig hinzubekommen. Dann versteht man, was da vor sich geht. Es ist, als hätte Aperghis dir ins Ohr geflüstert. Diese Richtung schlage ich immer ein: Ich lasse mir vom Material die Figur erzählen.
Juliet Fraser
LB: Das ist interessant. Denn das, was du über die Beschäftigung mit dem Klang als deinem eigentlichen Fokus sagst, steht im Widerspruch zu meinem Ansatz, dass ich mich zunächst mit der theatralen Komponente beschäftige. Auf diese Weise bin ich auch Komponistin geworden [lacht]. Im Kompositionsprozess gehe ich es andersherum an: Ich denke immer an das Theater darin. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Ensemble, Solist*innen, die winzige Geste einer einzelnen Person oder einen beliebigen Kontext handelt. Ich sage immer, dass es bei allem, was einer Instrumentalpassage eingeschrieben ist, genauso um den durch sie erzeugten Klang geht, wie es darum geht, wie sie aussieht. Die Körperlichkeit ist genauso wichtig wie der Klang.
JF: Das ist der Grund, warum ich deine Arbeit mag – weil beides miteinander verbunden ist. Ich habe nicht das Gefühl, dass du an den Rändern ausfranst oder dass die Beziehung zwischen diesen beiden Welten künstlich ist. Da du Sängerin bist und oft für die Stimme schreibst: Was reizt dich an den allgemeinen Qualitäten und potenziellen Funktionen der „Stimme“? Und wie verhält sich das zu den spezifischen Eigenheiten einzelner Sänger*innen?
LB: Für mich – und das gilt sicher nicht für jede*n Komponist*in oder jede Person – ist das Wichtigste, wenn ich über die Stimme nachdenke oder für die Stimme schreibe, der Atem – alles ist mit dem Atem verbunden. Das ist für mich die einzige allgemeingültige Regel. Alles andere ist bei jeder einzelnen Person, mit der man arbeitet, verschieden. Wenn ich für andere schreibe, ist die Herangehensweise einfach beschrieben: Lerne diese Person kennen! Verbringe viel Zeit mit ihr, stell ihr viele Fragen! Dann solltest du auch in der Lage sein, für sie zu schreiben. Denk nicht an eine bestimmte Klammer, ein bestimmtes Register, einen bestimmten Tonumfang oder Ähnliches – denk einfach an die Person! Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich so gerne für die Stimme schreibe. Obwohl ich auch für Instrumentalist*innen schreibe, ist das nicht dasselbe. Die Arbeit mit der Stimme geht mit einer Form von Intimität einher, die ich bei der Arbeit mit Instrumentalist*innen so nie ganz erreicht habe – und das ist faszinierend.
Und dann ist da natürlich noch der textliche Aspekt, der einen großen Teil meiner Arbeit ausmacht. Ich nehme an, der Unterschied zwischen dem Schreiben für mich selbst und dem Schreiben für jemand anderen liegt in der Frage nach dem Einverständnis der anderen Person. Ich kann mit mir selbst machen, was ich will, ich kann mir alles zumuten, was ich möchte, aber das geht nicht, wenn ich für andere schreibe. Obwohl ich mit bestimmten Sänger*innen, die mich ausdrücklich darum gebeten haben, Aspekte extremerer Praktiken erforscht habe, muss immer ein Element der Sorgfalt vorhanden sein. Das fällt weg, wenn ich für mich selbst schreibe.
JF: Text beziehungsweise Wörter können eine Barriere und einen Stresspunkt für Komponist*innen darstellen. Du hast aber offensichtlich ein recht positives Verhältnis dazu.
LB: Wenn ich schreibe, verbringe ich vielleicht zwei Drittel der Zeit damit, viele Bücher über ein Thema zu lesen und einfach Passagen aus den Büchern abzuschreiben. Natürlich alles farblich gekennzeichnet [lacht]! Dann filtere ich all diese Texte und baue daraus eine Libretto-Collage. Und das ist normalerweise überhaupt nicht poetisch. Ich sammle Arbeitsmaterial. In der Regel fühle ich mich dabei zu akademischen Texten hingezogen, weil es mir weniger problematisch scheint, in sie einzugreifen und ihnen meine eigenen künstlerischen Ideen aufzupropfen. Das liegt auch daran, dass es so viele Texte gibt, die ich liebe – wie zum Beispiel die von Samuel Beckett. Ich würde nie seine Werke vertonen, selbst wenn die Beckett Foundation es mir erlauben würde. Ich könnte es einfach nicht. Es ist ja schon da, es ist sowieso schon Musik.
Die Arbeit mit Texten hingegen, die nicht dafür gedacht sind, auf diese Weise betrachtet oder verwendet zu werden, gibt mir die Freiheit, mit ihnen zu spielen. Außerdem entstehen dadurch wunderbare Beziehungen zu den Autor*innen, die sich darüber freuen, dass ich etwas Kreatives mit ihrem Text gemacht habe. Das würde ja normalerweise nicht passieren. Normalerweise gäbe es viele Auseinandersetzungen, wenn es sich um Dichter*innen beziehungsweise Schriftsteller*innen handelt – und das ist ja auch verständlich. Auch wenn ich Werke schreibe, in denen kein Text vorkommt, durchlaufe ich einen ähnlichen Prozess.
Ich habe vor kurzem eine Oper geschrieben, deren Libretto von der Dramatikerin Laura Lomas verfasst wurde. Es war ein wirklich schöner Text. Und das führte zu einem ziemlichen Meinungsaustausch. Denn es gab Passagen in dem Werk, die ich absichtlich so geschrieben hatte, dass mehrere Textschichten übereinander geschoben wurden. Und Laura war sehr besorgt darüber, dass der Text auf diese Weise unverständlich werden könnte. Ich probierte dennoch, sie davon zu überzeugen, dass es genau darum ging – dass ich versuchte, dieses Gefühl der Überwältigung in dem Stück zu manifestieren. Es geht mehr um das Körperliche und um das, was die Stimme dadurch hervorrufen kann. In diesem Fall können mehrere Stimmen allein mittels dieser Überlagerungen etwas in den Hörenden auslösen, sodass man den Text gar nicht mehr braucht. Und was sagt uns das über die Funktion des Textes in einem Libretto? Ich spreche viel mit meinem Mann, der Librettist ist, über diese Dinge. Er ist der Überzeugung, dass der Text in einem Libretto irrelevant ist, weil er einzig und allein für die Komponist*innen eine Bedeutung hat. Das war’s. Wir streiten oft darüber. Aber ich denke, das liegt wohl daran, dass ich ihm zustimme und mich dennoch nicht so einfach vom Text lösen kann.
Juliet Fraser ist Sopranistin, Gründerin und künstlerische Leiterin des Festivals eavesdropping sowie Co-Direktorin von all that dust, einem unabhängigen Label für Neue Musik.
Laura Bowler ist Komponistin, Vokalistin und Dozentin für Komposition an der Guildhall School of Music and Drama und am Royal Northern College of Music – spezialisiert auf Theater, multidisziplinäre Projekte und Oper.
Das Gespräch fand am 22. März 2023 im Rahmen der Library of MaerzMusik statt, einem Raum für Wissensaustausch und neue Begegnungen. Die Festivaledition umfasste auch Aufführungen von Frasers Programm „Variations on a Voice“ – mit Werken für Stimme und Elektronik von Cassandra Miller, Lawrence Dunn und Rebecca Saunders – und Øyvind Torvunds „Plans for Future Operas“ sowie Bowlers Performance ihres eigenen Werks „FFF“.