Text | Interview | MaerzMusik 2025
Vertrautes Material mit Eigenleben

Brigitta Muntendorf im Gespräch mit Julia Decker
Julia Decker (JD): Ihr Stück „MELENCOLIA“ haben Sie nach dem Gefühl der Melancholie benannt. Wie definieren Sie Melancholie: als Krankheit und Vorstufe zur Depression oder als Schwester der Genialität
Brigitta Muntendorf (BM): Das Schöne an der Melancholie ist, sie entzieht sich eindeutigen Zuschreibungen und jeder Versuch einer Definition führt zur Vereinfachung und somit zur Entzauberung oder Verflachung. Ich würde Melancholie als eine Haltung beschreiben, die uns erlaubt oder uns vielleicht auch zwingt, Widersprüche zu beobachten und auszuhalten. Ein Stillstand, der jedoch keinesfalls – wie bei der Depression – pathologisch ist, sondern uns in eine tiefe Auseinandersetzung mit uns und der Welt führt. Würden wir der Unbestimmtheit, der Vergänglichkeit und Widersprüchlichkeit einen festen Stellenwert in unserem Denken und Fühlen einräumen, könnten wir auf diesem Planeten vielleicht eine andere Form des Zusammenlebens finden.
JD: Sie verwenden Texte aus verschiedenen Jahrhunderten zum Thema Melancholie: Was, außer der Überschrift, verbindet einen 500 Jahre alten Text des Schriftstellers Robert Burton mit Fußball-Prosa oder Love-Song-Lyrics?
BM: Melancholie ist als Phänomen uralt, aber ihre Erscheinungsformen wie auch der Umgang mit ihr unterliegen einem ständigen Wandel und erzählen etwas über die jeweiligen Gesellschaften. Zu Burtons Zeit kam der Begriff und die Praxis der Anatomie in Kunst, Medizin und Wissenschaft auf, so versucht er in „Anatomie der Melancholie“ die Gründe der unglücklichen Melancholie anhand von Beobachtungen des menschlichen Verhaltens zu erforschen. Der Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint findet in Zinédine Zidanes Kopfstoß bei der Fußball-WM 2006 das zutiefst melancholische Moment: die letzte Flucht vor dem vollendeten Werk. Ein geschriener Love Song steht für mich für jenes Phänomen unserer Zeit, dass zunehmend auf Lautstärke statt auf Sensibilisierung gesetzt wird. In den plattformkritischen Texten Geert Lovinks, die unsere ganze Konzeption durchtränkt haben, prallen kreatives Potenzial der Melancholie und jene „designte Traurigkeit“, mit der soziale Online-Plattformen ihre Millionen User*innen in Abhängigkeiten halten, aufeinander. Es sind keine Widersprüche, unsere Wirklichkeit ist komplex und vielfältig und wir müssen mit sämtlichen Parallelwelten umgehen.
JD: Albrecht Dürers Bild „Melencolia I“ wird in der Beschreibung zu ihrem Stück als „Sinnbild für die Widersprüche und das Unlösbare inmitten menschlicher Sehnsucht nach Erlösung“ beschrieben. Warum beschäftigt sich das Musiktheater so gern mit dem Erlösergedanken?
BM: Unser Stück „MELENCOLIA“ schaut mit einem Lächeln auf den Wunsch nach Erlösung, denn das Stück stiftet mehr Chaos als Ordnung, entwickelt musikalisch eine ganz eigene Logik und wirft mehr Fragen auf als es beantwortet. In der Melancholie gibt es keine Erlösung, es gibt nur Gedankenschleifen, Assoziationen, Verkettungen. Und ebenso erlebt der Abend einen ständigen Wandel und spielt mit fließenden Übergängen zwischen weit voneinander entferntem Bild-, Video- und Musikmaterial.

JD: Die künstlerische Leitung haben Sie zusammen mit Moritz Lobeck übernommen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
BM: Wir haben schon einige Projekte zusammen gemacht, wie zum Beispiel „Covered Culture“, eine audiovisuelle Installation über das Phänomen der Hymne ausgehend von der Europahymne mit über 100 Chorsänger*innen und Performer*innen, die in verschiedenen Museen und Galerien in China, Japan und Korea präsentiert wurde – und das während der Pandemie. Wir haben von Berlin, Köln oder Dresden aus Proben geleitet, Videos gedreht, Aufbauten koordiniert und an Openings teilgenommen, danach wussten wir, dass wir ein gutes Team sind! Als Kulturwissenschaftler, Operndramaturg und Festivalkurator bringt Moritz Lobeck ein übergreifendes und ganz anders ausgeprägtes Kontextdenken in die Zusammenarbeit, das mich kompositorisch sehr inspiriert.
JD: Haben Sie ein Publikum vor Augen, wenn Sie komponieren?
BM: Es macht mir großen Spaß, mich immer wieder in den Zustand des Rezipierens zu versetzen. Ich denke an ein Publikum, das Lust hat, Assoziationen zu entwickeln und ihnen zu folgen. Ich denke an ein Publikum, das vielleicht gerade gestresst von der Arbeit kommt und in eine andere Welt eintauchen will. Oder sich schon lange vorgenommen hat, sich einmal zeitgenössischer Musik zu stellen. Wir hatten bei der Premiere bei den Bregenzer Festspielen und letztes Jahr beim Holland Festival große Erfolge mit sehr unterschiedlichem Publikum. Mich hat vor allem gefreut, dass trotz Technologie und KI auch ältere Generationen einen Zugang gefunden haben. „MELENCOLIA“ braucht letztlich nur eines: Freude daran, sich von schrägen Assoziationen mitnehmen zu lassen, um sich an irgendeinen Punkt inmitten einer Szenerie zu befinden, in der zum Beispiel Schlagzeuger*innen Computer spielen, während ein Engel zwei Geigen in Barockästhetik dirigiert – begleitet von einem Fußballchor.
JD: Merken Sie, dass es immer noch Berührungsängste mit Neuer Musik gibt?
BM: Es existieren vor allem Vorurteile – aber die Neue Musik ist kein Absolutum, sie ist ein Spektrum. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die sich mit Neuer Musik schwertun, bei meiner Musik leichter einen Zugang finden, was vielleicht daran liegt, dass ich viel mit Referenzen arbeite, mit Material, das uns vertraut erscheint, in meiner Musik aber ein Eigenleben, eigene Zusammenhänge entwickelt. Ich betrachte das „Neue“ immer als eine Umdeutung bestehender Bedeutungen.
JD: Die klassische Musik wurde über Jahrhunderte von Männern dominiert. Wie geht es Ihnen als Komponistin im Jahr 2025?
BM: In den letzten 20 Jahren hat sich vieles verändert: Komponist*innen erfahren zunehmend Unterstützung, und das Bewusstsein für eine ausgewogene Repräsentation sowie die gezielte Förderung von Vielfalt hat spürbar zugenommen. Diese Entwicklung könnte jedoch stagnieren oder sogar Rückschritte erleben, insbesondere vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und politischer Verschiebungen, die Diversität und kulturelle Offenheit infrage stellen – in den Bereichen Musik und Technologie. Es braucht daher noch immer weibliche Vorbilder wie auch Institutionen und Festivals, die Komponist*innen im Bereich der Kunst und Technologie, aber auch im Bereich der großen Formen, programmieren und sichtbar machen.
JD: Sie arbeiten auch mit Künstlicher Intelligenz. An welcher Stelle in Ihrem Stück kommt KI zum Einsatz?
BM: Ich habe die Stimmen des Flöten- und des Kontrabass-Spielers des Ensemble Modern aufgenommen und sie anschließend mit Hilfe von KI geklont. Voice Clones und digitale Stimmen haben unseren Alltag als digitale Dienstleister*innen erobert. In „MELENCOLIA“ führen die Stimmen ihr Eigenleben, schreien uns an, sind melancholisch, poetisch, verzweifelt oder auch gelangweilt. Mittlerweile arbeite ich sehr viel mit Voice Cloning, unter anderem auch im Live-Einsatz. Mich interessiert, wie nicht nur Stimmen reproduziert, sondern wie auch verschiedenste Merkmale von Stimmen unabhängig voneinander auf andere Stimmen übertragen werden können. Ich finde die Vorstellung total faszinierend, Stimme als „host“ und nicht als „user“ zu begreifen, das heißt mit einer Stimme nicht nur einen individuellen, sondern ganz viele verschiedene soziale, kulturelle, aber auch digitale und künstlerische Kontexte öffnen zu können.
MELENCOLIA
JD: Screens, Bühne, Drohnen und Chor: Was für ein Setting erwartet das Publikum bei „MELENCOLIA“
BM: Ich arbeite leidenschaftlich gern mit Technologie, aber es ist immer das Ziel, dass sie im Erleben mehr oder weniger verschwindet. Einerseits findet sich das Publikum einer frontalen Bühnensituation gegenüber, gleichzeitig ist es aber von bis zu 60 Lautsprechern umgeben – inmitten einer 3D-Klanglandschaft. Es gibt ein Greenscreen-Studio auf der Bühne, in dem Musiker*innen und Chor in virtuelle Welten eingebaut werden können und somit Making-of und Illusion gleichzeitig stattfinden. Die Mitglieder des Ensemble Modern sind das ganze Stück über auf der Bühne, wechseln ihre Rollen zwischen Performenden und Musizierenden. Vor Beginn des Stücks kann das Publikum eine Smartphone-App in den Foyers des Haus der Berliner Festspiele anwenden. Die Objekte aus Dürers Bild „Melencolia I“ werden als animierte Wesen im Raum platziert – dabei entsteht eine Art Smartphone-Chor als Ouvertüre zum Stück. Aber so viel Technik „MELENCOLIA“ auch nutzt: Mir ist es ein großes Anliegen, sie immer als Kommunikationsmittel zu verstehen und einzusetzen.
JD: Im Rahmen von MaerzMusik 2025 erscheint „MELENCOLIA“ auch als Vinyl. Wie nutzen Sie dieses Format?
BM: Als Geert Lovink und ich uns nach der Aufführung von „MELENCOLIA“ 2024 beim Holland Festival in Amsterdam auf einen Drink am Ufer einer Gracht trafen, hatten wir die Idee, „MELENCOLIA“ in ein Medley zu verwandeln und es mit seinen Texten in Verbindung zu bringen, die eine wesentliche Inspirationsquelle für das Musiktheaterstück waren. Das Ergebnis „MELENCOLIC MEDLEY“ ist in der Tat ein echtes Medley – es umfasst musikalische Ausschnitte aus „MELENCOLIA“ und neue Arrangements mit „Sadness-Meditations“ von Geert, die wir auf Basis seines Buches „Sad by Design“ formuliert haben und die er selbst eingesprochen hat. Verschiedenste Aufnahmen, darunter Live-Aufnahmen der Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen, Studioaufnahmen im Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Stimmaufnahmen von Geert über Signal und Zoom oder jene Aufnahme von „Daisy, Daisy“, die als Teaser mit dem Ensemble Modern ein Jahr vor der Premiere von „MELENCOLIA“ entstand, sind in diesem Medley miteinander kombiniert. Man kann hier wahrlich von einem postdigitalen Arbeitsprozess sprechen, den ich bewusst auf einer Vinylplatte als analogem Medium festhalten wollte. Für mich hat der spezifische Klang von Vinyl etwas, das wie ein akustischer Rückbezug wirkt. Viele Phänomene des digitalen Zeitalters erscheinen oft als völlig neu, doch sie sind in Wirklichkeit Abwandlungen oder Intensivierungen älterer Mechanismen. Das Vinyl als Medium erinnert daran, dass vieles, was heute als Innovation gilt, in gewisser Weise bereits in der Vergangenheit angelegt gewesen ist.
Brigitta Muntendorf ist Komponistin und entwickelt in ihren Arbeiten neue Konzepte des Radical Listening, Environmental Storytelling und des immersiven Theaters. Seit 2018 ist sie Professorin für Komposition an der HfMT Köln und leitet ab 2026 die KunstFestSpiele Herrenhausen.
Julia Decker ist Journalistin und interviewt am liebsten Musiker*innen, Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen.