Text | Gespräch | Musikfest Berlin 2020

Komponieren wie ein Regisseur

Georges Aperghis im Gespräch mit Martina Seeber über sein neues Werk „Der Lauf des Lebens“

von Martina Seeber

Georges Aperghis © Kai Bienert
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Der Komponist Georges Aperghis ist bei den Berliner Festspielen kein Unbekannter. Seine Werke waren sowohl bei  MaerzMusik – Festival für Zeitfragen als auch beim Musikfest Berlin schon zu hören. In diesem Jahr wird eine neue Komposition von ihm – „Der Lauf des Lebens“ für sechs Stimmen und Ensemble – beim Musikfest Berlin 2020 uraufgeführt. Was verbirgt sich hinter dem Titel, welche Rolle spielen die Musiker*innen der aufführenden Ensembles, des Klangforum Wien und der Neuen Vocalsolisten, denen er das Stück auf den Leib geschrieben hat? Über das und vieles mehr hat die Musikjournalistin Martina Seeber mit dem den in Paris lebenden Komponisten gesprochen.

Verfügbar seit 13. August 2020

Lesezeit ca. 9 Min

Deutsch

Wortmarke Musikfest Berlin
  • Georges Aperghis © Kai Bienert
    Georges Aperghis
    © Kai Bienert

Martina Seeber (MS): „Der Lauf des Lebens“ – so heißt Ihre neue Komposition, die beim Musikfest Berlin 2020 uraufgeführt wird. Sie ist für das Klangforum Wien und die Neuen Vocalsolisten aus Stuttgart bestimmt. Das Werk dauert eine Stunde: ein ganzes Leben auf 60 Minuten komprimiert. Setzen Sie hier so etwas wie einen musikalischen Zeitraffer ein?

Georges Aperghis (GA): Ja, das geht in diese Richtung. Die Komposition ist vergleichbar mit einer großen Reise. Es gibt schreckliche Momente und solche des Glücks wie der Einsamkeit. Man gerät in komische wie tragische Situationen. Und es gibt Augenblicke, in denen alle in der Musik und im Theater vereint sind, Kinder und Erwachsene.

In die Mitte dieses Stücks habe ich Fragmente aus Goethes „Faust“ gesetzt. Die Musik kommt in ihrem Verlauf an einen Punkt, an dem sich der Komponist zu fragen scheint, ob er auf dieser Reise vielleicht verloren gegangen ist, ob er sich verirrt hat. Alles hält plötzlich inne und der Bassist singt nicht, er rezitiert Texte, die in dieser Situation eine gewisse Komik erzeugen. „Wo bin ich denn? Wohin will ich? Wo ist der Weg?“ Er fragt nach dem Weg, danach, wie denn die Komposition wohl weitergeht, aber natürlich auch, wohin das Leben führt.

MS: Dieser komponierte Lebenslauf, in dem der Bruch mit der Fiktion implementiert ist, ist also keine Geschichte über das Leben eines einzelnen Menschen von der Geburt bis zum Tod?

GA: Das Stück lässt sich eher mit einer Wanderung vergleichen. Es tauchen Dinge und Wege auf, die zusammenfinden, andere, die sich trennen und lösen, um sich dann wieder zu begegnen. Extreme Kontraste folgen aufeinander und stehen nebeneinander. Auf diese Konstellationen trifft man ja in fast jeder Musik. Es verhält sich wie im sogenannten echten Leben. Das Leben ist verrückt und disparat. Davon erzählt dieses Stück.

MS: Bevor sie die ersten Noten aufs Papier schreiben, arbeiten Sie intensiv mit den jeweiligen Musiker*innen zusammen. Was geschieht da?

GA: Die beiden beteiligten Ensembles kenne ich schon lange und gut. Ich habe schon früher für das Klangforum Wien und für die Neuen Vocalsolisten komponiert. Dafür habe ich mich mit den Mitgliedern vorab einzeln getroffen und viel Zeit mit Ihnen verbracht. Wir haben diskutiert, wir haben über Musik gesprochen, aber auch über alle möglichen anderen Themen, über Theater oder den ganz normalen Alltag.

MS: Es geht bei den Recherchen und Vorarbeiten also nicht ausschließlich um spezielle Gesangs- und Spieltechniken oder die Möglichkeiten des jeweiligen Instruments?

GA: Am Ende läuft es natürlich darauf hinaus, dass ich Musik schreiben will. Aber ich lerne die Menschen gerne kennen. Ich bin zum Beispiel für ein paar Tage nach Wien gereist, um das Klangforum als Ensemble, aber auch die einzelnen Mitglieder besser kennen zu lernen. Bei solchen Begegnungen entsteht etwas in meinem Denken, das man mit neuen Farben beschreiben könnte. Ich komponiere ja keine naturgetreuen Porträts der einzelnen Musiker*innen, wie es vielleicht ein Maler tun würde. In meinem Kopf entstehen Bilder, die sich später in Musik verwandeln.

Es sind musikalische Figuren, wie es sie auch in einer Sonate gibt – ähnlich wie die Kunstfiguren in einem Theaterstück. Es sind Ideen.

MS: Und wir als Zuhörer*innen erleben die Künstler*innen, mit denen die Musik und die Ideen verbunden sind, anschließend bei der Aufführung. Die Interpret*innen interpretieren also ein Stück, das sie selbst spiegelt. Wie sehen diese Beziehungen zwischen den realen Musiker*innen und der Kunstidee eigentlich konkret aus?

GA: Sie sind in der Regel sehr allgemein. Wenn ich Musiker*innen kennen lerne, die gewissenhaft arbeiten, die dem Notentext sehr treu sind und sich nicht trauen, die Partitur einfach in sich einzuatmen, dann neige ich vielleicht dazu, etwas zu schreiben, das sie dazu bringt, aus sich herauszugehen. Wenn ich hingegen jemanden vor mir habe, der gerne improvisiert, mache ich möglicherweise das Gegenteil. Ich führe die Musiker*innen gerne dorthin, wo sie sich nicht auskennen. Ich versuche das aufzuspüren und mir vorzustellen.

MS: Heißt das, sie komponieren wie ein Regisseur?

GA: Ich versuche mir vorzustellen, was hinter dem liegt, was ich vorfinde. Ich suche nach dem, was man normalerweise nicht sieht.

MS: Wenn Sie mit Ensembles wie den Neuen Vocalsolisten und dem Klangforum Wien arbeiten, ist es für Sie ein Vorteil, dass die Musiker*innen hochgradig spezialisiert sind? Wenn sie mit diesen Ensembles arbeiten, bewegen sie sich ja automatisch in der kleinen Nische der zeitgenössischen Musikpraxis.

GA: Ich finde es unglaublich interessant, mit Musiker*innen zu arbeiten, die sich auf ihrem Gebiet wirklich auskennen. Es sind Künstler*innen, die in ihrem jeweiligen Gebiet forschen und immer noch ein Stück weitergehen. Wenn ich zum Beispiel für ein Symphonieorchester oder für ein nicht spezialisiertes Kammerensemble schreibe, gehe ich grundsätzlich sehr viel weniger Risiken ein. In solchen Fällen muss ich versuchen, alles einfach zu halten. Ich muss schreiben, was die Interpret*innen und ich schon kennen.

Wenn ich hingegen für Musiker*innen komponiere, die mit Vierteltönen vertraut sind und sich mit experimentellen Spieltechniken auskennen, kann ich mit ihnen nach neuen Möglichkeiten suchen. Und genau darin besteht die Arbeit und das Leben eines zeitgenössischen Komponisten. Ich brauche solche Musiker*innen unbedingt.

MS: Zugleich riskiert man damit, sich in einer Blase einzurichten.

GA: Ich denke, dass die Orchester immer nachziehen. Wir sind nicht isoliert. Die Ideen, die ein spezialisiertes Ensemble heute zum Klingen bringen kann, kann ich in zehn oder zwanzig Jahren auch mit einem Orchester realisieren. Die Spielpraxis entwickelt sich immer weiter.

MS: Hat sich das Ideal des Interpreten über die Jahrzehnte Ihres Komponistenlebens geändert?

GA: Für mich nicht. Ich liebe es nach wie vor, mit Menschen zu arbeiten, die Talent besitzen. Ob sie auch improvisieren oder schauspielern können, spielt keine Rolle. Auch diese Unterschiede erzählen etwas von unserer Welt, vom Leben und den Mythen der Gegenwart. Für mich sind alle Medien gut, auch die technologischen. Ich mag es simpel, aber auch handwerklich anspruchsvoll. Mich interessieren alle Gegensätze.

MS: In ihrem Werkkommentar beschreiben Sie „Der Lauf des Lebens“ als eine Reise, die irgendwann auf einen Berg führt. Was geschieht, wenn die Ensembles – einzeln, in Gruppen oder gemeinsam – den Gipfel erklommen haben? Verraten Sie das?

GA: Irgendwann hört das Stück auf und das Leben geht weiter. Und dann folgt das nächste Stück.

Das Konzert mit Klangforum Wien und den Neuen Vocalsolisten mit der Uraufführung von „Der Lauf des Lebens“ von Georges Aperghis findet am 4. September um 21:00 in der Philharmonie statt. Es  handelt sich um das zweite Konzert des Klangforum Wien. Ebenfalls am 4. September tritt das Ensemble bereits um 17:00 in der Philharmonie auf, mit einem Programm, das der Komponistin Rebecca Saunders gewidmet ist.