Text | Essay | Musikfest Berlin 2020

Kunstvolle Linien, Klangflächen, Tanzgesten

Zu Johann Sebastian Bachs Suiten für Violoncello

von Martin Wilkening

Ein Magnet schwebt über einem mit flüssigem Stickstoff gekühlten Hochtemperatursupraleiter. Foto Peter Nussbaumer 2005, Wikimedia Commons
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Johann Sebastian Bachs 6 Suiten für Violoncello sind ein Werk, das weit bis in das 20. Jahrhundert kompositorisch und in seinen Anforderungen an die Interpret*innen das Maß aller Dinge war und die Entwicklung des Cellos musikalisch wie technisch in neue Sphären führte. Der Autor Martin Wilkening beschreibt eindrücklich, warum Bach mit diesen Werken Neuland betrat. Beim Musikfest Berlin 2020 begibt sich der deutsch-französische Violoncellist Nicolas Altstaedt am 6. September in diese Überfülle der Bachschen Musik.

Verfügbar seit 28. August 2020

Lesezeit ca. 17 Min

Deutsch

Wortmarke Musikfest Berlin
  • Nicolas Altstaedt © Marco Borggreve
    Nicolas Altstaedt Cellist
    © Marco Borggreve

A Violoncello solo senza basso

Wann genau Johann Sebastian Bach seine sechs Suiten für Violoncello schrieb, wissen wir nicht. Vollendet wurden sie während seiner ebenso kurzen wie ertragreichen Zeit als Kapellmeister in Köthen (1717 – 1723), die fast ausschließlich der Instrumentalmusik gewidmet war. Stilkritischen Untersuchungen zufolge gehen die ersten drei Suiten jedoch möglicherweise auf die Zeit in Weimar zurück, wo Bach seit 1708 gewirkt hatte. Ebenso wie die sechs Violin-Soli, aber im Gegensatz zu seinen Suiten-Zyklen für Klavier, ließ Bach die Cello-Suiten nicht im Druck erscheinen. Während allerdings die Violin-Soli in Bachs eigenhändiger Schrift überliefert sind, existieren von den Soli für Cello lediglich Abschriften. Die für die Überlieferung bedeutendste, wenn auch nicht die erste, ist diejenige, die Bachs Frau Anna Magdalena um 1730 für einen Musiker in Braunschweig anfertigte. Hier ist die Sammlung der sechs Suiten a Violoncello solo senza basso (für Violoncello ohne Bass) zusammengebunden mit den Soli für Violine, in denen sich Suiten und Sonaten abwechseln.

Beide Zyklen gehören durch ihre Schreibweise für ein Streichinstrument ohne stützende Begleitstimmen zusammen. Dafür gab es bei der Violine eine Reihe von Vorbildern, bei den Cello-Stücken jedoch betrat Bach Neuland, auch wenn im Hintergrund wohl die hochentwickelte ältere Gambenmusik zur Anregung diente. Das Cello hatte, als später Zuwachs in der Familie der Streichinstrumente, erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts begonnen, sich auch als Soloinstrument zu behaupten, und es wurde in Bachs Umfeld noch fast ausschließlich als begleitendes Generalbassinstrument eingesetzt. So besitzen die Cello-Suiten in Bezug auf die instrumentale Praxis der Bach-Zeit ausgesprochen experimentellen Charakter. Dieser zeigt sich in dem ansteigenden Schwierigkeitsgrad der sechs Suiten ebenso wie in der Grenzüberschreitung instrumentaler Standards in den letzten beiden Suiten: Die fünfte Suite verlangt zur Darstellung vierstimmiger Akkorde die Skordatur, die Herunterstimmung der höchsten Seite um einen Ton. Und die sechste Suite schrieb Bach für ein fünfsaitiges Cello, das in der Höhe eine zusätzliche E-Saite besitzt und dessen besondere Resonanz-Möglichkeiten die kompositorische Idee mitbestimmten.

In den Formplänen der Cello-Suiten treten demgegenüber einheitliche und eher schlichte Züge hervor. Nicht zuletzt aus diesem Grund werden sie meistens als eine Art kompositorische Vorstudie zu den Violin-Soli betrachtet. Auf dem Cello stellt das akkordische Spiel eine noch größere Herausforderung als auf der Violine dar. Reizvoll ist deshalb auch die umgekehrte Vorstellung, dass die Cello-Suiten nicht zuletzt in der kompositorischen Herausforderung durch noch stärkere Reduktion zur melodischen Linie entstanden sind und so in ihrer Kunst des Weglassens zumindest teilweise auch als eine Weiterentwicklung der Violin-Soli verstanden werden können. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, wie in der fünften Suite einerseits das akkordische Spiel gegenüber den vorausgegangenen Stücken ausgeweitet wird, andererseits aber gerade in dem Satz, in dem in allen anderen Suiten Akkorde vorkommen, nämlich in der Sarabande, eine auf das wesentliche reduzierte Einstimmigkeit herrscht. Und in den Linienzügen gerade dieser Sarabande werden mit gehäuften verminderten und übermäßigen Intervallen komplexe harmonische Vorgänge suggeriert, die nicht als Herausforderung der Spieltechnik sondern der Vorstellungskraft von Spieler*innen und Hörer*innen angelegt sind.

„Das Erregende an Bachs Musik ist nicht so sehr der Charakter der Melodie als vielmehr ihr Kurvenverlauf. Noch mehr wirkt die gleichlaufende Bewegung der Linien ihr zufälliges Zusammentreffen, ihr einmütiges zusammengehen, auf die Empfindung ein. Mit dieser ornamentalen Konzeption gewinnt die Musik die Sicherheit eines mechanischen Ablaufs, der den Hörer beeindruckt und mancherlei Vorstellungen in ihm auslöst.“

— Claude Debussy 1901

Bach und die Suite

Die Suite der Bach-Zeit hat sehr unterschiedliche Gesichter. In seinen Suiten-Sammlungen folgt Bach, anders als etwa Händel, jeweils einem für die ganze Sammlung verbindlichen Modell, das in den einzelnen Stücken mehr oder weniger variiert wird. Vorbild seiner Suiten für Soloinstrumente ist die deutsche Klaviersuite des späten 17. Jahrhunderts, die ihrerseits auf französische Ursprünge zurückgeht. Vier Sätze sind darin obligatorisch: Allemande, Courante, Sarabande und Gigue.

Die Bindung dieser vier Satztypen an tatsächliche Tanzmusik der Bach-Zeit (im Theater, auf Bällen, auf einfachen Festen) ist unterschiedlich stark. Während die Allemande ein nur noch in der stilisierten Form existierender Charakter ohne jede Tanzpraxis war, fungierte die Courante zu Bachs Zeit vor allem als Übungsstück im Tanzunterricht, da sie, wie eine zeitgenössische Quelle vermerkt, „alle Fundamenta und Requisita“ eines „galanten Täntzers“ enthält. Die Sarabande, die von spanischen Kolonisatoren aus Mittelamerika nach Europa mitgebracht wurde und in ihren Ursprüngen als lasziv und aufreizend beschrieben wurde, erfuhr im Frankreich des 17. Jahrhunderts als Hoftanz eine besonders starke Stilisierung genau in die entgegengesetzte Richtung, hin zum Beherrschten, Geordneten, zu Ernst und Ruhe. Sie besaß in Bachs Welt ähnlich fantasieanregende Züge wie die Gigue, in deren unterschiedlichen Ausprägungen verschiedene reale Tänze zusammenfließen. Sie drückt als schnelles Instrumentalstück eine grundsätzliche Freude an Bewegung aus und besitzt eine besondere Affinität zur imitierenden Darstellung von Freiluftmusik durch Hörnerschall oder Dudelsackklänge.

Bachs Suiten-Sammlungen, die für Cello wie die für Klavier, enthalten jeweils sechs Suiten. Sie bauen auf dem Grundbestand der vier Standardsätze auf, unterscheiden sich jedoch durch dessen Erweiterungen. In den Englischen Suiten und den Partiten für Klavier wird der Allemande jeweils ein Einleitungssatz vorangestellt, während die Französischen Suiten direkt mit der Allemande beginnen. In allen Suiten erscheinen Einschübe von weiteren Tanzsätzen oder Variationssätze, sogenannte Doubles. So erhalten zwar alle Suiten ihr eigenes Gesicht, sind innerhalb einer Sammlung aber doch von einem gemeinsamen Modell geprägt, das sich von den Modellen der anderen Sammlungen unterscheidet.

  • Ein Magnet schwebt über einem mit flüssigem Stickstoff gekühlten Hochtemperatursupraleiter. Foto Peter Nussbaumer 2005, Wikimedia Commons
    Ein Magnet schwebt über einem mit flüssigem Stickstoff gekühlten Hochtemperatursupraleiter. Foto Peter Nussbaumer 2005, Wikimedia Commons

Die Cello-Suiten: Variationen eines Modells

Am einheitlichsten ist die Anlage in den sechs Cello-Suiten. Alle werden von einem Präludium eröffnet. Ihm folgen die vier Standardsätze, wobei zwischen der Sarabande und der Gigue jeweils ein Paar sogenannter Galanteriesätze eingeschoben wird. Bach zielt hier nicht auf stilistische Buntheit, sondern auf die Vielfalt einer inneren Differenzierung. Es gehört zu dem besonderen Reiz dieser Sechser-Reihe, dass die Galanteriesätze gerade nicht in jeder Suite wechseln. Bach verwendet für die sechs Suiten nur drei Tanz-Typen als Einschübe: das Menuett als den Modetanz seiner Zeit, die Bourée und die Gavotte. Jeder Tanztyp erscheint in zwei aufeinanderfolgenden Suiten, somit zweimal in ganz unterschiedlicher Umgebung. Und jeder dieser Galanteriesätze ist als Satzpaar angelegt, nach der Art eines Tanzsatzes mit Trio. Durch die Wiederholung des ersten Satzes ergibt sich eine ABA-Form. Die Standard-Sätze haben keine solche paarige Ergänzung. Auch dieser Kontrast unterstützt die Abstufung des Abstraktionsgrades, in dem Tanzformen hier auftreten: von der fast vollständigen Verinnerlichung körperhafter Gestik in der Allemande bis hin zur wirklichen Repräsentation tänzerischer Bewegungsmuster in den Galanteriesätzen. Die unterschiedlichen Galanteriesätze gliedern die Sammlung als Ganze. Durch die je zweimalige Verwendung der eingeschobenen Tanztypen könnte man die sechs Suiten in drei Paare unterteilen: Nummer eins und zwei haben ein Menuett-Paar an vorletzter Stelle, Nummer drei und vier jeweils zwei Bourréen, Nummer fünf und sechs ein Paar von Gavotten. Über dieser Dreiteiligkeit der ganzen Sammlung liegt aber auch eine Zweiteiligkeit, die sich aus dem Tonarten-Verhältnis innerhalb der Satz-Paare ergibt: In den ersten drei Suiten wechselt das Tongeschlecht innerhalb des Satz-Paares zwischen gleichnamigem Dur und Moll. In der zweiten Hälfte der Sammlung findet dieser Wechsel nicht statt, Tonart und Tongeschlecht bleiben gleich.

Die Einleitungssätze der Cello-Suiten sind, anders als etwa in den Klavier-Partiten, einheitlich als Präludien bezeichnet. Dabei benutzt Anna Magdalena Bach in ihrer Abschrift nur in der 4. Suite die eingedeutschte Schreibweise „Preludium“, sonst immer die französische Bezeichnung „Prélude“. Ungeachtet dessen repräsentieren die Präludien unterschiedliche Typen von Vorspielen und sind auch in unterschiedlichem Grad mit den folgenden Sätzen der Suite verbunden. Dreimal begegnet uns der Typ eines Klangflächen-Präludiums, das mit gleichbleibender Figuration vor allem auf harmonische Entwicklungen, Klangfarben und eine latente Mehrstimmigkeit durch gebrochene Akkorde gegründet ist (Suiten Nr. 1, 4 und 6). In der 2. und 3. Suite besitzt das Präludium hingegen einen klar durch Motivik und ihre Fortspinnung definierten Charakter, etwa nach dem Vorbild einer Invention. Und das Präludium der 5. Suite, das am weitesten dimensionierte dieser Sammlung, vereint in sich zwei Sätze: Eine improvisatorisch angelegte langsame Einleitung, die majestätische Akkordfortschreitungen durch weitgesponnene ornamentale Linienzüge verbindet und einen rhythmisch prägnanten Teil im schnelleren Dreiertakt, der das Paradoxon einer strikt in klingender Einstimmigkeit realisierten und trotzdem suggestiv polyphon wirkenden Fuge darstellt. In seinem Charakter und der Form knüpft dieses Präludium an das Modell einer französischen Ouvertüre an. Durch die Übertragung auf ein Streichinstrument erinnert es aber auch an die ersten zwei Solo-Sonaten für Violine mit ihrer Satzfolge von Adagio und Fuge.

Die Präludien zur 2. und 3. Suite entwickeln sich aus einer Spiel-Figur, die nicht nur den Impuls für die Fortspinnungen des Präludiums selbst gibt, sondern auch die Sätze der Suite miteinander verbindet. Diese Spiel-Figuren gehen, ähnlich wie die der Bachschen Inventionen, auf feste Topoi zurück, sind keine empfindsamen, sondern konstruktiv gewählte ‘Einfälle’ die dazu dienen, durch rhetorische Ausarbeitung das in ihnen liegende Potential zu entfalten. In der 2. Suite besteht diese Figur aus einem d-Moll-Dreiklang, der, verbunden durch Skalenausschnitte, von den chromatischen Außentönen Cis und B umrahmt wird. Die folgenden Sätze nehmen mehr oder weniger deutlich darauf Bezug, in essentieller, ausgedünnter Form erscheint das Motiv noch einmal zu Beginn der Gigue mit den Tonschritten A-D-B-Cis. Die Inventio der 3. Suite entspricht der Schlichtheit ihrer Tonart. Sie besteht in einer absteigenden vollständigen C-Dur-Tonleiter, die über eine weitere Oktave hinab in einem Dreiklangspendel ausschwingt. Allemande und Courante greifen daraus kontrastierend nur die Skala bzw. den Dreiklang auf, die Gigue als Abschlussstück dreht die Bewegungsrichtung der präludierenden Figur zu einer aufsteigenden Figur um.

Klangflächen, die aus gebrochenen Akkorden aufgebaut werden und die Illusion eines latent mehrstimmigen Pulsierens erzeugen, bilden den Ausgangspunkt der Präludien zur 1., 4. und 6. Suite. Dabei zeigt sich vor allem hinsichtlich der Weite und Dichte des klanglich durchmessenen Raumes eine deutliche Steigerung. Lässt sich das Präludium der 1. Suite zu Beginn auf der Basis eines dreistimmigen Tonsatzes verstehen, so bilden die Akkordbrechungen des 4. Präludiums einen im Prinzip sechsstimmigen Tonsatz. Dieser erscheint als ein oszillierendes Klangfeld, das in den gegeneinander verschobenen Impulsen der repetierten Töne der unterschiedlichen Lagen schwingt. Der Umfang der Präludien steigt ebenfalls, von 42 Takten des ersten auf 91 Takte des vierten Präludiums; das Präludium der 6. Suite schließlich umfasst 104 Takte. Im rhythmischen Charakter ähnelt es mit seinem 12/8-Takt einer Gigue. Die Klangflächen entfalten sich hier in Verbindung mit einer Brechung der Klangfarbe, denn Bach lässt das Anfangs-Motiv aufsteigender Dreiklänge aus sogenannten Barriolage-Klängenentstehen: Der Grundton, zu Beginn das D, erklingt stets zweimal hintereinander in einer anderen Klangfarbe, verdoppelt durch Saitenwechsel zwischen der gegriffenen tieferen Saite und der nachschwingenden leeren Saite. Dieses Motiv erscheint mehrmals auf den Hauptstufen der Tonart, und dabei kommt auch die hinzugefügte hohe E-Saite des von Bach verlangten fünfsaitigen Instruments zum Einsatz.

Bei einer zyklischen Aufführung aller sechs Suiten lässt sich das Anwachsen der klanglichen Mittel und der zeitlichen Proportionen als Steigerung unmittelbar nachvollziehen. In den letzten zwei Suiten steht der Interpret dabei vor einer grundsätzlichen Entscheidung. Wenn er auf die Skordatur in der 5. Suite und den Wechsel zu einem kleineren, fünfsaitigen Instrument in der 6. Suite verzichtet, lassen sich einzelne Akkorde und Klangvorstellungen nicht notengetreu realisieren. Dafür bleibt die Brillanz erhalten und die virtuose Herausforderung in den hohen Lagen bewirkt eine zusätzliche Steigerung, weil das Instrument, die Ausgangsbasis der Klangerzeugung, identisch bleibt. Der Wechsel zu einem fünfsaitigen Violoncello piccolo verengt zwar der Grund-Klang, aber er gibt uns die Möglichkeit, mehr von dem zu erfahren, was sich Bach hier tatsächlich gedacht hat.

Martin Wilkening

Nicolas Altstaedt spielt die Suiten für Violoncello solo I–III von Johann Sebastian Bach am 6. September 2020 um  11:00 und die Suiten für Violoncello solo IV–VI ebenfalls am 6. September um 15:00 in der Philharmonie im Großen Saal. Die Aufzeichnungen der Konzerte mit Nicolas Altstaedt stehen vom 7. September, 16:00 bis 10. September, 15:59 zum Nach- und Nochmalhören auf Musikfest Berlin on Demand zur Verfügung.