Text | Gespräch | Musikfest Berlin 2024

Ohne Musik wäre die Geschichte eine riesige Wüste!

Jordi Savall im Gespräch

Aufnahme von Jordi Savall beim Dirigieren
Dirigent, Gambist, Vordenker der Alten Musik: Jordi Savall
© Daniel Dittus

Olivia Artner im Gespräch mit Jordi Savall über „Un mar de músicas“ am 31. August 2024 in der Philharmonie Berlin

Verfügbar seit 16. August 2024

Lesezeit ca. 15 Min

Deutsch und Englisch

Wortmarke Musikfest Berlin

Olivia Artner: Herr Savall, „Un mar de músicas“ kombiniert Alte Musik aus Afrika, Amerika und von den Karibischen Inseln – Musik, über die wir hier in Mitteleuropa vergleichsweise wenig wissen. Was hat Sie zu diesem Programm inspiriert?

Jordi Savall: Zum einen habe ich mich intensiv mit der Präsenz der Spanier in Südamerika und den damit verbundenen musikalischen Einflüssen auseinandergesetzt. Dabei habe ich entdeckt, dass besonders zu Beginn des 17. Jahrhunderts viele Komponisten Stücke geschrieben haben, in denen die traditionelle Musik und die Sprachen der Sklaven und der indigenen Bevölkerung Spuren hinterlassen haben. Das sind die sogenannten „Villancicos de Lenguas“ oder „Villancicos Criollos“. Die Texte sind grundsätzlich auf Spanisch, aber die Strophen stehen zum Teil in afrikanischen oder indigenen Sprachen, oder sind davon beeinflusst. Ich habe auch in der Bibliothek von Las Palmas de Gran Canaria geforscht. An diesem Hafen haben viele Schiffe mit versklavten Menschen und Matrosen an Bord gewartet, bis das Wetter gut genug war, um die Reise nach Amerika anzutreten. Manchmal mussten sie dort einen Monat oder noch länger warten, bis die meteorologische Bedingungen eine so lange Reise zuließen. Es gibt auch „Villancicos de Lenguas“ mit Strophen in arabischer Sprache, auf Italienisch oder Polnisch – in vielen verschiedenen, teilweise auch unerwarteten Sprachen. Die Matrosen kamen aus vielen Ländern und sehr oft hatten sie auf der langen Reise entweder eine Gitarre mit, oder sie haben gesungen und getanzt. Sie brauchten eben Musik – und die Musik mussten sie selbst machen!

Olivia Artner: Sie spielen im Konzert vor allem Musik, die nur mündlich überliefert ist. Wie haben Sie diese Musik gefunden und was hat diese Reise durch die Geschichte in Ihnen ausgelöst.

Jordi Savall: Ich habe angefangen, viele Bücher über die Geschichte der Sklaverei zu lesen. Millionen von Menschen wurden jedes Jahr in Afrika gekidnappt und dann auf die Kanarischen Inseln oder an die verschiedenen anderen Orte gebracht, an denen versklavte Menschen in Gefängnissen gehalten wurden, bis ein Schiff oder ein Sklavenhändler kam, um sie abzuholen. Für diejenigen, die davon profitierten und damit Geschäfte gemacht haben, war das Leben der versklavten Menschen nichts wert. Mich hat diese Unmenschlichkeit sehr betroffen gemacht und die vielen tragischen Geschichten berühren mich immer wieder aufs Neue. Mir wurde klar: Ich muss über diese Geschichte sprechen – mit Musik. Daraufhin habe ich mit meinen Forschungen angefangen und festgestellt, dass ein Großteil der schönen Musik aus Amerika, jene Musik, die wir heute als Negro Spirituals kennen, aber auch die Musik des gesamten karibischen Raumes oder aus Kolumbien, Brasilien und Mexiko, von afrikanischen Traditionen entscheidend beeinflusst ist.

In dem Konzert hören wir besonders die afrikanischen Einflüsse auf die Musik Kubas. Es handelt sich dabei um Musikstücke sehr alter Religionen, die heute noch existieren. Ich habe angefangen, mit jungen Leuten zu arbeiten, die diese Traditionen lebendig halten. Und dann kam mir die Idee, ein Konzertprogramm mit historischen Werken zu gestalten, die um 1550–1600 gesungen wurden. Wir beginnen das Konzert mit Musik vom Anfang des 16. Jahrhunderts, um dann chronologisch in der Geschichte weiter zu gehen. Kombiniert mit alter traditioneller Musik afrikanischer Länder – aus Madagaskar und Mali – und aus Südamerika – Kolumbien, Brasilien und Mexiko – konnten wir ein wunderbares Programm zusammenstellen.

Olivia Artner: Der zweite Baustein dieses Programms sind Texte, die vorgetragen werden. Woher kommen diese Texte?

Jordi Savall: Ich war auf der Suche nach schriftlichen Quellen der Zeit, die davon erzählen, was passiert ist. Aus dem Jahr 1455 stammt das erste umfangreiche Dokument, in dem beschrieben wird, wie das System des Sklavenhandels funktionierte: Portugiesische Soldaten gingen in ein Dorf und nahmen alle jungen Leute mit. Die Soldaten töteten die Kinder, die Alten, nahmen die gesunden jungen Frauen und Männer und verschleppen sie auf ein Schiff. Dann kamen sie an die Algarve und wurden dort getrennt. Brüder von Brüdern, Frauen von Männern und so weiter. König Alfons V. auf seinem Pferd wählte schließlich einen Teil der versklavten Menschen für das königliche Paar aus. Diese Beschreibung dokumentiert zum ersten Mal die barbarische Unmenschlichkeit. Sklaverei gab es schon immer. Die ganze griechische Zivilisation hätte nicht funktioniert ohne eine Unterschicht, ohne Leute, die nur gearbeitet haben. Es ist eine sehr bewegende Geschichte, als der Kampf der Menschen ums Überleben, gegen die Sklaverei begann. Und die Musik spielte dabei eine wichtige Rolle.

Olivia Artner: Was erzählt uns die Musik der versklavten Menschen?

Jordi Savall: Sie müssen sich vorstellen, diese Menschen hatten nichts, vor allem keine Rechte. Aber sie konnten singen. Sie konnten tanzen. Und das war ihre letzte Freiheit. Wenn sie die Musik ihrer Kulturen sangen, spürten sie eine Verbindung zu ihrer Geschichte, zu ihrem Sein. Sie erzählten alte Legenden, schöne Geschichten. In erster Linie waren das keine Protestlieder, denn das war noch nicht möglich. Es waren Lieder, die sie mit ihrer Kultur, mit ihrem Land verbinden. Und in der Entwicklung der Erzählungen kann man gut erkennen, dass das Meer zu Beginn etwas war, was große Angst machte. Das Meer war die Route in eine unbekannte Welt, ohne Freiheit. In anderen Geschichten kommt dem Meer eine neue Bedeutung zu: Dann nämlich wenn die Menschen in der „Neuen Welt“ bereits angekommen sind und das Meer als einen Weg zurück in die Freiheit sehen. Der Titel zum heutigen Konzert Ein Meer von Musik bezieht sich auf die vielen musikalischen Traditionen, die uns bis heute erhalten geblieben sind und in denen das Meer eine bedeutende Rolle spielt.

Olivia Artner: Sie haben bereits erwähnt, dass traditionelle Musik afrikanischer Kulturen etwa in Kuba und Brasilien zu finden ist. Eine große Rolle spielt da auch religiöse Musik, vor allem aus der Religion der Yoruba. Diese Religion hat sich in Südamerika über den Lauf der Jahrhunderte mit christlichen Traditionen vermischt und eine Vielfalt an kulturellen Ausprägungen entwickelt. Worum geht es in dieser religiösen Musik der Sklavenzeit?

Jordi Savall: Die verschiedenen Religionen haben den Menschen geholfen, Hoffnung zu bewahren – die spirituelle Dimension ihres Daseins gab ihnen Kraft. Bis heute gibt es einen sehr starken Einfluss der Yoruba-Traditionen. Die Musik ist sehr kraftvoll, das werden wir in diesem Konzert auch hören. Das kommt besonders durch die großen Trommeln zur Geltung. Für jeden musikalischen Stil gibt es einen ganz besonderen Rhythmus. Es ist so eine unglaubliche, schöne, archaische Musik, so intensiv und so emotional.

Olivia Artner: Sie bringen also nicht nur alte europäische Instrumente, sondern auch die Instrumente dieser Kulturen mit.

Jordi Savall: Ja, jede Gruppe bringt verschiedene Instrumente mit. Aus Mali kommt zum Beispiel die Kora. Das ist eine westafrikanische Harfe, ein fantastisches Instrument. Die Mexikaner und die Kolumbianer spielen auf Gitarren aus dieser alten Zeit. Auch die Kubaner und Brasilianer bringen ihre Gitarren und Trommeln mit. Es ist ein fantastisches Mosaik unterschiedlicher Kulturen.

Olivia Artner: Welche Musik haben Sie aus Haiti mitgebracht?

Jordi Savall: Wir arbeiten mit einer Sängerin aus Haiti, Sylvie Henry, sie hat eine wunderbare Stimme. Sie singt sehr schöne traditionelle Lieder aus dieser Zeit. Es gibt diesen Kontrast in der Musik: Oft klingt sie sehr lieblich-süß, dann wie ein Lamento, schließlich wieder sehr freudig – die Menschen kompensierten ihre vielen Schwierigkeiten mit Gesang. Je mehr sie litten, desto optimistischer musste der Gesang sein. Das war die Energie, die sie gerettet und ihnen Kraft und Hoffnung gegeben hat.

Olivia Artner: Von Haiti und Kuba aus geht es über das Meer zum Festland: aus Mexiko steht Musik von Gaspar Fernandes auf dem Programm. Die Texte der Gesänge sind zum Teil in der alten Sprache Nahuatl, die von Azteken und weiteren Nauha-Völkern in Mittelamerika gesprochen wurde und die auch heute noch die Muttersprache von Teilen der indigenen Bevölkerung Mexikos ist. Die Lieder haben christliche Inhalte – wie ist dieser kulturelle Mix entstanden?

Jordi Savall: In Mexiko war es gebräuchlich, die alten Sprachen beizubehalten. Dadurch ist diese wunderbare Mischung der Musikstile entstanden. Dazu fällt mir Elias Canetti ein, der 1942 in „Provinz des Menschen“ schrieb, dass die wahre Geschichte der Menschheit die Musik sei. Die Musik spricht unsere Emotionen an, unser Herz. Wenn wir diese Alte Musik hören, löst sie in uns dieselben Gefühle aus wie in den Menschen damals. Und ich sage: Ohne Musik wäre die Geschichte nur eine riesige Wüste. Die Musik bringt Lebendigkeit in die Geschichte und über die Emotionen können wir sie ein Stück weit nachempfinden.

Olivia Artner: Wie hat die Musik der versklavten Menschen und der indigenen Bevölkerungen die europäische Musik beeinflusst?

Jordi Savall: Nehmen Sie zum Beispiel die Chaconne. Wir kennen heute fantastische Chaconnen von Bach, von Rameau, von all den großen Komponisten. Aber ungefähr 1590 spricht Lope de Vega von der so genannten Chacona, ich zitiere im Original: „Esta indiana amulatada que nos viene de las Indias.“ Er sagt, dass die Chacona von den Indigenen und Schwarzen aus der „Neuen Welt“ stamme. Das bedeutet, stellen Sie sich vor, ein Matrose, ein guter Sänger mit seiner Gitarre, singt ein Lied und dieses Lied wird von den schwarzen Menschen in Amerika imitiert. Sie entwickeln daraus eine neue Musik, die über das Meer zurück kommt und eine sehr populäre Chacona wird, bekannt als „A La Vida Bona“ von Juan Arañés, in Rom um 1608 gedruckt. Das ist die erste Chaconne. Und ihre Musik ist sehr lebendig. Später wird die Chaconne, wie alle Tänze im 17. Jahrhundert, schwerfälliger. Weil diese Tänze aus den Dörfern an den Hof kommen: Dort werden Perücken und große Kleider getragen und alles wird schwerfälliger und langsamer.

Olivia Artner: Sie haben dieses Programm mit Musiker*innen aus vielen verschiedenen Traditionen erarbeitet. Wie viel lernt man im Arbeitsprozess voneinander?

Jordi Savall: Ich habe heute enormen Respekt vor all diesen Musikern. Denn sie haben Musikmachen nicht am Konservatorium gelernt wie eine Fremdsprache, sondern Musik ist ein bedeutsamer Teil ihrer Muttersprache. Auch in Bulgarien, der Türkei oder Griechenland, wo die Musik aus antiken Traditionen kommt, lernt man die Musik, wie wir das Sprechen lernen. Das ist einverleibt. Wenn man Musik macht, die auf Improvisation basiert, ist das eine Bereicherung. Eine unglaubliche Atmosphäre entsteht, eine Kreativität, die authentisch ist. Das ist ein Kontrast zu unserer notierten Musik.

Olivia Artner: Herr Savall, was denken Sie, kann das Publikum aus diesem Konzert mitnehmen – gedanklich und emotional?

Jordi Savall: Ich hoffe, dass die Zuhörer*innen mehr Empathie zu diesem dunklen Moment unserer Geschichte entwickeln können. Ich glaube, das Gute einer Zivilisation liegt in ihrer Fähigkeit, ihre Geschichte zu reflektieren. Wenn wir unsere Geschichte nicht ausreichend kennen, können wir auch keine gute Zukunft gestalten. Und ich glaube, dass der Kontakt mit dieser lebendigen Musik der verschiedenen Kulturen und den vorgetragenen Texten, die uns erzählen, was passiert ist, etwas bewegen kann. Man kann sich nicht vorstellen, wie das Leben dieser Menschen war. Zu derselben Zeit lebten großen Philosophen und große spirituelle Ideen entstanden – doch gleichzeitig sind und bleiben wir Menschen Bestien. Ich würde mir wünschen, dass das Publikum Empathie empfindet und realisiert, dass wir heute immer noch ähnliche Probleme haben. Das ist alles sehr aktuell – leider.