Text | Gespräch | Musikfest Berlin 2025

Können wir den Himmel auf die Erde holen?

Lisa Streich im Gespräch

Fotografie mit der Komponistin Lisa Streich, deren  dunkle Haare und blauen Augen einen starken Kontrast bilden.
Lisa Streich
© Ricordi/Harald-Hoffmann

Die schwedische Komponistin Lisa Streich im Gespräch mit Julia H. Schröder über singende Skulpturen in Paris, dampfende Akkorde und die Relevanz von Konzerterlebnissen.

Das Musikfest Berlin 2025 widmet Lisa Streich zwei Konzerte. Ihre Werke „Himmel“ und „Vogue“ interpretiert das Ensemble Modern am 3. September 2025, während das EnsembleKollektiv Berlin „Ofelia“ und „Orchestra of Black Butterflies“ am 7. September 2025 aufführt. Beide Konzerte finden in der Philharmonie Berlin statt.

Das Gespräch fand am 21. Mai 2025 statt.

Verfügbar seit 17. Juli 2025

Lesezeit ca. 16 Min

Deutsch

Wortmarke Musikfest Berlin
Blick auf den Strawinsky-Brunnen mit Skulpturen von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely. 
Sie bilden einen Kontrast durch eher mechanisch-eiserne Konstruktionen und bunte, körperbetonte Formen. Eine der Skulpturen ist wie ein Notenschlüssel geformt.
Strawinsky Brunnen / Tinguely Brunnen, IRCAM Paris
© Alf van Beem, wikimedia Commons, bearbeitet von Irene Lehmann

Julia H. Schröder: „Ofelia“ für Ensemble, motorisiertes Klavier und 4 Lautsprecher ist am Forschungszentrum für Musiktechnologie IRCAM in Paris entstanden. Die Komposition ist Teil einer Reihe von Stücken für motorisierte Instrumente. Kannst Du etwas über die Motoren erzählen?

Lisa Streich: Ich habe damit 2011 in Paris begonnen. Eines Morgens im November saß ich am Strawinsky-Springbrunnen beim IRCAM. Es gab den ersten Frost und diese Maschinen, kinetische Brunnen-Skulpturen von Jean Tinguely, haben „gesungen“, während sie sich drehten. Das war ein faszinierender Moment für mich. Zum einen war die Musik sehr schön, wahnsinnig klagevoll und sanft, was man von solchen schwarzen eisernen Maschinen nie erwarten würde, zum anderen konnte man sie nicht mit einem Menschen in Verbindung bringen. Da habe ich angefangen, die Motoren in meine Stücke einzubauen, weil ich auf diese Weise Musik einfangen kann, die von niemandem ist, also eine Klangwelt, die niemandem zugehörig ist, keine Identifikation benötigt und einfach da ist.

Julia H. Schröder: Diese Motoren funktionieren eigentlich wie ein E-Bow, sie bringen die Saite zum Schwingen, oder?

Lisa Streich: Bei meinem ersten Instrument, einem Cello, waren die Motoren an verschiedenen Stellen des Instruments angebracht, sie drehten sich und strichen entweder Papier- oder Plastikstreifen über die Saiten oder das Holz. Im Cello befanden sich Mikrofone. Dabei ging es um die Idee, was würde das Instrument hören, wenn es am Leben wäre? Auch in „Ofelia“ werden die Zuhörenden zwischendurch in das Klavier „hineingesetzt“. In dem Moment, wenn der Flügeldeckel geschlossen wird, wird das Innere des Klaviers verstärkt und wir befinden uns „im“ Klavier, während die Motoren das Klavier spielen.

Die Komponistin Lisa Streich mit einer Geste, als würde sie einen Kontrabass halten.
Lisa Streich
© Ricordi/Harald-Hoffmann

Julia H. Schröder: „Ofelia“ ist Dein drittes Stück, in dem die Hörenden akustisch quasi im Instrument platziert werden. Wie heißen die anderen Kompositionen dieser Reihe?

Lisa Streich: Das erste war „Askar“ (2010) für Streichquartett und Elektronik, in dem die Zuhörenden zwischendurch akustisch in eine Orgel „gesetzt“ werden. Das zweite ist „Pietà“ (2012) für Violoncello, Motoren und Elektronik, in dem der Cello-Körper wirklich malträtiert aussieht – aber trotzdem sehr heiter von außen erscheint. Und das dritte ist „Ofelia“.

Julia H. Schröder: In „Ofelia“ drehen die Motoren kleine Papierstreifen über die Klaviersaiten. Die Streifen haben in diesem Stück die Form von Damenbeinen, wie aus einer Werbung der 1950er-Jahre.

Lisa Streich: Die Idee kam mir in Paris. Eigentlich hat das weniger mit „Ofelia“ zu tun, sondern eher mit der Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft. Dass die Beine zwar unter anderem ständig arbeiten und gleichzeitig Objekte der Begierde sind, aber deswegen nicht zwingend wertgeschätzt werden.

Julia H. Schröder: Deine Kompositionsweise ist sehr relational und bezieht sich auf viele Einflüsse, auf die Du manchmal in Texten hinweist. Wie wichtig ist das beim Hören? Vermutlich spielen noch weitere Verweise für die Komposition eine Rolle, die wir als Hörende gar nicht mitbekommen.

Lisa Streich: Ja, das stimmt. Für mich ist es wichtig, dass viele Interpretationsebenen in einem Stück vorhanden sind, damit die Hörer*innen einen Zugang zum Stück finden. Und darüber hinaus ihr eigenes Leben in Relation zu all den Facetten sehen, die in dem Stück vorkommen. Dabei ist es gar nicht so wichtig, dass die vorhandenen Bezüge benannt werden. Es geht nicht darum, etwas Bestimmtes zu verstehen. Ich möchte vielmehr, dass die Zuhörer*innen am Ende ihr eigenes Stück gehört und ihre eigene Interpretation gefunden haben. Das ist mir sehr wichtig – und natürlich lässt sich mit Titeln ein erster Interpretationsrahmen schaffen. Danach will ich die Freiheit der Interpretation aber direkt wieder an die Zuhörer*innen übergeben.

Julia H. Schröder: Wie ist das bei „Orchestra of Black Butterflies“? Haben die schwarzen Schmetterlinge im Titel eine konkrete Bedeutung?

Lisa Streich: Hier gibt es zwei Schmetterlinge. Es sind die zwei Klaviere, die aber keine Flügel mehr haben, da die Deckel abgeschraubt sind. Diese zwei Wesen, die ihrer Flügel beraubt wurden, spielen jetzt.

Julia H. Schröder: Eine Spielanweisung lautet, dass die Pianist*innen sich „wie Flügel (wings)“ hinsetzen sollen, richtig?

Lisa Streich: Zwischendurch spielen die Pianist*innen nach gewissen choreografischen Angaben, die jedoch sehr dezent sind und den Konzertbesucher*innen nicht zwingend auffallen.

Julia H. Schröder: Neben diesen intermodalen Analogien, diesen Verbindungen verschiedener Sinneseindrücke, die Deine kompositorische Palette bilden, gibt es auch noch direkte musikalische Zitate. Ein Zitat ist zum Beispiel das Spiritual „Sometimes I feel like a motherless child“ in „Ofelia“. Andere Titel haben eine religiöse Konnotation oder verweisen auf die Kunstgeschichte wie „Pietà“ (2018), „Stabat“ (2017), „Himmel“ (2021). Welche Rolle spielt dieser Bedeutungsraum?

Lisa Streich: In „Himmel“ ist der konkrete Himmel über uns gemeint, die anderen beiden Titel sind eher Ausnahmen. Es geht um die verschiedenen Farben des Himmels über Rom. Hier habe ich mich kompositorisch zurückgenommen und mir keine besonderen Spieltechniken erlaubt, sondern nur Tonhöhen zugelassen, um zu sehen, wie weit ich mit Akkorden kommen kann. Die verschiedensten Himmel, die zu Gemälden werden können, oder Gemälde, die zu Himmel werden können. Kompositionstechnisch gibt es vier Aspekte, die Farben entstehen lassen. Das Ziel oder der rote Faden ist die Frage, können wir den Himmel auf die Erde holen?

Julia H. Schröder: Also doch das Metaphysische, nicht das rein Impressionistische?

Lisa Streich: Es kann beides sein und darf so verstanden werden.

Julia H. Schröder: In „Himmel“ verzichtest Du auf erweiterte Spieltechniken, die oft mit Helmut Lachenmann verbunden werden, der ab den späten 1960er-Jahren in einigen Kompositionen auf Tonhöhen verzichtete und stattdessen mit Geräuschhaftigkeit experimentierte.

Lisa Streich: Bei Helmut Lachenmann bewundere ich den Mut und den Kraftakt, den diese musique concrète instrumentale damals gekostet hat. Das ist mir immer wichtig beim Schreiben, dass ich etwas durchbreche, für mich selbst.

Julia H. Schröder: Was sind vergleichbare Momente für Dich?

Lisa Streich: Ein neues Stück erfordert immer Mut, zumindest wenn man sich nicht auf Altes bezieht, von dem man weiß, dass es funktioniert. In „Orchestra of Black Butterflies“ wusste ich wirklich nicht, ob es funktionieren würde. Wir haben die vierteltönig zueinander gestimmten Klaviere nie zusammen ausprobiert. Ich wusste also nicht, ob das lauter Cluster werden – oder ob man harmonische Bezüge herstellen kann. Es hat funktioniert, aber es hätte gleichwohl eine Katastrophe werden können.

Die Komponistin Lisa Streich sitzt vor einem dunklen rot-violetten Hintergrund.
Lisa Streich
© Ricordi/Harald-Hoffmann

Julia H. Schröder: Durch diese vierteltönigen Verschiebungen, mit denen Du in beiden Klavieren in „Orchestra of Black Butterflies“ sowie in der Harfe in „Ofelia“ arbeitest, hatte ich die Assoziation an alte Tonaufzeichnungen, an alte Filme mit Klavieraufnahmen, die verstimmt klingen und deren Medialität eine historische Distanz erzeugt.

Lisa Streich: Für mich haben diese Akkorde alle eine gewisse Tragik. Sie referieren auf eine Vergangenheit, die vorbei ist, abgeschlossen ist. Ich habe das Gefühl, dass wir am Ende einer Kulturepoche sind. Und wenn ich diese Akkorde verwende, empfinde ich eine gewisse Melancholie, weil ich nicht weiß, wie lange wir sie noch hören dürfen.

Julia H. Schröder: Sind die Black Butterflies also ein Abgesang auf unsere Konzertsaalkultur?

Lisa Streich: Im Allerkleinsten könnte man das so sagen, aber ich denke, das Ausmaß ist viel größer. Ob wir Menschen noch zusammenkommen? Sitzen wir in den nächsten Jahrzehnten nur noch vereinzelt vor unseren Geräten? Wird das Zelebrieren des gemeinsamen Hörens im Konzertsaal verschwinden? Dieses gemeinsame Hören spiegelt sich ja gesellschaftlich auch jenseits der Musik wider.

Julia H. Schröder: Das gemeinsame Hören im Konzertsaal ist eine kulturelle Errungenschaft, die im Moment angegriffen wird – durch die Vereinzelung und die zurückgehende Finanzierung der Kultur … „Vogue“ setzt sich mit solchen Fragen auseinander, denke ich. Es geht um Songwriting, die Texte hast Du selbst verfasst.

Lisa Streich: Die Texte habe ich selbst geschrieben – mit den jeweiligen Instrumentalist*innen des Ensembles Musikfabrik in Gedanken. Darin geht es um Erlebnisse – krasse Erlebnisse –, die im geschützten Raum des Ensembles geteilt werden. Die Texte sind nicht autobiografisch, ich habe sie für die Musiker*innen geschrieben mit deren Charakteren im Kopf. Einiges bleibt unverständlich, anderes lässt verschiedene Deutungen zu.

Julia H. Schröder: Hast Du Text und Melodie gleichzeitig geschrieben?

Lisa Streich: Nein, erst den Text, dann die Melodie, immer wohl wissend, dass sie im geschützten Raum – sei es zu Hause im Wohnzimmer oder unter der Dusche – Sachen besingen, die in der Welt sind.

Julia H. Schröder: Hat das funktioniert?

Lisa Streich: Es war sowohl unangenehm als auch berührend. Ob es gelungen ist, kann ich nicht sagen. Einen starken Ausdruck hatte es.

Julia H. Schröder: Damit bringst Du das Komponieren für eine*n Musiker*in auf eine andere Ebene.

Lisa Streich: Ja, sie stehen nochmal ganz anders, fast nackt da. Das kennen professionelle Musiker*innen gar nicht mehr. Durch die Stimme sind sie es auf einmal wieder, obwohl sie ja hochprofessionell sind. Dabei entsteht eine Zwiespältigkeit auf der Bühne.

Julia H. Schröder: Um auf die Frage nach der Relevanz von Kunst zurück zu kommen, ist hier so ein Moment entstanden?

Lisa Streich: Das Wichtigste für mich ist das Leben und die Beziehungen zu Menschen. Dieser besondere Moment im Konzertsaal, wo wir als Gruppe etwas erleben, das für jede*n singulär ist und trotzdem als Erlebnis einen gemeinsamen Auslöser hat. Das ist wunderschön und faszinierend, ja bereichernd. Wie kann man in Zukunft solche Momente generieren – ohne nur historische Musik zu spielen?

Julia H. Schröder: Viele Kunstschaffende treibt in ähnlicher Weise die Frage um, wie sie sich aktuell einbringen und auf die Gegenwart beziehen können.

Lisa Streich: Kunst hat die Fähigkeit, Dinge im Menschen auszulösen. Zum einen gibt es Kunstwerke, nach deren Erfahrung man nicht mehr derselbe Mensch ist. Zum anderen ist man vor allem bei Musik nicht alleine. Musik kann Wahrheiten auftun, in denen man sich wiedersehen und sich mit etwas nicht alleine fühlen kann. Darum geht es, deswegen schreibe ich Musik. Wie kann ich Menschen etwas Ähnliches geben, wie ich es in der Kunst erlebe, und zwar im Hier und Heute – und vielleicht auch in Zukunft.