Text | Performing Arts Season 2024/25
Jenseits des Gewohnten: Trisha Brown, Lucinda Childs und das Judson Dance Theater
Trisha Brown und Lucinda Childs gelten heute als die beiden Choreografinnen, die den US-amerikanischen postmodernen Tanz als eine der bedeutendsten Tanztraditionen des 20. und 21. Jahrhunderts in Europa repräsentieren. Hervorgegangen aus dem Judson Dance Theater – einer informellen Gruppe von Tänzer*innen, Künstler*innen, Komponist*innen und Performer*innen, die sich zwischen 1961 und 1963 im Merce Cunningham Studio und in anderen New Yorker Locations versammelte – wirkten sie an der Etablierung einer neuen Art der Tanzproduktion mit.
Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Gruppe entschlossen sich Brown und Childs während der 1970er- bis 1990er-Jahre, eigene Kompanien zu gründen und Choreografien speziell für die klassische Vorbühne zu entwickeln. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit widmet sich der folgende Text den Gemeinsamkeiten zwischen Browns und Childs’ künstlerischer Praxis und beleuchtet die Frage, inwieweit die ursprüngliche Kritik des Judson Dance Theater auch in ihrem Schaffen sichtbar bleibt.
Im Jahr 1961 versammelte der Pädagoge Robert Ellis Dunn eine Gruppe aus Tänzer*innen, um mit den Zufallsoperationen zu experimentieren, die John Cage und Merce Cunningham ab Mitte der 1950er-Jahre entwickelten. Cage und Cunningham hatten Musik und Tanz im Produktionsprozess voneinander getrennt und schlugen ein radikal neues Raumkonzept ohne Zentrum und Peripherie vor. Diese Idee aufgreifend, initiierte eine neue Generation von Tänzer*innen Performances in Kirchen, Lofts, Turnhallen sowie auf Dächern und Straßen. Ursprünglich aus einer Kerngruppe um die Tänzer*innen Yvonne Rainer, Steve Paxton und Simone Forti bestehend, wurde das Kollektiv, das später das Judson Dance Theater bildete, nach und nach um Judith Dunn, Deborah Hay, Fred Herko, David Gordon, Valda Setterfield und die Multimediakünstlerin Elaine Summers erweitert. Am 6. Juli 1962 organisierte die Gruppe eine Veranstaltung in der Judson Memorial Church am Washington Square in Greenwich Village, New York, mit dem Titel „A Concert of Dance“ – später bekannt als „Concert of Dance #1“. Das knapp vierstündige Programm an diesem außergewöhnlichen Ort, der seit den 1940er-Jahren Schauplatz zahlreicher künstlerischer und politischer Ereignisse war, kristallisierte sich schnell als Wendepunkt, als Bruch mit der Tradition des amerikanischen modernen Tanzes heraus. Zugleich war er namensgebend für die Gruppe: das Judson Dance Theater war geboren. Im darauffolgenden Jahr traten Trisha Brown und Lucinda Childs der Gruppe bei – gemeinsam mit Robert Morris, Robert Rauschenberg, Carolee Schneemann und dem Komponisten Philip Corner.
Doch was waren die Gründe dafür, dass „Concert of Dance #1“ zum Wendepunkt für die New Yorker Tanzszene wurde? Anstelle des modernistischen Prinzips einer Tanzkompanie unter der Leitung einer*eines Choreograf*in entwickelten die Mitglieder des Judson Dance Theater neue choreografische Strategien der gegenseitigen Teilhabe an den Stücken. Dieser Aspekt machte die Gruppe besonders interessant für Tänzer*innen, Performer*innen, Künstler*innen und Komponist*innen, die mit offenen Formen der künstlerischen Produktion experimentierten. Etwa zeitgleich zum Wirken des Judson beschrieb John Cage einen „experimentellen Vorgang“ als „einen Vorgang, dessen Ergebnis nicht vorhersehbar ist“ [1]. In „We Shall Run“ (1963) von Yvonne Rainer, einem der wegweisenden Stücke aus den ersten Jahren der Gruppe, tritt dieses kollaborative Ethos als Ausdruck einer künstlerischen Gemeinschaft besonders deutlich zutage. Die Choreografin brachte eine Gruppe von 12 „Tänzer*innen“ und „Nicht-Tänzer*innen“ [2] auf die Bühne, die, nachdem sie sich vor dem Publikum aufgereiht hatten, vier Minuten lang zu Hector Berlioz’ „Grande messe des morts“ über die Bühne rannten. Diese Reduktion des Stückes auf eine alltägliche Bewegung wurde als radikale Abkehr vom Prinzip der Virtuosität – ob modernistisch oder neoklassizistisch – rezipiert. Rainer äußerte, dass „mit Sicherheit keine vorherige Choreografie sich allein auf das Rennen konzentriert hatte, so wie meine […]. Nachdem er die Uraufführung von ‚We Shall Run‘ […] gesehen hatte, bemerkte Jasper Johns, dass dieser Tanz im Rahmen der Möglichkeiten an die äußersten Grenzen gegangen sei. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, denn bis zum Äußersten zu gehen war das höchste Ziel für diejenigen unter uns, die die Ideen von Duchamp und Cage aufgriffen, welche wiederum ihren Ursprung in den ästhetischen Rebellionen des frühen 20. Jahrhunderts [der Dadaisten und Futuristen] hatten.“ [3]
Zu den choreografischen Methoden der Judson-Mitglieder gehörte die Verfremdung alltäglicher Gegenstände. In „Carnation“ (1963) platzierte Childs sorgfältig ein Sieb, Lockenwickler auf ihrem Kopf und Schwämme in ihrem Mund. Dieses „Objekt-Ereignis“ adressierte die Bereiche des Haushalts, des Kochens und der Kosmetik im Licht einer „überspannten Absurdität von leichtem Schrecken“ [4], die mit den Mitteln einer Camp-Poetik [5] die Widersprüche einfing, mit der Frauen im Amerika vor Stonewall [6] und dem ‚Second-Wave‘- sowie dem lesbischen Feminismus konfrontiert waren. In „Homemade“ (1966) vollzog Brown alltägliche Bewegungen wie Halten oder Wiegen, die teilweise in Verbindung zu ihrer eigenen Kindheit standen (eine Angelschnur ziehen, nach Muscheln graben, im Sand malen, einen Ball werfen). Auf ihrem Rücken trug sie einen Projektor, der einen von Robert Whitman gedrehten Film abspielte, in dem sie dieselben Handlungen ausführte wie live auf der Bühne. Die Requisite machte den gedanklichen und körperlichen Prozess sichtbar, durch den die Choreografin einen Tanz aus disparaten motorischen Erfahrungen zusammenstellte. Im Gegensatz dazu schlüpfte Robert Morris in „Site“ (1964) in eine andere Rolle und trat maskiert auf. Als Bauarbeiter verkleidet, bearbeitete er Sperrholzplatten, hinter denen Carolee Schneemann posierte und dabei Victorine Meurent in Édouard Manets „Olympia“ (1863) imitierte. Mit dieser Arbeit thematisierte Morris die ungleichen Arten von Entfremdung und Abwertung, die mit produktiver und reproduktiver Arbeit, üblicherweise als männlich und aktiv oder weiblich und passiv dargestellt, assoziiert wurden. Ein letztes Beispiel für den starken Einbezug von Objekten der Judson-Gruppe ist Rainers „Parts of Some Sextets“ (1965) für zehn Menschen und zwölf Matratzen. Die als „Körperersatz“ [7] konzipierten Objekte ermöglichten es der Choreografin, die affektive und intime Dimension des körperlichen Kontakts mit den Matratzen an sachliche Handlungen (Tragen, Ziehen, Werfen) zu knüpfen. In diesen Arbeiten von Brown, Childs, Morris und Rainer erscheinen die Tänzer*innen zugleich als Manipulator*innen und Manipulierte, als Subjekte und Objekte der Performance. Die Künstler*innen brachten ein Spektrum an Gesten auf die Bühne, das – oft als „langweilig“ oder „alltäglich“ bezeichnet – seit dem Zweiten Weltkrieg in den mythologischen Stücken von Martha Graham wie „Clytemnestra“ (1958) und in abstrakten Werken wie „Tensile Involvement“ (1953) von Alwin Nikolais oder „Agon“ (1957) von George Balanchine kaum beachtet worden war. Die Mitglieder des Judson Dance Theater thematisierten die Brutalität des Arbeitsalltags, die Prekarität des Lebens, die Zuweisung stereotyper Identitäten und den Kampf um Emanzipation – wenn auch unvollendet.
In den 1970er-Jahren vollzog sich eine Veränderung in Browns und Childs’ Praxis. Sie begannen Choreografien zu erarbeiten, die neue Fähigkeiten und eine professionelle Ausbildung der Tänzer*innen in ihren Techniken und Arbeitsmethoden erforderten. Zu diesem Zweck schlugen sie einen Weg ein, den andere Mitglieder der Judson-Gruppe bis dahin nicht gegangen waren, und gründeten ihre eigenen Kompanien. Eine der ersten Arbeiten, die in diesem neuen Rahmen entstanden, war „Calico Mingling“ (1973). Childs beschrieb das Stück als „leicht athletisch“ [8] im Sinne einer subtilen Virtuosität, die das Publikum dazu einlud, eher den räumlichen und zeitlichen Arrangements der choreografischen Formationen zu folgen als der Qualität einzelner Bewegungen. Obwohl dieses minimalistische Stück nur auf der Bewegung des Gehens beruhte – einer Tätigkeit, die ohne tänzerische Fähigkeiten ausgeführt werden kann –, erforderte es aufgrund der 240 Zählzeiten und der komplexen Struktur des Stücks einiges Training, es sich zu merken und in einem gleichmäßigen Rhythmus auszuführen. In „Locus“ (1975) choreografierte Brown jede Geste getrennt von der anderen: „Sie gehören nicht zusammen, [sie] bauen nicht etwas auf.“ [9] Dieser strukturelle Ansatz sollte eine entscheidende Rolle spielen, als Childs und Brown sich ab 1979 von alternativen Spielstätten entfernten, um sich den Bühnen innerhalb eines entstehenden Netzwerks von Theatern und internationalen Festivals in Europa und den Vereinigten Staaten zu widmen.
Dass Childs und Brown sich von den äußeren Rändern der Tanzszene in deren Zentrum bewegten, ist keinesfalls als Preisgabe der Kritik am Tanzkanon der Judson-Gruppe zu verstehen: es war vielmehr dessen Transformation. „Dance“ (1979) und „Glacial Decoy“ (1979) hinterfragen die Sichtbarkeit, die die Theaterbühne bestimmten Bewegungen, Tänzen und Körpern gibt, anderen jedoch verwehrt. Die beiden Stücke mit Videoarbeiten von Sol LeWitt und Robert Rauschenberg waren so choreografiert, dass der Tanz die Bühnengrenzen zu überschreiten schien. Indem sie die Theaterbühne als Rahmen und Mittel nutzten, hinterfragten Childs und Brown die Art und Weise, wie Tanz im Theater üblicherweise präsentiert wird. [10] Indem sie ihre eigenen Herangehensweisen entwickelten und verschiedene Kunstformen kombinierten, gingen sie dieser Frage weiter nach. Childs arbeitete etwa für „Available Light“ (1983) mit dem Architekten Frank Gehry zusammen, während Brown sich für „Opal Loop / Cloud Installation #72503“ (1980) mit der Künstlerin Fujiko Nakaya zusammentat. Ähnlich wie bei Judson, aber mit anderen Mitteln, zeigen diese Stücke deutlich, dass Institutionen nicht nur abgrenzen und einschränken, sondern die Künste auch verzerren können. In einer Zeit, in der der amerikanische postmoderne Tanz selbst in Europa vorherrschend geworden ist, ist diese Kritik im Zentrum der Performance noch immer von fundamentaler Bedeutung. Diese Werke – so beeindruckend sie um ihrer selbst willen sein mögen – zeichnen sich besonders dadurch aus, dass sie Institutionen in ihrer Fähigkeit, Tanz zu kuratieren, herausfordern. Sie laden das Publikum ein, über die Bühnengrenzen nachzudenken und schließlich darüber hinaus zu blicken.
Endnoten
1 John Cage, „Composition as Process“, in: Silence: Lectures and Writings, 1961 (Middletown: Wesleyan University Press, 1958), S. 39.
2 Jill Johnston, „Judson Collaboration“, in: The Village Voice, 28. November 1963, S. 9.
3 Yvonne Rainer, Feelings Are Facts: A Life, Cambridge: The MIT Press, 2006, S. 243.
4 Jill Johnston, „The Object“, in: The Village Voice, 21. Mai 1964, S. 14.
5 „Camp“ beschreibt jemanden oder etwas, das manieriert oder theatralisch ist. Der Begriff wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren von schwulen und lesbischen New Yorker*innen aufgegriffen, um eine ästhetische Sensibilität und einen kulturellen Gegenentwurf zu charakterisieren. Camp war ein wichtiger Aspekt von Andy Warhols Pop-Art, den Filmen von Jack Smith und Ron Rice, den Choreografien von James Waring und Aileen Passloff und den Gedichten von Frank O’Hara. Durch die Judson-Gruppe beeinflusste es die Arbeit von Fred Herko, David Gordon, Steve Paxton und Lucinda Childs.
6 Die Stonewall-Unruhen beziehen sich auf die spontanen Proteste gegen eine Polizeirazzia, die am 28. Juni 1969 im Stonewall Inn, einer Schwulenbar in Greenwich Village, New York City, stattfand. Sie werden als ein historischer Bruch und Wendepunkt in der LGBTIQ*-Bewegung in den Vereinigten Staaten angesehen. Die Teilnahme von Lesben an den Stonewall-Protesten, die sowohl in der feministischen als auch in der schwulen Befreiungsbewegung marginalisiert wurden, war entscheidend für die weitere Entwicklung des LGBTIQ*-Aktivismus. Ein Zweig des lesbischen Feminismus ging direkt von der Judson-Gruppe aus, nachdem die Kritikerin und Performerin Jill Johnston, die in den 1960er-Jahren Teil der New Yorker Downtown-Tanzszene war, mit ihrem Buch Lesbian Nation: The Feminist Solution (New York 1973) zu einer der prominentesten Figuren der Bewegung wurde.
7 Robert Morris, „Dance“, in: The Village Voice, 3. Februar 1966, S. 25.
8 Interview des Autors mit Lucinda Childs, National Center for Dance, 1. & 2. Februar 2016.
9 Notizbucheintrag von Trisha Brown, 5. Oktober 1975, zitiert nach Susan Rosenberg, Trisha Brown: Choreography as Visual Art (Middletown: Wesleyan University Press, 2016), S. 163.
10 Zu diesem Thema vgl. Craig Owens, „The Pro-Scenic Event“, in: Art in America, Dezember 1981, S. 128–133.