Text | Interview | Performing Arts Season 2024/25

Vivaldis Erbe oder: Wie Tanz zum Nachdenken anregt

Ein Gespräch mit Anne Teresa De Keersmaeker, Radouan Mriziga und Amandine Beyer zu „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“

Tänzer*innen von Rosas beim Proben des Stücks  "Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione"
Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione
© Anne Van Aerschot

Die Choreograf*innen Anne Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga, die bereits für „3ird5 @ w9rk“ (2020) zusammenarbeiteten, starteten mit den Vorbereitungen zu „Il Cimento dell‘Armonia e dell’Inventione“, indem sie Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ analysierten. Unterstützt wurden sie dabei von der Violinistin Amandine Beyer, deren gefeierte Aufnahme des Stücks mit ihrem Ensemble Gli Incogniti als Inspiration für diese neue choreografische Arbeit diente. Im Gespräch geben die drei Künstler*innen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Stücks und erklären, was sie am berühmten Barock-Klassiker besonders faszinierte.

Verfügbar seit 26. September 2024

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Die Wahl eines so berühmten Musikstücks ist überraschend. Welche Bewegungen lassen sich als Antwort auf Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ und die Assoziationen, die das Stück unmittelbar hervorruft, finden? Wie lässt sich mit und jenseits der Vertrautheit dieser Musik arbeiten? Was kann uns diese Musik heute enthüllen? Und auf welche Art und Weise spricht sie zu Euch als Choreograf*innen? Wie verbindet sie Euch?

Anne Teresa De Keersmaeker: Ich entdeckte Nikolaus Harnoncourts Aufnahme von Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ aus den 1980er-Jahren. Es ist eines der berühmtesten, wenn nicht das berühmteste Stück der europäischen Musikgeschichte. Dabei leidet es unter seiner Brillanz in ähnlicher Weise wie der Sonnenuntergang: Es ist wunderschön, aber es wird auch als bloßes Bildnis ausgeschlachtet. Für viele Musiker*innen ist es populäre Musik im negativen Sinne. Ich habe jedoch das Gefühl, dass sich dies allmählich ändert. Amandine und ich haben bereits zu Werken von Johann Sebastian Bach und Heinrich Ignaz Franz Biber zusammengearbeitet – und sie war schon immer sehr dafür, dass wir uns Vivaldi widmen.

Radouan Mriziga: Ich kenne Vivaldis Musik nur so, wie sie die meisten kennen. Dass ich jetzt eingeladen bin, in den Raum seiner Musik – und speziell dieser Musik – einzutauchen, freut mich sehr. Gerade weil das Stück so ein Hit ist, fällt es dem Publikum leicht, es zu erkennen und diesen Raum gemeinsam mit uns zu betreten und zu teilen. Das Werk ist Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Dieser Umstand macht es zahlreichen Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen und Melodien, Klänge, Erinnerungen und Gefühle zu teilen. Das ist gerade heutzutage wichtig. Die Herausforderung für uns liegt darin, wirklich in das Stück einzutauchen und es zu analysieren.

ATDK: Auch die Idee einer Komposition, die unmittelbar das Thema der vier Jahreszeiten aufgreift, hat sehr mit uns beiden resoniert. Das Stück spielt mit Repräsentationen von Natur. Es spricht unsere Verbindung zur Umwelt an, die auch im Zentrum unserer Arbeit steht. Das Beobachten von Natur war für unsere Arbeit als Choreograf*innen immer schon sehr bedeutsam. Wie schauen wir als Menschen auf die Natur? Dieses Thema beschäftigt uns und wirft immer wieder wichtige Fragen auf. Gibt es überhaupt noch Jahreszeiten? Wie es in Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ heißt: „Es wandeln sich die Jahreszeiten (…) der Lenz, der Sommer, der zeitigende Herbst, der zornge Winter, sie alle tauschen die gewohnte Tracht, und die erstaunte Welt erkennt nicht mehr an ihrer Frucht und Art, wer jeder ist. Und diese ganze Brut von Plagen kommt von unserm Streit, von unserm Zwiespalt her; wir sind davon die Stifter und Erzeuger.“

RM: Wir sind heutzutage mit extremen Bedingungen konfrontiert. Unsere Biodiversität kollabiert. Auch wenn die Musik sich mit diesen Umständen natürlich nicht direkt auseinandersetzt, liegt in der Simplizität von Vivaldis Zugang etwas, das uns erlaubt, von grundlegenden Naturphänomenen und Elementen ausgehend über die Jahreszeiten nachzudenken: Sonne, Hitze, Kälte, Tiere, Wasser, Wind, Pflanzen. Wir wissen und fühlen alle, was vor sich geht: „Es geht um die Jahreszeiten, es gibt vier, und wenn wir nur noch zwei übrighaben, dann haben wir ein Problem.“ Die Tatsache, dass Vivaldi im Mittelmeerraum lebte, ist ebenso relevant. Auch ich komme vom Mittelmeerraum, und ich liebe die Region und das, was dort erschaffen wurde. Ihre Vergangenheit ist voller Schönheit, aber auch voller Katastrophen und Ungerechtigkeit. Es ist wichtig, auch durch die Linse dieser Region auf diese Musik zu blicken.

Welche Antwort kann Tanz auf die Krisen geben, mit denen wir heute konfrontiert sind? Wie erschafft Ihr einen choreografischen Kontrapunkt zu dieser Musik – obwohl oder gerade weil sie so vertraut und repräsentativ ist?

ATDK: Tanz ist nicht nur die Verkörperung von Jubel oder Trost, sondern auch ein Nachdenken. Wir können Fragen stellen, ohne explizite Antworten geben zu müssen. Angesichts der Komplexität und Extremsituationen unserer Zeit ist Fragen zu stellen vielleicht das Einzige, was wir tun können. Welche Art von Vergangenheit erinnern wir? Welche Art von Zukunft stellen wir uns vor? Vivaldis Musik wurde vor mehr als 300 Jahren komponiert. Für uns hält sie viele Überraschungen bereit. Sie stellt den Menschen als einsam, voller Angst und ohnmächtig gegenüber der Natur dar. Ihr Thema ist einfach und für jede*n leicht zugänglich. Gleichzeitig ist das Stück vielschichtig, sowohl technisch als auch in der Art, wie es seine Geschichte erzählt, wie es Natur repräsentiert und wie es Zeit und Raum strukturiert.

RM: Diese Schichten werden zu Bausteinen, die Anne Teresa und ich miteinander, mit den Performern und schließlich auch mit dem Publikum teilen können. Die Musik entfaltet ein Narrativ, das einen wichtigen emotionalen Gehalt hat – ähnlich wie Storytelling.

Amandine Beyer: Dass das Werk so vielschichtig ist, zeugt von Vivaldis Großzügigkeit: Er bietet sowohl den Musiker*innen als auch den Hörer*innen viele mögliche Zugänge an. Seine Musik ist einladend; sie öffnet den Raum für Fragen. Obwohl die Komposition bereits um 1725 entstand, war sie lange Zeit nahezu vergessen. Erst in den 1930er-Jahren wurde das Werk zum Hit. Sobald es (wieder)entdeckt wurde, war es mit einem Schlag unglaublich populär. Es hat nicht einen Funken seiner Frische und Kraft verloren. Zugleich steckt es voller überraschender Effekte. Vivaldis Nachahmung von Vogelgezwitscher funktioniert noch immer, auch wenn wir nicht mehr so häufig das Zwitschern von Vögeln zu hören bekommen. Als wir das Stück gemeinsam analysierten, stellten wir fest, dass große Teile von „Die vier Jahreszeiten“ in Moll komponiert sind. Das schafft mehr Spannung, als wenn es ausschließlich in Dur geschrieben wäre – fröhlich und sonnig.

ATDK: Die Musik ist ganz anders, als ich es erwartet hatte. Natürlich ist sie überwiegend heiter, aber sie hat diese unbändige Kraft. Sie erzeugt ein eigentümliches, ungewöhnliches Spektrum an Farben.  

RM: Sie ruft ein ganz bestimmtes Gefühl hervor, weil sie so vertraut ist. Wenn man beginnt, die Musik genau zu analysieren, dann entdeckt man die Geschichten dahinter und die begleitenden Texte, die Vivaldi dazu schrieb. Dadurch entwickelt man eine andere Beziehung zu dem Stück. Wenn einem beim Studium der Partitur klar wird, dass es mehr Moll- als Dur-Passagen gibt, dann eröffnet das nochmal einen neuen Zugang. Und dann lernt man, dass jedes Concerto in drei Sätze unterteilt ist … Wir haben immer neue Ebenen entdeckt. Das Hineinzoomen in diese vielen Schichten kann Möglichkeiten eröffnen, Vivaldis Musik von bestehenden Klischees zu befreien; man lernt das Stück von einer anderen Perspektive aus kennen.

ATDK: Es ist interessant, dass Vivaldi der Natur gar nicht so sehr verbunden war. Er lebte in Venedig und war ein Stadtmensch. „Die vier Jahreszeiten“ komponierte er in Mantua während eines Aufenthalts auf dem Land. Diese Tatsache lädt uns ein, unsere Beziehung zur Natur zu reflektieren. Sind wir ein Teil von ihr oder blicken wir auf sie, als stünden wir außerhalb? Wenn Vivaldi tatsächlich von außen auf die Natur blickte, dann ist die Art, wie er sie in seiner Musik einfing, faszinierend. Welche Aussage trifft er über die vier Jahreszeiten? Die Musik enthält viele Repräsentationen von Wind, es gibt zahlreiche Stürme. Er zeichnet kein idyllisches Bild, wie es in der Romantik üblich war, sondern er entwirft das Bild einer zerstörerischen Natur. Die Musik ist buchstäblich voller wilder Kräfte. Wasser, Wind, Feuer: Alle Elemente sind vertreten. Sie verkörpert die Natur, als habe sich Vivaldi als Teil von ihr gefühlt. Es ist bekannt, dass ich eine Faszination für Kreise, Spiralen, Ellipsen und Wirbel habe. Besonders der „Sommer“ und der „Winter“ laden zum Drehen ein. In der Natur dreht sich alles: der Wind, die Ozeane, die Sterne, das Sonnensystem … alles ist zyklisch. Ein Öffnen und Schließen. „Die vier Jahreszeiten“ verkörpern genau dies.

AB: Die Musik ist sehr kosmisch. Dieses Öffnen und Schließen spiegelt sich auch in der Art wider, wie Vivaldi die Violinen und ihre Fähigkeit zur Imitation nutzte. Vivaldi war für die Natur um ihn herum sehr empfänglich. Sicherlich war er überrascht von ihrer Schönheit, Kraft und Gewalt. Es wird angenommen, dass er den Part der Solovioline selbst spielte. Die Technik, der Ausdruck, die Verwendung der Harmonik, die Ausarbeitung: Alles steht im Zeichen der Bilder und Geschichten, die in ihm hervorgerufen wurden. Zu Vivaldis Zeit galt die Violine als Königin der Instrumente, da sie so kraftvoll und zugleich fähig war, alle anderen Instrumente zu imitieren: die Trompete, die Orgel, selbst Stimmen und die Elemente; Natur, Vögel, Geräusche. Hier fungiert die Violine fast wie ein Synthesizer. Vivaldi hat das auf die Spitze getrieben, er war ein sehr guter Violinist. Seine Darstellung der Natur ist zudem hochdramatisch. Zur selben Zeit komponierte er Opern und er liebte das Theater. In derselben Weise beobachtete er die Natur und theatralisierte sie. Ganz offensichtlich hatte er viel Spaß beim Komponieren von „Die vier Jahreszeiten“.

Anne Teresa beginnt ein neues Projekt üblicherweise mit der detaillierten Analyse der Musik. Ist das auch Teil Deiner choreografischen Praxis, Radouan?

RM: Musik ist meistens nicht mein Ausgangspunkt. Eher im Gegenteil. Ich liebe Musik und arbeite mit ihr, aber an einem bestimmten Punkt nehme ich sie weg. Oft bleiben am Ende nur Andeutungen davon übrig. Gerade deshalb interessiere ich mich für Anne Teresas Art, mit Musik zu arbeiten, oder für Amandines Vorgehen, wenn sie Vivaldis Komposition analysiert. Ich höre ausschließlich Rhythmen und konzentriere mich auf das, was in der Musik verborgen ist: versteckte Rhythmen, ein versteckter Puls. Ich nähere mich Musik über Rhythmus an. Für mich muss nicht zwangsläufig das gesamte Musikstück in der Aufführung hörbar sein – vielleicht sogar überhaupt nichts davon. Es ist eine andere Art von Verbindung, die ich zu Musik habe.

ATDK: Die anfängliche Idee war, dass wir dieses Stück und all seine Aspekte gemeinsam erarbeiten: Choreografie, Musik, Kostüme, Licht und Bühnenbild. Im Probenprozess stellten wir jedoch fest, dass jede*r von uns auch einen Raum für den eigenen Arbeitsansatz braucht. Wir verfolgen also gegenseitig unseren Prozess und werden sehen, ob sich unsere Linien mit der Zeit kreuzen oder ob sie weiterhin parallel verlaufen. Das werden wir zu einem späteren Zeitpunkt herausfinden. Mit Sicherheit werden wir uns gegenseitig stark beeinflussen – doch momentan wissen wir noch nicht, in welcher Form das passieren wird. Es ist noch zu früh dafür.

RM: Wir haben viel über Natur und über den Kosmos gesprochen. Mich fasziniert die Vorstellung, dass Vivaldi lediglich etwas Existierendes von der Natur durch sich durchfließen gelassen hat. Für mich ist er Teil der Natur. Umgekehrt vermitteln auch wir etwas durch seine Musik. Das muss nicht unbedingt unsere Vorstellung davon sein, wie die Dinge stehen. In unseren Gesprächen kehrt unser Verhältnis zum Leben, zur Natur und zum Kosmos immer wieder. Dabei ist auch das Spirituelle wichtig.

ATDK: Wir teilen eine Faszination für Geometrie und für die spirituelle Dimension von Natur. Für mich sind Natur und Spiritualität ein und dasselbe. Es gibt eine Vielzahl möglicher Zugänge zur Natur, von der rein wissenschaftlichen Beobachtung – rational und analytisch – bis hin zu einer ganzheitlichen spirituellen Erfahrung, die sowohl unseren Körper als auch unseren Geist oder unsere Seele einbezieht. Mich interessiert Religion als spirituelle, verbindende, kosmische Kraft sowie die Vorstellung, dass wir Teil von etwas sind, das über uns hinausgeht. In diesen sehr extremen Zeiten gibt es ein großes Bedürfnis danach. Ich setze außerdem auf Schönheit und Harmonie, und zwar im Sinne dessen, was funktioniert, was sich bewährt, nicht als ästhetischer oder moralischer Wert. Das steht heute mehr denn je auf dem Spiel. Wie können alle acht Milliarden von uns auf diesem Planeten überleben? Wie wollen wir ihn teilen? Wie können wir Luft und Wasser teilen? Wie kann die Natur überleben? Wie können wir Tiere, Bäume und natürliche Ressourcen schützen? Wann lassen wir unsere vermeintliche Machtposition endlich hinter uns und hören auf, uns als die Herrscher*innen der Erde aufzuspielen?

RM: Ich teile die Meinung, dass wir uns an diesem Punkt nicht bloß rein intellektuell mit der Gegenwart auseinandersetzen dürfen. Wir brauchen das Intellektuelle, das Physische und das Spirituelle. Ich glaube, dass diese spezifische Erfahrung – zu analysieren, zu gestalten und zu erleben – heutzutage sehr wichtig ist.

Rosas, Brüssel, 8.2.2024