Text | Essay | Performing Arts Season 2024/25

Keine geschlossene Welt

von Dan Kolber

Schauspieler*innen auf der Bühne
„Verrückt nach Trost“
© SF / Armin Smailovic

In seinem Essay „Keine geschlossene Welt“ spricht der Dramaturg Dan Kolber über die Arbeit an Thorsten Lensings „Verrückt nach Trost“, die Motive und Besonderheiten der Inszenierung und lässt dabei bemerkenswerte Szenen Revue passieren. Erfahren Sie mehr über Lensings erstes selbst geschriebenes Theaterstück und erhalten Sie Einblicke in den Proben- und Entstehungsprozess.

Verfügbar seit 16. Oktober 2024

Lesezeit ca. 45 Min

Deutsch

Wortmarke Performing Arts Season

Wenn ein Mensch zum Affen wird, wird die Ordnung der Zeit aufgehoben. Die Evolutionsgeschichte der Menschheit, die auf ihre immer größere Vereinzelung abzielt, erleidet einen Kurzschluss. Eine Entwicklung, die sich über einen Zeitraum von Millionen von Jahren erstreckt, wird in einem Augenblick mit einer Verwandlung aufgelöst.

Das Theater von Thorsten Lensing ist ein Theater der Unmittelbarkeit. Es geht nie nur um Chaos, nie nur um Spaß, nie nur um Genauigkeit, nie nur um menschliche Abgründe, sondern immer um Gegenwart. Dass sie zu retten ist, weil in ihr die Menschen und Dinge frei werden, ist eine der zentralen Erfahrungen, die man in seinen Inszenierungen macht.

Ich selber komme nicht vom Theater, habe keine Ausbildung und auch keine praktische Erfahrung in diesem Bereich. Auch die Architekten Gordian Blumenthal und Ramun Capaul haben vor ihrer Zusammenarbeit mit Thorsten Lensing noch nie ein Bühnenbild entworfen. Das ist nicht überraschend: „Keine geschlossene Welt, bitte“, ist die immer wiederkehrende Wunschformel dieses Regisseurs.

Die Theaterproben zu diesem Stück waren meine ersten. Ich sah die Verwandlung von Menschen in Schildkröte und Affe. Ich durfte erleben, wie Ursina Lardi und Devid Striesow immer jünger wurden. Als sie zu Beginn der Proben in die Rollen der Geschwister Felix und Charlotte schlüpften, war vieles schon da, was die Zuschauerinnen und Zuschauer auch heute während des ersten Teils des Abends sehen. Aber das Alter wich erst langsam aus ihnen, Schritt für Schritt und in unerwarteten Sprüngen. Plötzlich standen Dreißigjährige vor uns und spielten die erste Szene, dann wurden sie zwanzig, siebzehn, fünfzehn Jahre alt. Gegen Ende, kurz vor der Premiere, saß Devid Striesow als Elfjähriger am Boden, die Hände vor sich, mit dem fransigen Ende seines Badetuches spielend. Er saß da als Felix und erinnerte sich in vollkommen durchlässigen Worten an Sätze des verstorbenen Vaters, an Sätze, die nun in seinem Mund ein so eigentümliches Gewicht angenommen hatten, dass sie weder schwer zu Boden fielen noch sich leicht in die Luft erhoben, sondern geradeaus in gleichmäßigem Schweben die Vergangenheit in die Gegenwart holten. Selten erlebt man auf eine so eindringliche Weise, dass wir Sätze in uns tragen, die in Wahrheit Zeitkapseln sind. Zeitkapseln, in denen der Moment aufbewahrt wird, da ein bestimmter Mensch sie mit seiner unverwechselbaren Stimme zu uns sprach.

Erinnerung und Unmittelbarkeit, beides gehört wesentlich zum Theater. Mit dem Unsichtbaren leben, Abwesendes in die Gegenwart ziehen, durch Spiel die Gegenwart beleben und sie gleichzeitig aufsprengen, das sind Grundmotive von „Verrückt nach Trost“. Und es ist daran nichts Neues. Es gehört zum Ältesten der Menschheit. Die Lust, sich zu verwandeln, und die Wichtigkeit der Verwandlung spiegeln sich in den ältesten Mythen und Ritualen.

Polybios, ein griechischer Historiker des 2. Jahrhunderts vor Christus, beschreibt, wie die Römer mit ihren Verstorbenen umgingen. Vor der Grablegung oder Einäscherung wurde mit größter Sorgfalt eine Maske des Toten angefertigt. Sie sollte seine individuellen Gesichtszüge genau wiedergeben. Diese Totenmaske wurde daraufhin neben anderen in den repräsentativen Räumen des Hauses aufbewahrt, gut sichtbar, damit jeder, der zu Besuch kam, sie zur Kenntnis nahm. Bei Festen wurden sie geschmückt und in die Feierlichkeiten einbezogen. Dank dieser Masken waren die Verstorbenen nie ganz verschwunden. Starb ein weiteres Familienmitglied, mussten alle diese Toten an dem Trauerzug teilnehmen, der berühmten pompa funebris. Es wurden Darsteller gesucht, die den Toten in Größe und Aussehen ähnelten. Sie sollten ihren Gang nachahmen, ihre Körperhaltung sowie alle anderen Eigentümlichkeiten, die von den Verstorbenen noch bekannt waren. Sie zogen deren Gewänder an und schritten dann einher in der Prozession. Es ging darum, so schreibt Polybios, den Eindruck zu erwecken, als wären die Toten „noch am Leben und beseelt“.

Dadurch, dass die Römer die Verstorbenen spielten, erhielten sie sie gegenwärtig. Es ist, wenn man darüber nachdenkt, eine erstaunlich naheliegende Form der Trauer und der Erinnerung — und eine Art und Weise, die Wirklichkeit auszuweiten über das auf den ersten Blick Sichtbare hinaus. Es ist aber auch, wenn man so will, ein überwältigendes Zeugnis der Liebe.

Charlotte und Felix spielen am Strand ihre toten Eltern. Sie ahmen sie mit der Genauigkeit des kindlichen Blicks für die Eigenheiten der Eltern und mit einer ausgeprägten Lust an der überspitzten Übertreibung nach. Wenn sie sie spielen, sind sie so sehr bei den Eltern, dass sie deren Abwesenheit vergessen. Sie leihen ihnen ihren Atem, ihre Körper, damit Vater und Mutter durch sie in die Wirklichkeit zurückkehren. Es gibt keine Einsamkeit mehr. Nicht nur sind die Eltern da, nicht nur sind die Kinder selbst die Eltern, sondern: Dadurch, dass sie die sinnliche Nähe nachahmen können, die zwischen Vater und Mutter bestand, finden auch Charlotte und Felix wieder näher zueinander. Wenn Ursina Lardi am Boden liegt und Tränen weint vor Lachen, während Devid Striesow sie auskitzelt, dann kriegt man einen Eindruck davon, wie sehr dieses Spiel mit der Vergangenheit aufgeht in einem kurzen, flüchtigen Augenblick unbelasteten Glücks. Plötzlich hört man das Lachen der Mutter aus Charlottes Mund. Die Geschwister toben sich in der Erinnerung an Vater und Mutter aus, geraten in eine Ausgelassenheit, die die damalige Ausgelassenheit der Eltern ist. Die Freude der Eltern wird zur Freude der Kinder. Es ist dies die konkreteste Art und Weise, um gegen den Strom der Zeit zu schwimmen. Es ist eine Wiederauferstehung aus Liebe.

  • Zwei Schauspieler*innen mit traurigen Gesichtern sitzen aneinandergelehnt auf der Bühne.
    „Verrückt nach Trost“
    © SF / Armin Smailovic

Es ist darum umso schmerzhafter zu sehen, wie das Spiel sich in Erinnerung auflöst und zu Ende geht. Es ist etwas anderes, Vergangenheit nachzuspielen, als sich ihrer zu erinnern. In der Erinnerung weiß man, dass der gegenwärtige Augenblick von dem erinnerten für immer getrennt ist. Wenn man spielt, treten Erinnerung und Gegenwart in eins und man kann den Verlust vergessen. In dem Moment, in dem Charlotte als Mutter das Kind – also sich selbst – auf den Schoß nimmt, fühlen wir jedoch, dass sich etwas verändert. Charlotte will aus dem Spiel heraustreten und sie tut dies, indem sie sich von Felix löst. Statt gemeinsame Erinnerungen zu spielen, begibt sie sich immer mehr in ganz persönliche Erinnerungen hinein, Momente der höchsten Intimität zwischen ihr und der Mutter. Aus dem Spiel heraus gleitet Charlotte langsam in die Erinnerung ab, als würde sie die Gegenwart verlassen. Sie spielt nicht mehr die Mutter, sondern hört deren Stimme in ihrem Inneren. Es ist der Augenblick, in dem die Eltern nicht mehr gespielt, sondern als erinnerte Menschen auf der Bühne präsent werden. Galt im Spiel die Regel, dass Vergangenheit und Gegenwart eins waren, so treten die Zeitdimensionen nun wieder auseinander. Das Vergangene ist vergangen, die beiden Kinder sind allein zurückgelassen, die Eltern Erinnerungsmomente in ihnen. Hier wird der Quell gezeigt, aus dem das ganze vorherige Spiel aufgestiegen ist und in den es wieder mündet: die Erinnerung.

Die Frage bei jedem Trauerprozess ist, ob oder wann man den Toten für tot erklärt. Der Umgang mit dem eigenen Überleben ist ein Balanceakt. Charlotte fühlt „Rückenwind“ in dem Augenblick, in dem sie die Eltern für tot erklärt und sich von ihrem Gedenken lossagt. Die Bestärkung, die Charlotte erfährt, ist jedoch eine trügerische. Das Leben mit den Toten ist eine Form des Lebens ohne Tod, dadurch mindert und dämpft man die Härte des Lebens. Durch Charlottes Abkapselung identifiziert sie sich mit dieser Härte und nimmt sie in ihr Leben mit hinein. Sie wird zur Einzelkämpferin. Aber nicht nur das. Das Gedenken der Toten bereichert unser Dasein. Indem wir uns in ihnen spiegeln, ihre Geschichten erzählen und uns erinnernd in sie hineinversetzen, erhalten wir den Bezug zu ihrer Lebenserfahrung. Das gibt uns die Möglichkeit, zu lernen. Kultur ist genau das. Zur Kultur gehört nicht nur die offizielle Vermittlung von Wissen und Techniken. Durch die Eltern, in denen vergangenes Leben aufgespeichert ist, lebt kein Kind jemals in der bloßen Gegenwart. Jedes Kind nimmt dank der Lebenserfahrung der Eltern, die sich in ihren alltäglichen Handlungen niederschlägt, unbewusst Teil an der Vergangenheit, Teil am langen Prozess der Kultur: lernt leben. Durch Nachahmung werden so ungeheure Mengen an uraltem Wissen weitergegeben, Wissen darüber, wie man miteinander umgeht, wie man zärtlich zueinander ist, wie man Leichtigkeit, wie Freude erzeugt. Um sich von der Trauer zu lösen und eine ganz eigene Lebensform zu finden, sagt sich Charlotte auch von diesen Erfahrungsräumen los. Erfahrungsräume, die für Felix umso entscheidender sind, denn seit dem Tod seiner Eltern spürt er seinen Körper nicht mehr: Eigene Lernerfahrungen sind ihm versagt. Er muss nachahmen. Charlotte muss ihm beibringen, wie man küsst. Nachspielen ist seine Art, gegen seine Vereinsamung zu kämpfen.

Das Tragische an Charlotte und Felix ist, dass sie die Zuneigung, die sie im Leben so dringend brauchen und brauchen werden, nur spielen können. Jede Figur scheint auf ihre Weise unfähig, das, was die Eltern vorgelebt haben, im eigenen Leben umzusetzen, nämlich: eine glückliche Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen. Felix, da er von der Gegenwart durch seine körperliche Fühllosigkeit fast gänzlich abgeschnitten ist. Charlotte, weil sie die Vergangenheit wegwirft, um die Gegenwart für sich zu retten.

Menschen sind keine Waisen. Das unterscheidet uns vom Oktopus. Das Oktopus-Männchen stirbt nach der Zeugung und das Weibchen nach der Geburt. Der Oktopus lebt nur in der Gegenwart. Unter ihrem Zugzwang lebt er sein Leben. Was ihn jedoch mit dem Menschen verbindet, ist nicht nur seine hohe Intelligenz. Ähnlich wie der Mensch – vor allem in seiner gattungsgeschichtlichen Frühzeit – lebt der Oktopus in engster Fühlung mit der ihn umgebenden Umwelt und in einer Flut von Verwandlungen. Um sich zu tarnen, nimmt er die Form von Steinen und Pflanzen oder anderen Meerestieren an. Aber der Oktopus kann durch seine Verwandlung keinen Kontakt mit der Vergangenheit knüpfen. Seine Verwandlungen beziehen sich immer auf Gegenwärtiges. Dadurch, dass der Mensch bei den Eltern Erfahrungen der Geborgenheit und der Zuwendung machen kann, Erfahrungen des Trostes, trägt er stets einen Kompass in sich, den er durch Erinnerung bewahrt. Dem Oktopus fehlt dieser Kompass, und es ist dieser Kompass, den Charlotte wegwirft.

Indem Charlotte aus dem Spiel aussteigen will und sich von Felix lossagt, verwandelt sie sich in einen Oktopus. Sie kappt den Bezug zur Vergangenheit, wirft sich mit ihrer geballten Energie und Lebenslust in die Gegenwart. Zwar löst sie dadurch eine Art Bann der Vergangenheit, aber sie entfremdet sich auch von ihrem Menschsein: „Ich will nicht mehr getröstet werden“, sagt sie. Menschen jedoch trösten und werden getröstet.

Die Idee, die Figur der Charlotte als Oktopus weiterzuerzählen, ist nicht das Resultat einer vorher erdachten, begrifflichen Logik, es ist vielmehr der Nachhall des Eindrucks, den die Figur auf uns gemacht hat. Ihr Bedürfnis, allein klarzukommen, das Ungestüme und Vielfältige ihrer Energie wirkten letztendlich so, als strebe sie diese Metamorphose an. Die Verwandlung ist für sie das Naheliegende, aber gleichzeitig der Weg in die Ausweglosigkeit.

  • Eine Person posiert sitzend und mit den Beinen in der Luft. Im Vordergrund blickt eine Person erstaunt.
    „Verrückt nach Trost“
    © SF / Armin Smailovic

Mit dem Auftritt des Tauchers kippt die einigermaßen vertraut gewordene Strandwelt wieder ins Unbekannte. Das Aufregende und Fremde, das dieses plötzlich auftauchende Wesen umgibt, hat etwas von der Art, wie man sich als Kind wohl immer schon einen Taucher vorgestellt hat. Während Sebastian Blomberg in leichtem Schwanken und mit feinstem Rhythmusgefühl die Welt um ihn herum und die Kinder bestaunt, kriegt diese Welt einen Stoß, und man hat einige Sekunden lang den Eindruck, man sei plötzlich selbst unter Wasser gesunken. Die Kinder wirken wie bunte Fische, der Strand wird zum fremden Ort – wie 20.000 Meilen unter dem Meer. Das Leben über Wasser, seine Wesen und Gestalten, werden uns so fremd wie die seltsamen, vielfarbigen Geschöpfe, die wir aus Unterwasseraufnahmen kennen. Es handelt sich hier nicht nur um den Auftritt einer Figur, sondern um einen regelrechten Stoß, der unserer Wahrnehmung der Bühnenwelt versetzt wird. Die Überwältigung, die hier mit einfachsten Theatermitteln hergestellt wird, ist die Überwältigung, mit der die Welt auf die Kinder einströmt. Es ist ihre Wahrnehmungsweise, die sich hier auf die Zuschauerinnen und Zuschauer überträgt. Jedes neue Stück Wirklichkeit, dem die Kinder begegnen, verändert ihre Auffassung der Wirklichkeit grundlegend. Wer glaubte, alles zu kennen, sieht die Dinge wieder frisch. Dies ist im Grunde die Herangehensweise von Thorsten Lensings Theater: Von der Realität wird das Grau abgeschüttelt wie Staub. Wir werden von Unerwartetem direkt berührt: den Menschen, den Tieren, den Pflanzen, den Elementen. Sie alle treten in diesem Stück als gleichrangige Figuren auf. Eine prägende Komponente dieser Inszenierung ist, dass die Menschen nicht in einem abstrakten Raum leben. Während sie auf der Bühne sind und spielen, fühlen wir die ganze Welt, in der sie leben – und dass diese Welt unablässig etwas mit ihnen macht. Sie ist nicht totgestellt, sondern, als würden die Wände um die Zuschauerinnen und Zuschauer herum durchlässig, weht ein Wind, strömt Regen, ja, schlagen Blitze in das gemeinsam erlebte Geschehen hinein.

Die Dramaturgie des ersten Teils ist eine der Plötzlichkeit. Alles findet an einem Ort statt, der weit, offen und nicht kontrollierbar ist. Am Strand geht das Feste, Starre ins Bewegliche und Fließende über. Die Figuren sind so unberechenbar und unübersehbar wie das Meer, aus dem sie kommen. Unablässig verändern sie die Realität, die der Zuschauer oder die Zuschauerin wahrnimmt. Unablässig verändern sie sich selbst. Sie sind keine Gefangenen unseres Wahrnehmungsvermögens. Dieses muss eher versuchen, ihrer Lebendigkeit zu folgen. Es gibt daher im ersten Teil keine durchgehende, einheitliche Realitätsebene. Alles erscheint in den glühenden, intensiven, grellen Farbtönen der Kindheit.

Was Wirklichkeit sein soll, wird nicht festgelegt. Das bedeutet aber nicht einen absoluten Relativismus. Es gibt eine empirische Realität, aber in dieser empirischen Realität träumen Menschen, sie lesen, erzählen einander ihre Erlebnisse, sagen Gedichte auf und spielen Erinnerungen nach. Alles das wirkt auf sie ein, hinterlässt Spuren, formt sich um zu Lebenserfahrung und zu Wissen über das, was es heißt, auf der Welt zu sein. Jede Zuschauerin, jeder Zuschauer wird wie die Kinder dank der Schilderung des Tauchers einen bleibenden Eindruck davon gewonnen haben, was es heißt, in die Tiefen des Wassers hinabzusteigen. Aber keiner von uns war im Laufe des Abends wirklich dort: Das Erlebnis der anderen Welt wurde nur in uns hervorgerufen. Ebenso wenig einsehbar wie der Raum, der sich hinter der Stahlrolle verbirgt, ist das Innenleben von Menschen. Daher haben sie die Tendenz, uns zu überwältigen. Der einzige Erwachsene im ersten Teil, der Taucher, ist nicht bei klarem Kopf und daher viel näher bei sich: Wie die Kinder ist er dem Moment ausgesetzt. Sein Inneres ist in Bewegung, daher wird er durchlässig, als zersetze sich sein Panzer. Wir sehen sein ganzes Glück und Unglück.

Fische nähern sich in ihrer schuppigen Gestalt und Stummheit den Gegenständen an. Sie vermitteln für den Taucher zwischen der Welt der Lebewesen und der Welt der Dinge. Daher ist jede ihrer Bewegungen aufregend: ein Beweis, dass sie leben. Von ihnen wird man nicht enttäuscht. Man erwartet von ihnen keine Worte, keine Zärtlichkeit. Der Taucher ist ein Mensch, der das Gefühl hat, sich in die Menschenwelt verirrt zu haben. Nach seinem Tiefenrausch findet er nicht mehr ins Leben zurück. Die Stille, die er unter Wasser erlebt hat, lässt ihn nicht mehr los. Die Tragik des Tauchers liegt darin, dass er sich die Erfüllung seiner Sehnsucht nur in Gestalten vorstellen kann, in denen er Schritt für Schritt seine Lebendigkeit ablegt. Am Ende des Abends verwandelt er sich in einen Gegenstand, einen Stuhl. Da seine Erlebnisse sie faszinieren, beginnt Charlotte mit der Anverwandlung des Tauchers. Dass sie seine Worte nachspricht, ist nicht nur Zeugnis ihrer außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten, sondern ebenso ein erster Ansatz zur Metamorphose wie später das neugierige Betrachten und versuchsweise Anziehen seiner Kleider. Durch die Lektüre seines Buches dringt sie vollends in seine Welt ein. Charlotte probiert aus, wie es ist, ein anderes Ich zu sein. Es sind die ersten Handlungen des Oktopus.

Nicht nur das Spiel der Kinder, die ihre toten Eltern ins Leben zurückholen, auch das Lesen ist Kommunikation mit dem Unsichtbaren. Für Charlotte werden die Menschen, mit denen sie gerade zu tun hatte, zu den Figuren der imaginären Welt, die ihr während der Lektüre entgegenschlägt. Der Roman konfrontiert sie mit einem erschreckenden Gegenbild zu dem Leben, das sie mit ihren Eltern kannte. Der Schock ist groß. Sie trifft auf ein vor Hunger schreiendes Baby, das den zwischen hemmungsloser Zuneigung und Überforderung wechselnden Zuständen seiner Eltern hilflos ausgesetzt ist.

* * *

  • Eine schauspielende Person strampelt sich stehend aus einer Hose und trägt darunter einen Slip.
    „Verrückt nach Trost“
    © SF / Armin Smailovic

Eines Tages während der Proben, wir waren im Grunde schon fertig und einige waren bereits nach Hause gegangen, verwandelte André Jung sich das erste Mal in einen Affen. Es war die längste Verwandlung, die ich miterlebt habe. Sie dauerte mindestens zwanzig Minuten. Sie begann außerhalb unseres Blickfelds, in unserem Rücken, und kam unerwartet. Wir hatten alle schon darauf gewartet, wann es passieren würde, wann er uns seinen Orang-Utan zeigen würde. Darüber gesprochen aber wurde nicht, den Moment wählte er. Die Stille war augenblicklich, die Atmosphäre im ganzen Raum – es war ein weiter, hoher Probensaal – war schlagartig eine andere. Vielleicht lag es daran, dass jeder unwillkürlich langsamer atmete. Ich verlor damals jedes Zeitgefühl. Die Zeit des Affen ist eine andere Zeit als die des Menschen: Meine biologische Uhr – von der Zeit der Stunden, Minuten und Sekunden gar nicht zu reden – war auf einmal nicht mehr die dominante, die einzige im Raum. Plötzlich wurden wir alle berührt vom Zeitrhythmus des Affen. Die Gegenwart seiner Sekunden, seiner Minuten veränderte die Wahrnehmung unserer Sekunden und Minuten. Diese andere Zeit im Raum war vielleicht das erste klar erkennbare Zeichen der Verwandlung. Dasselbe Phänomen habe ich später bei anderen Verwandlungen wiedererkannt. Wir Menschen verfügen offensichtlich über ein Organ, mit dem wir die Zeit anderer Lebewesen unbewusst aufnehmen und in uns speichern. Es ist das Erstaunliche an diesen Schauspielerinnen und Schauspielern, dass sie offensichtlich diese verschiedenen Zeiten in sich tragen und gezielt darauf zurückgreifen können.

Als der Orang-Utan dann in unser Blickfeld kam und man ihn das erste Mal in Gänze sah, entstand ein ungeheures Spannungsfeld. Das Realitätsgefühl sackte kurz weg. Es war wie bei einem Vexierbild. Jede Bewegung seiner Arme oder Finger, die ganze Haltung seines Körpers folgte einer Logik, die uns aus diesem Wesen plötzlich entgegenblickte und die keine menschliche mehr war. In keiner Sekunde während dieses Vorgangs fand eine Kommunikation mit André Jung statt, die man selbst verstand. Ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, ihn anzusprechen. Wir waren gebannt von der Aura dieses fremden Wesens und wollten sehen und verstehen, was der Affe als nächstes tun würde.

Devid Striesow saß nicht weit entfernt auf dem Boden, denn letztlich war er es ja, Felix, der den Affen träumte. Es war nicht leicht für ihn, mit André Jung umzugehen. Der Orang-Utan war wild und nicht domestiziert. Nach und nach jedoch wich die Anspannung, sie wurden einander vertrauter. Und als André Jung seine zart und gleichzeitig dumpf geneigte Hand zu Devid Striesows Nacken führte und mit seinem gekrümmten Finger zaghaft und doch präzise an dessen Haaren und an seiner Haut spielte, verstanden wir etwas über die Ursprünge unserer Zärtlichkeit und ihre fünf Millionen Jahre alte Geschichte.

Auch bei Sebastian Blomberg war die erste Verwandlung ein besonderes Ereignis. Er verwandelte sich in eine Schildkröte. Als ich diese das erste Mal sah, war ich fasziniert von so viel zärtlicher Langsamkeit. Wie kann ein Mensch sich so entschleunigen? Es war wieder ein Zeitphänomen, aber dieses Mal von anderer Art: Die Zeit der Schildkröte ist uns noch um einiges ferner als die des Affen. Nicht umsonst werden Schildkröten bis zu zweihundert Jahre alt. Sebastian Blomberg war langsam, aber er legte erstaunliche Distanzen zurück auf der Suche nach Futter. Da wir ihm kein Grünzeug hingelegt hatten, kam die Schildkröte nicht zur Ruhe, es sei denn, sie konnte am Seil lecken, das wir als Blitz aufgehängt hatten.

Aufregend war immer, was die Tiere sahen. Tiere sehen nie das, was die Menschen sehen. Sie haben ganz andere Interessen. Schon bei André Jungs Affen folgte man stets seinen Augen und rätselte, was sie wohl erblickten, was sie gerade fesselte und was das in ihm, dem Affen, auslösen mochte. Auch Sebastian Blomberg sah in der Tat nie höher als eine Schildkröte. Er sah die Welt von unten: keine Menschen mehr, nur Beine. Man spürte, dass er unmöglich unsere Gesichter sehen konnte. Man bemerkt als Mensch sofort, wenn man nicht mehr gesehen wird. Menschen schauen einander an; die Blicke können wir meistens lesen, fühlen tun wir sie immer. Ich wusste, dass ich mit Tieren im Raum war, als ich spürte, dass ich von manchen Wesen nicht mehr gesehen wurde.

Felix hat schockartig auf den Tod seiner Eltern reagiert und sein Körpergefühl verloren. Es ist kein Zufall, dass er von einem Affen träumt. Jeder, der einmal unsere nächsten Verwandten im Zoo oder auch in einer Fernsehdokumentation gesehen hat, weiß, dass die durchgängige Wichtigkeit körperlicher Nähe und Berührungen eine auffällige Eigenheit von Menschenaffen ist. Von ihnen haben wir nicht nur, wie Felix selbst es sagt, unser Fingerspitzengefühl. Durch das Schwingen in den Bäumen, das Hangeln von Ast zu Ast, bei dem die Arme und nicht mehr der Schwanz benutzt wurden, der sogenannten „Brachiation“, haben sich unsere oberen Gliedmaßen gestreckt, unsere Arme, die Finger und auch unser Schlüsselbein. Erst dank dieser Nebenprodukte der Evolution eröffnete sich plötzlich die Möglichkeit der umschließenden Umarmung. Eine neue Wärmequelle zu einer Zeit, in der man das Feuer noch nicht beherrschte. Seither nutzen wir als Menschheit unsere Körper, um mit ihnen Wärme zu produzieren, Glück und das Gefühl von Geborgenheit. Sie sind eine wichtige Quelle des Trostes.

Berührung ist Grenzüberschreitung. Ein Mensch, der wie Felix Berührungen nicht mehr spürt, ist eingeschlossen in seinem Körper. Seine Haut wird zum Gefängnis, der Körper zu einer Last, zu bloßem Gewicht. In dem Augenblick, in dem Charlotte Felix die Möglichkeit nimmt, sich im Spiel zu trösten, wird ihm jeder Halt entzogen. Er befindet sich im freien Fall. Das Gegenteil des Falles ist der Flug.

In Felix’ Traum tritt auch eine Stabhochspringerin auf, Maxima. Eine Stabhochspringerin ist nichts anderes als ein Mensch, der für wenige Augenblicke fliegen kann. Ihr Stab, den sie dafür braucht, ist „leicht wie Vogelknochen“. Es sind dies offensichtlich die Fragmente eines Verwandlungstraums. Es scheint, als seien in diese Traumfigur der Maxima zwei Wesen eingegangen, die beide Ausdruck sind für Felix’ Sehnsucht zu fühlen: ein Mädchen, dem er nahe sein kann, und ein Vogel, der fliegen kann.

Im Traum fällt nach dem Gewitter, der atmosphärischen Entladung, von Maxima und von Felix jedes Gewicht ab. Felix spürt seinen ganzen Körper, sogar die Luft schmeckt. Wenn wir Luft fühlen, wenn wir Wetter fühlen, fühlen wir ganz. Es ist nicht eine vereinzelte Stelle am Körper, die berührt wird, nicht ein isolierter Gegenstand, der uns berührt: Alles fühlt, der ganze Körper fühlt. So muss es sein, wenn man fliegt. Felix, dessen ganzer Körper taub ist, ist aufgeladen mit einer verstärkten Sensibilität dafür, was es bedeutet, zu fühlen.

Das Stück zeigt nie, dass unser Leben harmonisch in die Tierwelt eingebettet ist. Tiere tauchen nur in Träumen, in Dias auf und in einem erschütternden Gedicht über eine Kuh am Schlachttag. Es zeigt lediglich, dass wir in unseren existenziellen Krisen auf sie stoßen. Wir flüchten zu ihnen, und sie suchen uns heim.

Zwar begegnen wir in unserem Alltag noch Tieren, aber wir kontrollieren sehr genau, wie diese in unser Leben treten. Unerwartet im Freien auf ein Tier zu stoßen, ist für fast jeden Menschen heutzutage ein Ereignis. Wir kennen die meisten im Grunde nur von Abbildungen oder aus Zoos. In beiden sind sie Gefangene, fixiert in einem Raum, den wir definieren. Es steht außer Frage, dass wir Menschen beunruhigt sind von dem, was die Tiere in uns auslösen könnten. Die Erinnerung daran, dass wir die Welt einmal als Gleichrangige mit ihnen teilen mussten, rüttelt am Herrschaftsanspruch unserer Identität als Homo sapiens sapiens. Die Millionen von Jahren, die uns vom Affen trennen, beruhigen uns. Wir sind weit weg vom Tier und betrachten als isolierte Spezies von der Spitze der Evolutionspyramide die uns umgebende, in weiter Ferne liegende Welt. Es erschüttert uns daher, wenn wir im Stück sehen, wie die Tiere aus dieser Fixierung heraustreten.

Dies empfindet man vielleicht besonders deutlich beim Oktopus. Wenn sein Dia aus der Dunkelheit hervorkommt, entsteht eine Spannung, die es vorher bei den Fisch-Dias des Tauchers nicht gab. Ohne dass sie ein Wort sagt, bloß durch die Art, wie sie in ihrem Körper und in ihren Augen die Kräfte konzentriert, kippt Ursina Lardi das Verhältnis zwischen Betrachter und Betrachteten um. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Dia den Taucher anspricht. Wenn Ursina Lardi dem Oktopus ihre Stimme leiht, trifft jeder ihrer Sätze wie ein Geschoss über den Abgrund hinweg, der Mensch und Tier trennt.
In dieser Szene kommt nicht nur die existenzielle Not des Tauchers zum Ausdruck, durch sie wird auch die Figur der Charlotte weitererzählt. Die Verzweiflung des Oktopus über seine Situation ist ein Spiegelbild der Verzweiflung, in die Charlotte im Erwachsenenalter hineingeraten ist.

Die Tiere in diesem Stück sind keine Symbole, sie sind vielmehr ein Versuch, der Komplexität der Welt gerecht zu werden ohne Reduktion, ein Abwehrreflex gegen die Neigung, den Menschen in einem leeren Raum zu platzieren und mit Begriffen zu sezieren. Die Tiere sind Ausdruck davon, dass etwas in uns lebendig mit der Außenwelt verknüpft ist. Es ist eine Rebellion gegen die Vereinsamung des Menschen, gegen seine Herauslösung aus der Umwelt.

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  • Eine Person drückt sich Sonnencreme aus der Tube in den Mund.
    „Verrückt nach Trost“
    © SF / Armin Smailovic

In den Proben wurde das Lachen zu einer wichtigen Kommunikationsform. Die Präzision in der Wiedergabe der Welt wurde durch Freude und Empathie erzeugt. Es war die Freude darüber, dass das, was man sah, fast immer noch um einiges besser war als das, was man sich erhofft hatte. Das Lachen reagierte auf jedes Detail und bestärkte die Schauspielerinnen und Schauspieler in ihren Erkundungen, ohne sie jemals aus der Unmittelbarkeit ihres Spiels herauszunehmen.

Die Komik in „Verrückt nach Trost“ ist jedoch nicht allein Ausdruck von Freude. Sie ist auch eine Art und Weise, mit der eigenen Ohnmacht umzugehen, ein Versuch, sich der Erfahrung zu stellen, dass es Dinge im Leben gibt, die man nicht ändern kann. Sie ist eine Notwehr gegen das Unabänderliche.
Die Wucht und Energie, die hierdurch entsteht, kann die Zuschauerin oder den Zuschauer kurzfristig überfordern und den Eindruck einer losen Reihung ausdrucksstarker Szenen erzeugen. Aber alles ist so unmittelbar wie durchdacht, verknüpft und aufeinander bezogen.

In den Inszenierungen von Thorsten Lensing wird man immer wieder aus der Reflexion in die Unmittelbarkeit gezogen. Diese Unmittelbarkeit ist aber nie gegen das Denken gerichtet. Sie weist darauf hin, dass das Denken sich immer offenhalten muss für eine Realität, aus der sein ganzer Reichtum ursprünglich stammt und aus der sich dieser Reichtum auch immer erneuert.

Diese Herangehensweise bezieht sich nicht nur auf die Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch auf alle Gegenstände des Bühnenraums. Es sind nie bloß Kostüme oder Requisiten, etwas also, das sich zur Gänze einer Funktion unterordnet. Es sind immer Dinge mit einem eigenen Leben. Jedes Kleidungsstück, jedes Tuch hat eine eigene Leuchtkraft und fügt dem Bühnenraum, dem Spiel der Schauspieler etwas hinzu, das oft nur schwer zu benennen ist. In manchen Fällen jedoch kann man in klaren Worten beschreiben, worin dieses Eigenleben besteht. So etwa bei der Wahl der Kapuzenbadetücher für die Kinder. Bis in die letzte bunte Faser durch und durch kindlich, geben diese Tücher mit ihren Kapuzen den Geschwistern zugleich auch etwas Geisterhaftes wie sonst nur weiße Bettlaken. Sie werden dadurch jener Doppelwelt gerecht, in der sich die Kinder befinden: Praktizieren diese einerseits ein Ritual, in dem sie im Grunde mit Abwesenden kommunizieren und das Sichtbare überschreiten, so sind sie andererseits als Kinder vollends in der Gegenwart, im gelebten Augenblick. Felix wird später, wenn von Geistern die Rede ist, einen Satz sagen, der bereits in der ersten Szene gilt: „Bin ja praktisch selbst einer.“ Aber nicht nur diese Aspekte, Kindlichkeit und Geisterhaftigkeit, nimmt das Tuch auf. Nachdem Felix sich im Kreis gedreht hat, das Tuch wehend um sich gebreitet, und aus kindlichem Impuls heraus eine Art Geistertanz vollzogen hat, legt er sich zum Ausruhen nieder, während Charlotte mit knallenden Stiefeln zum Buch des Tauchers schreitet und anfängt zu lesen. Das Tuch — soeben noch Geisterhülle — wird plötzlich zum Mittel der Verpuppung und Devid Striesow zur Larve in einem Kokon. Gespannt wartet man, welche Verwandlung unter diesem Gespinst nun folgen wird: Es ist die zum Baby — und das Badetuch wird augenblicklich zur Babydecke.

Schauspieler*innen auf der Bühne
„Verrückt nach Trost“
© SF / Armin Smailovic

Es ist stets das Naheliegende und Konkrete, das diesem Stück seine Tiefendimension gibt, nie ein abstrakter Begriff. Und es gehört zur Magie des Abends, dass sich nicht nur die Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch die Gegenstände ständig verwandeln. Ein anderes, offensichtliches Beispiel wäre der Taucheranzug, der nach dem vergeblichen Versuch, sich von ihm zu lösen wie von einer zweiten Haut, zum Schatten des Tauchers wird, der ihn verfolgt — Sinnbild dafür, dass wir uns von uns selbst nicht trennen können.

Dass es das Naheliegende ist, das diesem Stück seinen Puls gibt, kann man auch an einer weiteren Szene gut erkennen, die im ersten Augenblick weit hergeholt, vielleicht skurril erscheinen mag: der Begegnung zwischen Matthias und Felix. Ein Lautsprecher steht auf der Bühne, aus dem schwer bestimmbare Geräusche kommen. Erst beim zweiten Hinhören wird erkennbar, dass wir uns akustisch in intimer Nähe zu einem Menschen befinden. Es sind Essgeräusche, Schmatzen, das Schrubben einer Zahnbürste, die wir vernehmen. Wir hören, wie jemand atmet. Ein unsichtbarer Mensch ist auf der Bühne. Das Überraschende dieser Situation ist nichts anderes als eine leichte Abwandlung, eine leichte Verschiebung dessen, was wir im ersten Teil bereits erlebt haben: Wir leben mit unsichtbaren Menschen. Im Gegensatz zu den Eltern von Felix und Charlotte ist Matthias’ ehemaliger Freund nicht gestorben — aber fast. Und dies nicht nur wegen eines Unfalls, bei dem er beinahe umgekommen wäre: Jede Trennung von einem geliebten Menschen fühlt sich an wie ein Tod. Es ist die Sorge um den endgültigen Verlust des anderen Menschen, die Matthias dazu treibt, sich seines Wohlbefindens und letztlich seiner Gegenwart ständig zu vergewissern. Matthias wehrt sich gegen den Verlust, wie die Kinder sich in der ersten Szene gegen das vollständige Verschwinden ihrer Eltern wehren. Da der andere noch lebt, spielt er ihn nicht, sondern er hört ihn ab. Wir lieben einen Menschen dann, wenn er für uns da ist, auch in seiner Abwesenheit. Liebe hält fest am Unsichtbaren.

Die zweite Hälfte des Abends beginnt wie die erste mit sinnlicher Nähe. Wir sehen die körperliche Vereinigung zweier Männer. Sie sind eng umschlungen und doch sehr weit voneinander entfernt. Neugier und Interesse führen jedoch im Verlauf ihres Gespräches zu Vertrauen. Ob das Vertrauen zu wahrhafter Nähe führt und Felix am Ende weniger einsam ist, bleibt offen. Im zweiten Teil spielt jede Szene in einem spezifischen, abgegrenzten Raum. Charlotte und Felix sind getrennt. Das familiäre Zusammensein gibt es nicht mehr. Jeder muss allein sein Glück suchen. Das Tempo des Abends ist langsamer, ohne gleichmäßig zu sein. Es sind stets Gespräche unter vier Augen, Annäherungsversuche von Menschen, die in ihrer Vereinzelung gefangen sind. Wir erleben keine Kinder, die ihr Leben noch vor sich haben, sondern erwachsene Menschen, die sich verzweifelt ihrer selbst vergewissern wollen. Sie suchen dafür jemanden, der sie so annimmt, wie sie sind.

Schauspieler*innen auf der Bühne
„Verrückt nach Trost“
© SF / Armin Smailovic

In der letzten Szene sehen wir Charlotte kurz vor ihrem Tod. Im Altenheim feiert sie ihren 88. Geburtstag zusammen mit einem Pflegeroboter. Der Roboter weiß genau, was er ihr schenken muss. Er hilft Charlotte zu einer Selbstverständlichkeit sich selbst gegenüber, die sie fast ganz verloren hatte. Ihn verstört nichts. Mitten im Gespräch fängt sie an zu jodeln. Er jodelt mit und trifft genau die Töne, die in ihr Glücksgefühle auslösen. Die Spannung und Unausgeglichenheit ihres ganzen Lebens löst sich vor unseren Augen auf.

Das einzige Ziel des Pflegeroboters ist das Glück des anderen Menschen. Dafür wurde er gemacht. In ihm spitzt sich die Idee zu, dass Körper und Geist als Instrumente des Glücks betrachtet werden können. Es entsteht eine Zwanglosigkeit und eine Nähe, in der die beiden Schauspieler immer weniger spielen müssen.

Niemand ist so sehr umgeben von unsichtbarem Leben wie alte Menschen. Darin ähneln sie den Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne, die ihr Publikum wegen der blendenden Scheinwerfer meistens überhaupt nicht sehen. Zu Beginn dieser letzten Szene geht das Licht im Zuschauerraum an. Dadurch werden alle Zuschauerinnen und Zuschauer sichtbar. Es gibt keine Grenze mehr zwischen den Menschen auf der Bühne und den Menschen davor. Jede Schutzschicht fällt ab.

Der Weg, den Ursina Lardi an diesem Abend zurückgelegt hat, führt über unzählige Verwandlungen zu einer Natürlichkeit, in der auch das Theater im Grunde schon zu Ende ist. In dieser Szene gibt es weder Konflikt noch Entwicklung. Alles, was das Theater sonst ausmacht, ist verflogen. Die letzten Worte der Charlotte richtet Ursina Lardi daher an alle Anwesenden.