Text | Gespräch | Performing Arts Season 2024/25

Theater als Versuchsanordnung

Eine Performer*in kriecht unter den hellen Bodenbelag auf einer Bühne mit einem Wüstenhintergrund und einem Bus auf der linken Seite.
Der Garten der Lüste
© Martin Argyroglo

Der Regisseur Philippe Quesne im Gespräch mit dem Dramaturgen Éric Vautrin über sein neuestes Stück „Der Garten der Lüste“

Verfügbar seit 11. November 2024

Lesezeit ca. 12 Min

Deutsch und Englisch

Wortmarke Performing Arts Season

Ihre neueste Arbeit greift den Titel eines berühmten Gemäldes von Hieronymus Bosch aus dem frühen 15. Jahrhundert auf. Titel haben in Ihrem Schaffensprozess eine besondere Bedeutung. Was hat Sie zu diesem flämischen Maler des 15. Jahrhunderts geführt?

Es ist tatsächlich das erste Mal, dass ich den Titel eines bestehenden Werks übernehme – allerdings ist „Der Garten der Lüste“ kein Werktitel, den Bosch selbst vergeben hat, sondern einer, der sich durch den allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat. Die Kunstgeschichte ist in meinen Stücken immer wieder präsent, ich habe mich beispielsweise von Malern wie Brueghel, Dürer oder Caspar David Friedrich inspirieren lassen, aber auch vom Kino oder der zeitgenössischen bildenden Kunst. Eine der historischen Hypothesen besagt übrigens, dass Bosch wiederum Inspiration von den damaligen Wandertheatergruppen schöpfte. Die Verbindung zwischen den Künsten ist also nicht neu.

Abgesehen vom Titel hat es etwas Schwindelerregendes, sich diesem faszinierenden Triptychon zu widmen. Die Interpretationen des Gemäldes haben sich von den letzten 500 Jahren bis hin zu den Surrealisten, Philip K. Dick oder der Flower-Power der 1970er-Jahre immer wieder verändert. Auch heute noch gibt es keinen Konsens, weder über dessen Entstehungskontext noch über dessen Bedeutungen. Die Recherche im Vorfeld brachte uns mit verschiedenen Spezialist*innen und Liebhaber*innen des Gemäldes zusammen, angefangen mit den Konservator*innen des Prado in Madrid, wo es aufbewahrt wird, zu Mittelalterhistorikern wie Pierre-Olivier Dittmar oder großen Bosch-Liebhaber*innen wie José Luis Alcaine, dem Kameramann von Pedro Almodóvar, oder der französischen Dichterin Laura Vazquez. Wir nehmen das Gemälde als Ausgangspunkt, als inspirierendes Rätsel, ohne zu versuchen, es zu imitieren oder zu kommentieren.

Wie resonieren Ihre Theaterkreationen mit diesem Gemälde?

Dieses Werk macht Freude, denn es ermöglicht, ein umfangreiches historisches, ästhetisches, intellektuelles, spirituelles und psychoanalytisches Territorium zu durchqueren – neben vielen anderen Dingen! In dieser Hinsicht resoniert es mit dem Arbeitsprozess, den wir seit zwanzig Jahren mit Vivarium Studio entwickeln, unserer Art, ein Netz von Verbindungen und Annäherungen rund um einen Titel und gemeinsame Erinnerungen zu knüpfen, indem wir gleichermaßen die Kunstgeschichte und die Humanwissenschaften, die Populärkultur und die soziopolitischen Fragen, die uns bewegen, sowie das Absurde und die Reflexivität heranziehen. Bosch sammelt seine Fragen wie Hinweise auf das, was er erlebte oder prognostizierte. Er lädt die Betrachter*innen ein, dieselben Nachforschungen über sich selbst anzustellen; und heute gehen wir durch das Bild, indem wir uns wie in einem Science-Fiction-Film an den Hinweisen auf uns selbst und auf unsere Zeit entlang bewegen.

Eine kleine Gemeinschaft, die sich organisiert, eine spezifische Logik für eine alternative Art, ein Gebiet zu bewohnen, eine Katastrophe in der Ferne, die Natur, die unter unerwarteten Aspekten wiederauftaucht und die Beziehung zwischen Natur und Kultur stört ... Das sind in der Tat Begriffe, die Ihre Aufführungen diesem Bild nahebringen, trotz der Unterschiede zwischen den Epochen!

Damit eignet es sich für eine echte Zweckentfremdung! Jedes Detail eröffnet unvermutete Felder, die es zu erforschen gilt. Wir werden das Schicksal einer menschlichen Gemeinschaft teilen, die einer Erfahrung der Suche ausgeliefert ist, dem Aufbau einer möglichen, fantasievollen, poetischen Welt, die ihren eigenen Weg in einer bedrohten Welt erkundet. In welchem Sinne ist das Triptychon zu lesen? Ist die überraschende Mitteltafel ein Versprechen für die Zukunft oder eine längst verflossene Vergangenheit? Steht die Hölle für eine albtraumhafte Zukunft oder im Gegenteil für die Gegenwart? Sollte man überhaupt auf eine Antwort hoffen? Die Voraussetzungen für einen guten Western sind gegeben. Man überschreitet die Schwelle des Tafelbilds und schon ist alles möglich, auch wenn man natürlich eine Art und Weise finden muss, es selbst zu bewohnen, mit dem, was man vor Ort vorfindet.

Dazu kommt ein weiterer Aspekt: In diesem Jahr feiert meine Compagnie, Vivarium Studio, ihr 20-jähriges Bestehen. Einige Darsteller*innen dieser Aufführung waren bereits 2003 in „La Démangeaison des ailes“ zu sehen. Wenn ich diese gesammelte Erinnerung an unsere Aufführungen durchstreife, finde ich mich vor einem Sammelsurium voller Muster und Prototypen und der dazugehörigen Manege wieder: Maulwürfe in Menschengröße, Vogelscheuchen, Hunde, Vögel, fliegende Skelette ... und Höhlen, Fahrzeuge, Asteroiden, mechanische Klaviere, künstliche Inseln ... Eine Erinnerung, die mir rückblickend ebenso vielfältig wie logisch und geordnet erscheint – das ist ein Eindruck, der sich gar nicht so sehr von dem unterscheidet, den ich beim Betrachten des Gemäldes habe, das scheinbar sehr heterogen ist, voller unerwarteter Details, die fast autonom voneinander sind und doch organisiert, fließend, durchkomponiert.

Mit Hieronymus Bosch haben Sie einen Maler gefunden, der die Übergangszeit zwischen Mittelalter und Renaissance verkörpert, ähnlich wie Albrecht Dürer, dessen „Melencolia I“ Sie 2008 zu „La Mélancolie des dragons“ inspiriert hatte.

Ja, es gibt dieselbe Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft in Dürers Kupferstich mit seinem nachdenklichen Engel angesichts der Möglichkeiten des Glaubens und der Wissenschaft. Wenn zum Beispiel das Triptychon von Bosch geöffnet ist, steht links (traditionell das Paradies oder Eden) ein nacktes Paar in gepflegter Landschaft mit schönen, friedlichen Tieren. In der Mitte lebt eine kleine Menschenmenge zusammen mit anderen seltsamen Tieren (riesigen Vögeln), Pflanzen und Früchten (Erdbeeren so groß wie Menschen) und Materialien, Wasser, Glas ... Auch hier sind sie nackt, sie tanzen, laufen, entspannen sich. Es ist schwer zu sagen, ob sie irgendwo angekommen sind oder ob sie eingezäunt und unter Aufsicht gestellt werden, wie das Grau des geschlossenen Triptychons vermuten lässt. Auf der rechten Seite wird das Bild dunkel, die Wesen erstarren, sie werden von seltsamen Kreaturen festgehalten und der Raum ist überfüllt mit menschlichen Erfindungen: Häuser (in Flammen), Bücher (auf dem Kopf), Musikinstrumente, Schlittschuhe, Verträge, Partituren ... Man fragt sich, ob es nicht die sich gerade herausbildende Gesellschaft ist, die als furchterregend dargestellt wird. Eine Art von Techno-Ängstlichkeit? Wie „Melencolia I“ ist auch dieses Gemälde Teil einer Zeit der Ungewissheit, des Wechsels vom Mittelalter zur Renaissance, in der alle traditionellen, technischen, politischen oder spirituellen Anhaltspunkte erschüttert werden. Die Parallelen zu den Übergängen, die wir heute erleben, sind verblüffend: eine ungewisse Zukunft, von der man deutlich spürt, dass sie dazu führen wird, dass sich die Strukturen radikal ändern und Kulturen, Wissenschaften, Künste und politische Organisationen auf neue Weise miteinander vernetzt werden müssen. Um es mit anachronistischen Worten zu sagen: Bosch malte ein „offenes Werk“, das von einem freien Geist stammt.

Der in diesem Jahr verstorbene deutsche Kunsthistoriker Hans Belting hielt es für gesichert, dass Bosch eine Utopie malte, eine Vision der Menschheit ohne den Sündenfall und ohne Schuld, und damit Erasmus und Thomas Moore ankündigte. Seiner Meinung nach basiert Boschs Vision aus demselben Grund eher auf Beziehungen und Annäherungen als auf Perspektive. Könnten Sie sich nicht in diesen Herausforderungen, die sowohl ästhetischer als auch sozialer Natur sind, wiedererkennen?

Rückblickend ist es ziemlich kurios, aber die meisten meiner Aufführungen beginnen mit einem Problem, einer Panne, einem Unfall, der die Anwesenden zwingt, ihren Plan zu ändern – jedenfalls kann man das vermuten – und sich vor Ort mit dem, was sie vorfinden, zu organisieren: Ja, eine Utopie zu verwirklichen, das Wort gefällt mir gut, und sei sie auch nur vorübergehend. Meine Bühnenbilder sind Schauplätze eines Endes und gleichzeitig einer Art Beginn – sie ermöglichen oft diese doppelte Lesart. In „La Nuit des taupes“ (Nanterre-Amandiers, 2016) sind es Maulwürfe, die scheinbar einen unterirdischen Raum freimachen und schützen müssen, damit ihre Artgenossen ein Konzert veranstalten können. „Caspar Western Friedrich“ (Münchner Kammerspiele, 2016) zeigt ein in Umstrukturierung begriffenes Museum, das selbst zum Werk wird. In „Farm Fatale“ (Münchner Kammerspiele, 2019) organisieren Vogelscheuchen, die aufgrund des Vogelschwunds arbeitslos geworden sind, ein Piratenradio, um die Erinnerung an die Gesänge zu bewahren, mit anderen in Verbindung zu treten und dann mysteriöse Eier zu schützen. In „Crash Park“ (TNB Rennes, 2019) werden Überlebende einer Flugzeugkatastrophe zu modernen Robinsons und erschaffen sich die Insel ihrer Träume, so künstlich sie auch sein mag. Diese Ausgangssituation, die oft durch ein defektes Fahrzeug verursacht wird, kann auch als eine Landung genau da gesehen werden, wo wir uns befinden: in einem Theaterraum. Während meiner Zeit als Leiter des Théâtre des Amandiers in Nanterre habe ich den Philosophen Bruno Latour eingeladen, mit uns zu arbeiten. Unsere Zeiten beschrieb er lächelnd mit den Worten, dass es nicht mehr viel Diesel gibt und „der Kapitän bedauert, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der vorgesehene Ankunftsort nicht mehr existiert“. Damit drückte er aus, dass wir uns entscheiden müssen, irgendwo zu landen und schließlich – da wo wir sind – anfangen müssen zu handeln.

Es steht Ihnen frei, darin die Beschreibung einer öko-ängstlichen Gesellschaft zu sehen, in Latours Texten ist die Metapher auf jeden Fall explizit. Meine Figuren beteiligen sich an einer Fiktion – dieser Welt, die es zu erfinden gilt –, der sie sich anschließen, weil sie sie miteinander verbindet. Sie landen in einem Bühnenraum und entdecken unter dem Deckmantel der Fiktion bühnentechnische Elemente, die gewöhnlich in einem Theater zu finden sind und die ihr Projekt – das darin besteht, eine Art Vorstellung, einen selbstgebauten Vergnügungspark oder ein Konzert zu organisieren – unterstützen und ihm dienen. So können sie frei von der Repräsentation zur Fiktion, vom Theater zur Illusion und andersherum übergehen. Das Wichtigste für sie wird die Art und Weise, wie alles – Hilfsmittel, Bilder, Erinnerungen – positiv auf die menschliche und nichtmenschliche Gruppe einwirkt. Ihre Situation ist prekär, fiktional und theatral. Sie schlagen vor, für die Dauer der Aufführung an die von ihnen entworfene Utopie zu glauben und so einander – uns? – zusammenzubringen. Und das, während sie zugleich zeigen, wie ein Bild entsteht, wie sich eine Utopie zusammenfügt – und ja, in meinem Theater geschieht dies in der Tat durch ein Spiel mit Montage und Gegenüberstellung, denn darum geht es schließlich bei Utopien.

Eine Industriehalle im deutschen Ruhrgebiet, das Freilufttheater im Steinbruch von Boulbon in Avignon oder das römische Theater auf der Akropolis in Athen, die Ufer des Genfer Sees in Vidy-Lausanne, das Centro Dramático Nacional in Madrid in der Nähe des Prado ... Die Tournee Ihres Stücks zeichnet eine umfangreiche Karte des europäischen Theaters. Auf welche Weise ist dieses in Ihrer Arbeit präsent?

Ich inszeniere kleine Gemeinschaften, die versuchen, sich einen Raum der Möglichkeiten zu bewahren, einen Ort, an dem sie ein ebenso utopisches wie prekäres Projekt durchführen können, das sie aber zusammenbringt. Selbst wenn es sich um Mahlers „Lied von der Erde“ handelt, das ich in Wien inszeniert habe, ist es das, was den Sänger*innen fehlt und was sie zu suchen scheinen, ein Ort, an dem sie sich festhalten können, der sie aufnimmt. Meine Protagonist*innen landen an Orten, die ebenso Träger von Erinnerungen wie technisch präpariert sind, und sie werden sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen spielen.

Ich weiß also nicht, ob Kultur das Gedächtnis ist, das Europa zur Verfügung hat, um in die ungewisse Zukunft zu schreiten, oder ein Mittel, mit dem sie sich immer mehr daran erinnert, zu landen – anstatt sich weiterhin haltlos über der Erde zu bewegen, als wäre nichts geschehen, selbst wenn sie alles um sich herum und sogar das, was sie ermöglicht, zerstört. Ich weiß nicht, ob die Genüsse dieses irdischen Gartens unsere Vergangenheit oder unsere Zukunft sind ... Wir werden es sehen.

Das Gespräch führte Éric Vautrin, Dramaturg des Théâtre Vidy-Lausanne, in französischer Sprache im März 2023. Bearbeitung und Übersetzung von Laura Kisser / Festspielhaus St. Pölten.