Text | Rede | Theatertreffen 2022
Eröffnungsrede Stückemarkt

Vor fast genau einem Jahr wurde der Stückemarkt 2021 ein Stockwerk unter uns auf der Hinterbühne eröffnet. Ich befand mich in einer Art Fernsehstudio und sah zu einem roten Kameralicht hinauf, das blinkte und mich filmte, das meine Worte als Livestream an Computerbildschirme in aller Welt sendete.
Ich wusste weder, wie viele Menschen vor ihren Bildschirmen saßen, noch, ob überhaupt irgendjemand zusah. Ich wusste nicht, ob sie vielleicht nebenbei ihre Wäsche wuschen, eine gute oder schlechte Internetverbindung hatten, sich langweilten oder froh waren, zumindest ein kleines Fenster nach Berlin und zum Stückemarkt gefunden zu haben.
Wir alle kennen die Geschichten und Klagen über die kleinen und großen Krisen innerhalb der allumfassenden Krise namens „Pandemie“. Und wir haben alle viel darüber gehört, gelesen und gesprochen, wie die Abwesenheit echter, physischer Begegnungen Spuren hinterlassen hat, wie ermüdet wir sind und uns fragen, warum wir uns mit einer Kunstform beschäftigen, die so sehr auf genau dem beruht, was uns so lange gefehlt hat: Begegnung, Versammlung und Körper, die zur selben Zeit am selben Ort sind.
Umso mehr freue ich mich heute darüber, dass ich Ihnen allen in die Augen schauen kann. Dass Sie hier sind, dass Sie anwesend sind, dass nirgends eine filmende Kamera zu sehen ist und dass wir uns auf das freuen können, was kommt. Dass wir zusammen sind!
Was ist (uns) die Zukunft wert?
Diese Frage stellten wir im letzten Herbst im internationalen Open Call für den Stückemarkt 2022 und wir waren gespannt, welche Themen, welche Ästhetiken und Formen, welche Geschichten die Nachwuchskünstler*innen und –autor*innen weltweit antreiben.
Vor dem Ende der Bewerbungsfrist waren wir nervöser als sonst:
Wer schreibt noch fürs Theater? Wer nimmt noch die Mühe auf sich, nach neuen Ideen zu suchen, wenn es mitunter unmöglich erscheint, auch nur aus der Gegenwart schlau zu werden?
Und: Wer ist ausreichend privilegiert und kann es sich leisten, in einem weltweiten Lockdown für geschlossene Theater zu schreiben, Performances zu entwickeln – welche Künstler*innen verspüren den Drang, Geschichten zu erzählen, noch so stark, dass sie noch immer am Ball sind? Dass sie für eine völlig unsichere Zukunft schreiben und arbeiten?
Und: Was ist nach zwei Jahren der Pandemie von diesem Ort noch übrig? Wer will die Geschichten noch hören, wer schreibt sie – und für wen?
Unsere Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht: Wunsch und Wille, für das Theater zu schreiben und Performances zu entwickeln, sind ungebrochen. Wir wurden wieder mit Bewerbungen überschüttet. Auch langjährige Redakteur*innen des Stückemarkts, die uns bei der Vorauswahl unterstützten und zum Teil schon sehr lange dabei sind, gaben uns eine wunderbare Rückmeldung: Diese Arbeiten war die besten, die sie je besprochen hatten.
An diesem Punkt geht ein Riesendank an euch für eure kritische, kluge und zugewandte Arbeit.
Die Shortlist, die die diesjährigen Stückemarkt-Einreichungen abbilden soll, hat es der Jury nicht leicht gemacht. Sie enthielt viele starke Stücke, die sich in Form, Inhalt und Ästhetik extrem unterschieden. Genau das macht die Aufgabe, fünf Stücke auszusuchen, die nun hier im Mai im Rahmen des Theatertreffens zu sehen sind, so schwer und so schön.
Liebe Stückemarkt-Jury, lieber Kevin Rittberger und Ogutu Muraya, liebe Olga Grjasnowa – ich bin euch sehr dankbar dafür, dass ihr euch so wunderbar, so sensibel und so gewissenhaft mit der Shortlist und der Abschlussdiskussion beschäftigt habt!
Und Ihr habt diese tolle Auswahl getroffen!
Auf diese Arbeiten können wir uns freuen:
Auf ruth tang und „FUTURE WIFE”.
Auf Eric Marlin und „AirSpace or In the Next Century”.
Auf Amanda Wilkin und „And I dreamt I was drowning“.
Auf Aine Nakamura und „Circle Hasu We plant seeds in the spring of mountains”.
Und auf „Bakice / Grannies” von Kolektiv Igralke (Sendi Bakotić, Ana Marija Brđanović, Anja Sabol und Vanda Velagić) und Tjaša Črnigoj.
Lieber Eric, liebe Amanda, liebe*r ruth, liebe Sendi, Ana Marija, Anja, Vanda und Tjaša, liebe Aine: Wie wunderbar, dass ihr hier seid! In den nächsten Tagen wird sich alles um euch und eure Arbeit drehen! Seid herzlich willkommen!
Ich möchte bei dieser Gelegenheit der Bundeszentrale für politische Bildung und ihrem Präsidenten Thomas Krüger unseren großen Dank dafür ausdrücken, dass sie auch in diesem Jahr den Stückemarkt-Werkauftrag fördert.
Liebes Partnertheater, liebes Schauspiel Leipzig, Enrico Lübbe, Torten Buß, Marleen Ilg und Thomas Frank: Ich freue mich sehr, dass ihr hier bei uns seid, dass ihr diese besondere Aufgabe und Einladung, eine Person oder ein Kollektiv von den fünf eingeladenen Arbeiten für eine neue Arbeit in Leipzig auszuwählen, so freudig angenommen habt. Das ist ein Ausdruck eures Vertrauens zu uns und unserer Arbeit – vielen Dank dafür! Danke für den Austausch mit euch und unseren Autor*innen und Künstler*innen, der gestern so spannend begonnen hat. Ich wünsche euch sehr inspirierende Tage beim Stückemarkt!
Herzlichen Dank auch an die Teams der Technik und Organisation bei den Aufführungen von „Bakice / Grannies“ und „Circle Hasu We plant seeds in the spring of mountains“.
Danke an die Teams der szenischen Lesungen, an die Regisseur*innen Marie Schleef, Sapir Heller und Kieran Joel – ihr drei seid für mich die perfekte Wahl für die erste Lesung der Texte “FUTURE WIFE“, „AirSpace or In the Next Country“ und „And I dreamt I was drowning“ hier beim Stückemarkt.
Und nicht zuletzt:
Liebstes Stückemarkt-Team, Daja Vogt und Sophia Scherbaum: Ohne euch wäre dieser wilde Vorbereitungsritt nicht so glatt gegangen!
Was ist (uns) die Zukunft wert?
Wir müssten aktuell vielmehr fragen: Was ist uns unsere Gegenwart wert, welche Zukunft wird ihr folgen?
Mit dem Krieg in der Ukraine gleich hier vor unserer Tür erscheint alles, was gesagt und vorbereitet wurde, alles was nun stattfindet, klein. Was erhält die Menschlichkeit am Leben?
Es wäre naiv zu glauben, dass Theater eine Kraft gegen einen brutalen Krieg sein könnte.
Die Kraft der internationalen Zusammenarbeit hat uns gelehrt, an Bündnisse und Solidaritäten zu glauben. An ein bewusstes Weiterarbeiten ohne Unterlass, an das Theater und an die Sprache als demokratisches und freies Instrument, mit dem wir schreien, schweigen, erinnern und kritisieren können.
Dies alles ist so wertvoll und schützenswert; wie wir gerade im Moment sehen, ist es in hohem Maße zerbrechlich und darf nicht für selbstverständlich gehalten werden. Und genau deshalb sind wir alles hier, weil wir an die Kraft der Sprache glauben, an öffentliche Äußerungen und ihre vielen Facetten, Ausdrucksweisen und Schattierungen.
Und weil ich ganz sicher bin, dass Sie diesen Glauben mit mir teilen, eröffne ich hiermit den Stückemarkt 2022 und bitte Lili Hering, die Moderatorin der folgenden Jurydiskussion, zu mir auf die Bühne.