Text | Rede | Theatertreffen 2022
Laudatio Stückemarkt Werkauftrag 2022

Laudatio auf Amanda Wilkin, Gewinnerin des Stückemarkt Werkauftrags 2022
Liebes Publikum, liebes Stückemarkt-Team und, vor allem, liebe Stückemarkt-Künstler*innen des Jahres 2022,
hinter uns liegen Tage voller spannender Kunstwerke und lebhafter Diskussionen im Rahmen dieses Festivals.
Wir freuen uns vor allem darüber, dass wir als Partnertheater Gelegenheit hatten, euch schon vorher persönlich kennenzulernen. Eure Texte und Performances haben uns sehr berührt und wir möchten euch für diesen Einblick in eure Arbeit danken.
Als Institution betrachten wir zeitgenössische Texte und Performances als zentrales Element progressiven Theaters. Sie reflektieren das, was unser Alltag oft verbirgt. Sie erlauben uns einen schärferen Blick auf die Zeit, in der wir leben. Und daher ist eine lebendige und nachhaltige Zusammenarbeit mit Autor*innen und Performancekünstler*innen vielleicht unsere Antwort auf die Frage, die das diesjährige Stückemarkt-Motto stellt: Was ist (uns) die Zukunft wert? Deshalb freuen wir uns besonders über die Kooperation mit diesem Festival, das junge Künstler*innen sichtbar macht und fördert.
Zudem war es für uns eine große Freude, euch neun kennenzulernen, mit euch ins Gespräch zu kommen und miteinander über das Theater zu diskutieren. Und umso mehr auf Grundlage der Arbeiten, die ihr uns mitgebracht habt.
Da war ruth tangs Stück „FUTURE WIFE“, in dem wir in ein scheinbar surreales Setting entlang eines Fließbands entführt wurden, wo Beziehungen zwischen Frauen und Ziegen das einzig vorstellbare, funktionierende Gesellschaftskonzept sind. Daneben diskutiert eine Gruppe von Piraten über das vernünftigste Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Mit ihrem komplexen Gefüge aus Abhängigkeiten, Unterdrückung und Macht öffnet diese Welt unseren Blick auf die Konstruktion unserer eigenen. Indem es uns diese fiktionale Gesellschaft zeigt, enthüllt „FUTURE WIFE“ die absurden Mechanismen, die wir als normal akzeptieren – oder zumindest als das, wie es ist und schon immer war.
In „AirSpace or In the Next Century“ machte Eric Marlin uns mit einer jungen Frau bekannt, die als Consultant für ein Unternehmen in Rumänien tätig ist. Sie arbeitet Tag und Nacht, während ihre Freundin zu Hause auf sie wartet und ihre Mutter sie unaufhörlich anruft. Zudem ist ihre Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen alles andere als einfach. Wir erkennen ein fragiles soziales Szenario. Auf seine eigene Weise ist es Resultat eines internationalen Markts, dessen Eigenleben von den Menschen, die ihn aufrechterhalten, noch genährt wird. In schnellen Dialogen konfrontieren sich die Figuren im Stück mit ihren ganz besonderen Erwartungen, nur um im nächsten Moment in ein atemloses, allumfassendes Schweigen zu verfallen.
Wir erlebten die Performance „Circle Hasu We plant seeds in the spring of mountains“ von Aine Nakamura, in der sie auf beeindruckende Weise zwischen ihrer japanischen und ihrer amerikanischen Identität hin und her wechselt. Die kulturelle Spaltung ihrer beiden Identitäten ist die Grundlage ihrer minimalistischen, kontemplativen und doch intensiven Bühnenperformance. Die schlichten Linien ihrer Geschichte entführten uns erstaunlich tief in die Entfremdungserfahrungen einer asiatisch gelesenen Frau in New York. Und die Eleganz ihrer Choreografie, die sich bis in ihre Fingerspitzen fortsetzt, vermittelt eine Ahnung von der reichen Tradition des japanischen Tanzes. Mit ihren kurzen, performativen Interventionen verwandelte Aine Nakamura den Vorplatz des Haus der Berliner Festspiele in eine sakrale Landschaft, in der jedes Detail plötzlich wichtig wurde und ein kleiner Stein genauso wertgeschätzt wurde wie ein verletzliches und zerbrechliches Lebewesen.
Die Handlung von Amanda Wilkins Stück „And I dreamt I was drowning“ erfasst die Spannung zwischen einer spezifischen Geschichte und ihrer Übertragbarkeit ins Universelle. Es handelt davon, dass Flucht notwendig wird, wenn Individuen von einem System nicht mehr berücksichtigt oder einbezogen werden. Gemeinsam mit einem jungen Paar erleben wir, was es bedeutet, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und einer ungewissen Zukunft entgegenzusehen. Und wir sehen, wie territoriale Grenzen in zwischenmenschlichen Beziehungen fortgesetzt werden und diese so zu zerreißen drohen.
Die Performance des Kolektiv Igralke aus Rijeka, die gemeinsam mit der slowenischen Regisseurin Tjaša Črnigoj entwickelt wurde, führt uns in das kroatische Rentensystem ein und in die Notlage von vier älteren Frauen, die sich nur dadurch über Wasser halten, indem sie in den Straßen Rijekas leere Flaschen sammeln. Die Energie, die Begeisterung und der Esprit, die die vier Schauspieler*innen des Kollektivs auf die Bühne brachten, waren gleichermaßen atemberaubend und herzerwärmend – ganz im Kontrast zu dem eher schwierigen und frustrierenden Thema der Aufführung. Zudem wurden wir auf visuell eindrucksvolle Weise in die buddhistische Spiritualität der PET-Flaschen eingeführt, die uns neu war. Wir würden uns freuen, diese Art von Widersprüchlichkeiten öfter derart lustvoll auf der Bühne dargestellt zu sehen!
Was ist uns die Zukunft wert? Und wer wird sie gestalten und rahmen? In diesen fünf unterschiedlichen Arbeiten können wir verschiedene Perspektiven und Annahmen darüber erleben, was uns in der Zukunft bevorstehen könnte. Gleichzeitig versuchen wir stets, die Frage nach dem, was noch kommen wird, im Kontext dessen zu beantworten, was schon geschehen ist.
Am Schauspiel Leipzig haben wir als Teil einer Region, die früher zur DDR gehörte, eine besondere Geschichte. Und wir machen Theater für Zuschauer*innen, von denen viele diesen Systemwechsel durchgemacht haben. Die Menschen lebten plötzlich in einem anderen Land, ohne ihren Standort verändert zu haben. Die meisten sind dankbar für diese Entwicklung – und nicht wenige von ihnen haben die Geschichte beeinflusst, indem sie über Monate hinweg Demonstrationen organisierten. Aber ein nicht zu übersehender Anteil von Menschen hat das Gefühl, nun in einem Land zu leben, mit dem sie sich kaum identifizieren. Diese Debatten begleiten die Menschen in der Stadt – und uns im Theater – ständig und fordern fortwährende Anstrengungen.
Zur selben Zeit erleben wir gerade, dass Staatsgrenzen hinterfragt und verlegt werden. Dass eine politische Agenda Orte für sich beansprucht und sie den Menschen, die dort leben, wegnimmt.
Es ist nicht einfach, mit solchen Phänomenen umzugehen. Und auch die Entscheidung, die wir im Rahmen dieser Kooperation treffen müssen, nämlich, eine*n von euch für ein gemeinsames Projekt auszuwählen, ist nicht einfach. Fünf starke und eindrucksvolle Arbeiten machten den diesjährigen Stückemarkt aus. Vor allem eine von ihnen hat uns durch ihren Umgang mit dem Thema beeindruckt; mit großer Sensibilität erzählt sie von menschlichen Schicksalen und betrachtet zugleich schonungslos die Wunden der Zeit.
Wir betrachten diese sensible Bühnensprache als eine Bereicherung und neue Facette im Repertoire der Diskothek, unseres Spielorts für neue Dramatik. Deshalb möchten wir dich, Amanda Wilkin, gerne einladen, ein gemeinsames Projekt mit uns zu entwickeln. Und wir würden uns sehr freuen, wenn du unsere Einladung annimmst.
Außerdem dankt das Schauspiel Leipzig allen Künstler*innen für ihre großartige Arbeit und dem Stückemarkt-Team für die Gelegenheit zu dieser Kooperation!