Text | Essay | Theatertreffen 2022

Theatertreffen 494 v. u. Z. bis heute

WIR SEHEN UNS. Theatertreffen 2012 –2022

von Marie Schleef

Marie Schleef lehnt sich auf eine Tischplatte und schaut in die Kamera.
Marie Schleef
© Hendrik Lietmann

Mit „NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+“ war die Regisseurin Marie Schleef Teil der 10er Auswahl des Theatertreffen 2021. Für das Buch „WIR SEHEN UNS. Theatertreffen 2012 – 2022” hat sie sich eine alternative 10er Auswahl überlegt.

Verfügbar seit 6. Mai 2022

Lesezeit ca. 12 Min

Deutsch

Wortmarke Theatertreffen

WIR SEHEN UNS. Theatertreffen 2012 – 2022

Das nachfolgende Gedankenexperiment weitet das Theatertreffen auf die Vergangenheit aus, erfüllt die Frauen*quote zu 100 % und würdigt, teils posthum, bemerkenswerte Personen und ihre (Lebens-)Werke. Die hier genannten Künstlerinnen definieren sich als Theatermacherinnen, Autorinnen, Regisseurinnen, befinden sich an der Schnittstelle zwischen Kunst und Aktivismus, „performen“ ihr tägliches Leben gegen die Konvention des Patriarchats und stehen emblematisch für eine Welt, einen Diskurs, den wir (leider) bis heute in unserem Umfeld wiederfinden. Diese Liste besteht ausschließlich aus Frauen. Sie stehen hier als ein Bruchteil derer, die nicht gewürdigt sind, und zugleich als Stellvertreterinnen anderer marginalisierter Gruppen. Die Liste ist subjektiv. Listen inkludieren, schließen aber vor allem auch aus. Dennoch oder gerade deshalb dient dieses Experiment als Denkanstoß, um unsere Geschichtsschreibung und den männlich-dominierten (Theater-)Kanon zu hinterfragen, und ruft dazu auf, ein mögliches Erstellen „bemerkenswerter Listen“ in Zukunft zumindest historisch-patriarchal revidierend, radikaler, diverser sowie intersektionaler zu denken.

In diesem Sinne freue ich mich nun, die zehn Nominierungen für das „Theatertreffen 494 v.u.Z bis heute“ verkünden zu dürfen:

The Wedding Tangle

Swarnakumari Devi

Swarnakumari Devi (1855 – 1932) schrieb Romane, Lyrik, Theaterstücke und sogar eine Oper. Nicht umsonst wird sie als Avantgardistin des bengalischen Literatur- und Theaterkosmos’ angesehen. 1904 veröffentlicht sie ihr Bühnenwerk „The Wedding Tangle“, welches zur Jahrhundertwende die ideologische Konvention der „unglücklichen Witwe“ hinterfragt, diese innerhalb des Diskurses wieder vermenschlicht und somit die Geburtsstunde feministischen indischen Theaters markiert. Bis heute wirft das Stück Licht auf das dunkle Erbe einer patriarchal geprägten Gesellschaft und ihrer Heiratsriten sowie deren fatale Folgen. Swarnakumari Devi verbindet Politik und Kunst. Ihr Schaffen setzt sich mit einer Gesellschaft im Wandel der Zeit, der Frage von Klassenbewusstsein und sozialer Verantwortung auseinander.

Ein gezeichnetes Porträt von Devi Swarnakumari (1855-1932) mit einem dunklen Haarknoten im Nacken und einer hochgeschlossenen weißen Bluse.
Devi Swarnakumari
© Ellinger

Verse an Apollon und Artemis

Telesilla

Ein eigens nach ihr benanntes Versmaß (das „Telesilleion“), ein Ruf als tapfere Kämpferin und Verteidigerin der Stadt Argos im Krieg gegen die Spartaner, eine ihr zu Ehren aufgestellte Statue vor dem Tempel der Aphrodite sowie das Fest „Hybristica“, bei welchem Männer Frauenkleidung tragen und Frauen Männerkleidung – all dies sind Erinnerungsgesten, welche auf die griechische Dichterin Telesilla (5. Jahrhundert v.u.Z.) verweisen. Ihr Leben steht emblematisch für die kämpferische Seele einer Kriegsgeneration und die sich darin verändernde gesellschaftliche Rolle der Frau. Auch wenn nur wenige ihrer an Apollon und Artemis gerichteten Verse die Geschichtsschreibung „überlebt“ haben, galt sie schon im 1. Jahrhundert v.u.Z. als Teil des weiblichen Antikenkanons und wird aufgrund ihres unglaublichen Überlebenswillens, der unter anderem durch ihr Schaffen fließt, auch zwei Jahrtausende später nicht in Vergessenheit geraten sein.

Das nach der Dichterin Telesilla (5. Jahrhundert v.u.Z.) benannte antike Versmaß „Telesilleion“ mit Bögen und waagrechten Strichen auf schwarzem Grund, getrennt durch Spiegelstriche.
Das klassische Versmaß Telesilleion
© Ellinger

The Female Quixote

Charlotte Lennox

Bei diesem Werk handelt es sich nicht um eine zeitgenössische feministische Lesart und Re-Interpretation oder Re-Inszenierung eines Titels aus dem männlich dominierten Kanon, sondern um eine 1752 entstandene Nachahmung und Parodie von Miguel de Cervantes’ „Don Quixote“ (1612). „The Female Quixote“ folgt dem Narrativ der Protagonistin Arabella, die in einer Fantasiewelt lebt und nicht zwischen Realität und Fiktion (der sie in romantischer französischer Literatur begegnet) unterscheiden kann. Das Werk mit dem Originaltitel „The Female Quixote; The Adventure of Arabella“ wurde anonym veröffentlicht und erst posthum der schottischen Autorin Charlotte Lennox (1730 – 1804) zugeschrieben. Lennox’ Geschichte verweist auf die Schicksale vieler Frauen und anderer marginalisierter Gruppen. Wer zu Lebzeiten keine Anerkennung bekam, hat es im Nachleben noch schwerer. Tatsächlich haben wir es in diesem Fall aber Lennox selbst zu verdanken, dass wir heute wissen, wer „The Female Quixote“ schrieb, da sie in ihren anderen Publikationen auf ihre Autorinnenschaft der Parodie hinwies. Sie sorgte somit selbst für ihren Platz in der Geschichte vor, war sie sich doch der Auslöschung weiblicher Spuren nur zu bewusst.

Ein gezeichnetes Porträt von Charlotte Lennox (1730 – 1804) mit einer hohen Lockenfrisur, einem Schleier und einem gepunkteten Kleid.
Charlotte Lennox
© Ellinger

The River Ki

Ariyoshi Sawako

Das transgenerative Narrativ sowie die Beziehung zwischen dem Menschen, seinem sozialen Umfeld und seiner Umwelt: Das ist die Essenz des Werkes der japanischen Dichterin und Regisseurin Ariyoshi Sawako (1931 – 1984), die sich in ihrem Werk von ihrer Liebe für traditionelle Theaterformen wie Kabuki und Bunraku inspirieren lässt sowie Rassismus und Ageimus thematisiert und miteinander verbindet. Ihr teils autobiografischer Ansatz wird in ihrem Roman „The River Ki“ (1959) besonders deutlich, in welchem das Narrativ einer Figur auf dem Leben von Sawakos Großmutter basiert. In diesem nutzt sie ein bis heute sehr präsentes Mittel weiblichen Schreibens: das transgenerative Erzählkonstrukt. Dabei handelt es sich um eine matrilineare Auseinandersetzung mit feministischen Themen, welche generationsabhängige Genderkonflikte und Diskriminierungsformen widerspiegeln.

Ein Porträt von Ariyoshi Sawako (1931–1984) in einer hochgeschlossenen Weste.
Ariyoshi Sawako
© Ellinger

Dulcitius

Hrotsvitha von Gandershaim

Wir befinden uns im 10. Jahrhundert. Abends sitzen die Kanonissinnen des Klosters Gandersheim bei Kerzenlicht zusammen. Während sie genügsam essen, liest die begabte Dichterin Hrotsvitha aus ihrem neuesten Stück vor. Es handelt von einem Statthalter, der eine Vergewaltigung an drei Jungfrauen versucht, die er ins Gefängnis hatte sperren lassen. Im Rausch verirrt er sich jedoch in die Küche nebenan und beginnt, benebelt die Kochtöpfe zu ficken. Die drei Jungfrauen beobachten das Geschehen durch ein Schlüsselloch. Sie brechen in ein beschämtes, lautes Gelächter aus. Dies wird sie schlussendlich das Leben kosten: Ihre Belustigung hat den Statthalter bloßgestellt. Ist es Zufall oder Ironie des Schicksals, dass eines der ältesten uns bekannten Theaterstücke des deutschsprachigen Raums („Dulcitius“, ca. 935) um eine Geschichte sexuellen Übergriffs kreist? Nur warum ist es bisher kaum bekannt?

Ein Kochtopf mit Henkeln und Deckel.
Kochtopf
© Ellinger

„Tarnperformance“ als Studio Ellinger

Betty Steinhart

Die ungewollte Tarnperformance im Studio Ellinger ist ein weiteres Beispiel für eine bisher nicht ausgezeichnete Glanzleistung einer Künstlerin: Die spektakuläre Performance der Betty Steinhart (1892 – 1979) begann, als Carl Ellinger 1916 nach Kanada auswanderte und sie an seiner Stelle das gut laufende „Studio Ellinger“ übernahm. Nachdem die 24-jährige Betty Steinhart das Studio als junge Frau nicht offiziell übernehmen durfte, entstanden die berühmten Fotos der damals neu gegründeten Salzburger Festspiele, u. a. Portraits von Max Reinhardt und Marlene Dietrich, unter falschem Namen. Trotz der faktischen Abwesenheit von Carl Ellinger wurden sie alle auf sein Konto verbucht. Erst durch ihre Enkelin Susanne Gordon ist es knapp ein Jahrhundert später möglich, diese Betty Steinhart zuzuordnen. Remember: „We are the daughters of the witches you did not burn!“

Eine Fotokamera.
Fotokamera
© Ellinger

The Rover

Aphra Behn

Aphra Behn (1640 – 1689) hatte einen Traum. Sie wollte berühmt werden, strebte nach Erfolg, nahm sich ihre zeitgenössischen männlichen literarischen Kollegen zum Vorbild und machte daraus keinen Hehl. Doch mit solchen offenen Äußerungen machte sich die Theaterautorin des Restaurationszeitalters in der Szene unbeliebt, so auch mit ihren radikalen Werken wie dem Roman „Oroonoko“ (1688), der oftmals als erster seines Genres angesehen wird, und ihren zahlreichen promiskuösen Gedichten oder Stücken wie „The Rover“ (1677). Aphra Behns Werk gibt Einblick in das (sexuelle) Verlangen einer Frau und steht für einen alternativen Lebensentwurf. Angeblich wollte sie zuviel, sollte sich ihres Platzes in der Gesellschaft bewusst sein. Doch trotz der massiven (auch Jahrhunderte später geäußerten) männlichen Kritik galt Aphra Behn als eine der wichtigsten und beliebtesten (Theater-)Autorinnen ihrer Zeit. Nicht umsonst sagte Virginia Woolf bekanntermaßen über sie: „All women together ought to let flowers fall upon the tomb of Aphra Behn, for it was she who earned them the right to speak their minds.“ Ihr Grab befindet sich übrigens nirgendwo anders als in der Westminster Abbey!

Ein gemaltes Porträt von Aphra Behn (1640 – 1689) mit Perlmuttschmuck und einem drapierten Oberteil.
Aphra Behn
© Ellinger

Soweto Speaking

Miriam Tlali [1933-2017]

Diese Frau praktizierte intersektionalen Feminismus, bevor dieser überhaupt ein Diskursbegriff wurde. Nicht nur geht sie in die Geschichte ein als erste Schwarze Südafrikanerin, die ein Werk auf Englisch verfasste – den Roman „Muriel at Metropolitan“ (1969) –, der direkt nach seiner Veröffentlichung verboten wurde. Nein; Miriam Tlali bewegte sich auch im aktiven Kampf gegen das Apartheidsystem, thematisierte die Gewalt an Frauen und systematische Formen der Diskriminierung. In ihren eigenen Worten: „Our duty is to write for our people and about them.“ Sie wurdezur Stimme der Unterdrückten, schrieb Romane, Theaterstücke und widmete dem Townshio Soweto ab 1978 eine Kolumne („Soweto Speaking“) in der von ihr mitgegründeten Zeitung Staffrider.

Der Rosendorn

Unbekannt

2019 sorgt ein im Stift Melk entdecktes 22 x 1,5 cm kleines Papierfragment für Aufsehen. Auf diesem ist die Geschichte einer Jungfrau zu lesen, die sich im Streit mit ihrer Vulva befindet. Grund für den Streit ist, dass die beiden um das männliche Geschlecht konkurrieren. Wer steht im Fokus der Anziehung? Sex oder Gender? Jungfrau und Vulva trennen sich voneinander, sind unglücklich und finden schlussendlich auf fragwürdige Weise wieder zusammen. „Der Rosendorn“ war als Text bereits bekannt, konnte durch die Neuentdeckung nochmals 200 Jahre – ins 13. Jahrhundert – rückdatiert werden und nimmt den Diskurs rund um Sex und Gender um Jahrhunderte vorweg.

Eine halbe Zitrusfrucht mit deutlich zu erkennenden Fruchtsegmenten.
Zitrusfrucht
© Ellinger

Aufklärungsaktion zur Vorbereitung des internationalen feministischen Kampftages 2015, Beijing

The Feminist Five

Die Aktivistinnengruppe The Feminist Five, bestehend aus Li Maizi, Wu Rongrong, Zheng Churan, Wei Tingting und Wang Man, wurde am 6. März 2015 für ihre Planung eines „Happenings“ in Beijing gesammelt verhaftet und für 37 Tage in Gewahrsam genommen. Die Kunstaktion wollte über sexuelle Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln aufklären. Die Festnahme gilt als wichtiger Ankerpunkt der #metoo-Bewegung

in China und sorgte international für Aufsehen. Geplant war es, Sticker in der U-Bahn zu verteilen und so auf das Thema der sexuellen Gewalt gegenüber Frauen im öffentlichen Raum aufmerksam zu machen. Aufgrund der enormen feministischen Solidaritätsbekundungen weltweit wurden die fünf Aktivistinnen verhältnismäßig früh entlassen. Die Gruppe ist weiterhin aktiv und wird für ihren Mut und Aktivismus gewürdigt, auch wenn sie aktuell starker Zensur unterliegt.

Buch „Wir sehen uns. Theatertreffen 2012–2022“
Buch „Wir sehen uns. Theatertreffen 2012–2022“

Das Buch „WIR SEHEN UNS. Theatertreffen 2012 – 2022“ versammelt Menschen, die das Festival von außen geprägt haben. Sie denken laut nach über ästhetische und strukturelle Entwicklungen der deutschsprachigen Theaterlandschaft, über Debatten, die sich am und um das Theatertreffen entfacht haben, über künstlerische Praxis und immer wieder über die Frage, wie wir in einer zerklüfteten Welt doch zueinander finden können.

Mit Beiträgen von Sonja Anders, Anna Beil, Jacob Sylvester Bilabel, Eva Veronica Born, Till Briegleb, Yvonne Büdenhölzer, Piero Chiussi, Amelie Deuflhard, Janis El-Bira, Herbert Fritsch, Sandra Hüller, Wolfram Koch, Anne Lenk, Matthias Lilienthal, Necati Öziri, Christopher Rüping, Marie Schleef, Azadeh Sharifi und Eike Walkenhorst.

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