Text | Essay | Theatertreffen 2022

Verantwortung

WIR SEHEN UNS. Theatertreffen 2012 – 2022

von Sandra Hüller

Sandra Hüller
Sandra Hüller
© Christian Hüller

Die Schauspielerin Sandra Hüller war bereits mehrmals beim Theatertreffen im Rahmen der 10er Auswahl des Festivals zu Gast. Im Buch „WIR SEHEN UNS. Theatertreffen 2012 – 2022” macht sie sich Gedanken über Solidarität, Respekt und Verantwortung.

Verfügbar seit 6. Mai 2022

Lesezeit ca. 8 Min

Deutsch

Wortmarke Theatertreffen

WIR SEHEN UNS. Theatertreffen 2012 – 2022

Ich bin eine große Schwester, ich bin sozusagen mit Verantwortung aufgewachsen. Noch dazu in einem Land, in dem die Frage nach sozialer Verantwortung ein großes Thema war. Miteinander sein, aufeinander aufpassen, sich gegenseitig helfen. Das schöne Wort Solidarität, das heute gerne auch benutzt wird, um Verantwortung von der Politik auf die Bevölkerung abzuwälzen – dieses Wort Solidarität ist für mich nicht leer. Und nie leer gewesen. In meiner Ausbildung habe ich gelernt, dass man pünktlich, ausgeschlafen und freundlich zu sein hat. Das ist schon mal die erste Verantwortung, die man hat. Wenn man arbeiten will, muss man dazu in der Lage sein. Man kann nicht schlampen. Man kann nicht glauben, man erreiche Leute oder gelange in ihre Herzen rein, oder könne sie irgendwie berühren, wenn man sich gehen lässt – finde ich. Oder wenn man Verantwortung auf andere schiebt. Man ist immer selbst verantwortlich. Es ist egal, ob ein Kollege oder eine Kollegin mal schlecht drauf ist, dann muss man selber eben besser drauf sein. Dazu gehört, zu lernen, wie man selbst funktioniert, wie andere funktionieren, wie Konflikte entstehen und wie man sie lösen kann, was man gegen die Wut machen kann. Natürlich kenne auch ich Leute, die denken, sie könnten ihre Wut mit zur Arbeit bringen, aber das finde ich nicht richtig. Wenn wir gut arbeiten wollen, müssen wir gut miteinander umgehen, auf jeder Ebene.

Im Englischen gibt es dafür den Ausdruck decency. Der meint nicht, dass alle sich permanent verstehen müssen, aber eben doch, dass man auf Fairness im Umgang miteinander achtet, auf Chancengleichheit, auf all die Dinge, über die wir ohnehin seit Jahren reden. Auch das ist Verantwortung. Meinetwegen ist das altmodisch. Aber wenn wir unsere Kunst als den Versuch begreifen, zu benennen, was anders laufen müsste, und so die Welt zu formen, dann müssen wir das auch selbst leben. In meiner Arbeit war ich lange die Jüngste. Als sich das geändert hat, ist mir aufgefallen, dass ich mir oft jemanden gewünscht hätte, der mich dazu ermutigt, meine eigenen Grenzen selbstbewusster zu markieren. Das gehört auch zur Verantwortung, die man für sich selber hat. „Stopp“ zu sagen, und zwar, bevor man im Krankenhaus landet oder ein Burnout erleidet. Letztlich kommt es allen zugute, wenn das Theater seine Akteur*innen nicht nur aussaugt und alle sich von Zuspruch ernähren, denn der hält nicht ewig vor. Heute versuche ich, dahingehend auch Verantwortung für jüngere Kolleg*innen zu übernehmen. Mir ist bewusst, dass auch das wieder eine Grenzüberschreitung bedeuten kann.

Fürs Publikum hingegen übernehme ich keine Verantwortung, an keiner Stelle. Das fände ich falsch. Ich möchte viel lieber so verantwortlich mit dem Text, mit den Kolleg*innen und auch mit meinem Körper umgehen, dass das Publikum dadurch die Freiheit erfährt, sich mit den Dingen, um die es geht, die da gedacht werden, wirklich auseinanderzusetzen. Zwei Erfahrungen sind für mich die schönsten im Theater. Zum einen: Wenn alle in einem Moment dasselbe denken. Wenn man etwas so klar spielt, dass – zumindest glaubt man das in dem Moment – der Raum erfüllt ist von einem einzigen Gedanken, der dann manchmal auch schnell wieder weg ist. Zum anderen: Wenn Menschen im Saal anfangen zu träumen, wenn sie gar nicht die ganze Zeit denken, sie müssten ständig alles verstehen. Das Verstehen ist sowieso eine komische Idee. Ich will Theater nie verstehen, ich will es eigentlich immer nur erleben. Das heißt, nichts zu erklären, Leerstellen zuzulassen, in denen die Leute auch verschwinden können aus dem Stoff, aus den Gedanken der Inszenierung hinausgehen, sich mit ihren eigenen Sachen beschäftigen und später wieder zurückkommen. Das kann dann eben jeder machen, wie er will, aber immer im Respekt voreinander: Wir vor denen, die schauen, und die, die schauen, vor uns, die arbeiten.

Dieser Respekt ist auch die Grundlage jeder Zusammenarbeit zwischen Schauspiel und Regie. Die Verantwortung der Regie sehe ich darin, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die, die spielen, sich frei und beschützt gleichzeitig fühlen, und Dinge tun, die sie nicht auf der Straße tun würden, und Dinge denken, die sie in ihrem Leben ansonsten behindern würden. Dabei etwas von einem Spieler oder einer Spielerin zu verlangen, das er oder sie nicht möchte, das geht nicht mehr. Und, um auch über Verantwortung für einen Stoff zu sprechen, das Argument, dieses oder jenes stehe doch aber so im Text, fand ich immer schwierig. Es steht im Text, was wir darin lesen. Ein Theaterstück ist eben kein Film, der schon visualisiert ist, sondern es ist Papier, es sind Worte, mit denen wir auf beliebigste Art und Weise umgehen können. Es ist immer Interpretation, es erzählt etwas über uns Menschen oder darüber, wie wir sie sehen. Ich kann mich nicht auf das Stück allein verlassen, kann die Verantwortung nicht dem Autor geben und nur darauf hoffen, dass er nichts geschrieben hat, das heute nicht mehr richtig ist oder uns Schmerzen bereitet. In den Dingen, die ich tue, forme ich die Welt. Das Theater ist dafür ein begrenzter Raum, im Vergleich zum Fernsehen oder Kino erreicht er verhältnismäßig wenig Leute, und dennoch glaube ich fest daran, dass auch im Theater Gedanken gesät werden können.

Als wir in Bochum an Hamlet gearbeitet haben, habe ich versucht, einen Pazifisten zu erzählen, der sich auf das Morden nur zu einem allerletzten Mal einlässt. Darin liegt ein kathartisches Moment. Am Ende verzeihen sich die jungen Männer und sagen sich, dass das nie wieder passieren wird – im Grunde sagen sie: Nie wieder Krieg. Natürlich kann man Hamlet auch als einen misogynen, irren, blutrünstigen, sehr klugen Typen erzählen, aber warum? Was soll das, habe ich mich immer gefragt. Wenn ich ihn ernst nehme, dann ist Hamlet jemand, der grundsätzlich verletzt ist, und aus dieser Verletzung heraus handelt, aufgrund eines Erbes einen Auftrag bekommt, und ihn ausführt. Er trägt diese uralte Geschichte, diese uralte Last von Blut gegen Blut mit sich, muss nach ihr handeln, ob er will oder nicht, und weiß zugleich aber schon, dass er eigentlich als der Mensch, der er jetzt auf dieser Welt ist, viel klüger und viel weiter ist. Nach seinem letzten Gegner beschließt er: Das war’s, das darf einfach nicht mehr sein. Und damit bin ich wieder bei der politischen und gesellschaftlichen Verantwortung. Es macht mich glücklich, wenn ich das so erzählen kann, und wenn Leute darüber nachdenken und sich zu fragen beginnen: Wo mache ich das denn? Wo reagiere ich denn genauso, obwohl ich das eigentlich gar nicht mehr bin? Wo reagiere ich denn noch so wie mein wütender Großvater? Ich finde es toll, wenn man zusammen beschließt, gut zueinander zu sein. Naja, ihr wisst schon, was ich meine.

Buch „Wir sehen uns. Theatertreffen 2012–2022“
Buch „Wir sehen uns. Theatertreffen 2012–2022“

Das Buch „WIR SEHEN UNS. Theatertreffen 2012 – 2022“ versammelt Menschen, die das Festival von außen geprägt haben. Sie denken laut nach über ästhetische und strukturelle Entwicklungen der deutschsprachigen Theaterlandschaft, über Debatten, die sich am und um das Theatertreffen entfacht haben, über künstlerische Praxis und immer wieder über die Frage, wie wir in einer zerklüfteten Welt doch zueinander finden können.

Mit Beiträgen von Sonja Anders, Anna Beil, Jacob Sylvester Bilabel, Eva Veronica Born, Till Briegleb, Yvonne Büdenhölzer, Piero Chiussi, Amelie Deuflhard, Janis El-Bira, Herbert Fritsch, Sandra Hüller, Wolfram Koch, Anne Lenk, Matthias Lilienthal, Necati Öziri, Christopher Rüping, Marie Schleef, Azadeh Sharifi und Eike Walkenhorst.

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