Text | Essay | Theatertreffen 2023

Die Wiedereroberung der Kunst in einer Zeit der Verunsicherung

von Sabine Leucht und Petra Paterno

Die 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts geben sich schon früh als Krisen-Jahrzehnt zu erkennen: Auf die Pandemie folgt der Krieg in der Ukraine, der unzählige Tote fordert, politische Illusionen torpediert und in seinem Windschatten die atomare Bedrohung mit sich führt. Die Folgen für die Weltordnung lassen sich noch gar nicht abschätzen. Ganz zu schweigen von denen des Klimawandels, der allmählich auf den Point of no Return zusteuert: eine buchstäblich überhitzte Atmosphäre, die das kulturelle Selbstverständnis wie die gesellschaftlichen Gefüge erodieren lässt.

Verfügbar seit 31. März 2023

Lesezeit ca. 12 Min

Deutsch und Englisch

Wortmarke Theatertreffen

10 Inszenierungen

Und das Theater? Nach dem Lockdown befindet es sich auf einer Art Aufholjagd, sucht inmitten der Multi-Krise seine Position, möchte zu allem etwas zu sagen haben und muss zugleich um sein Publikum kämpfen, das nur allmählich wieder zurückkommt. Anspruch und Wirklichkeit klaffen dabei oft auseinander – auch innerhalb der Institutionen. Hierarchien und strukturelle Diskriminierung erweisen sich als erstaunlich langlebig, obwohl man allerorts beobachten kann, dass sich auch die Theaterlandschaft im Umbruch befindet. Das Woher, Wohin und Wozu des Theaters greifen einige der von uns diskutierten Inszenierungen auf – wie Sebastian Nüblings Rangelei mit Sivan Ben Yishais „Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)“ und das so selbstreflexive wie -ironische „Karoline und Kasimir – Noli me tangere“ vom Nature Theater of Oklahoma. Und in Jan-Christoph Gockels Alexander Kluge-Revue „Wer immer hofft, stirbt singend“ kann die Kraft der Imagination sogar Bomben am Einschlagen hindern.

Trotz vereinzelter Szenen wie dieser war das Kalenderjahr 2022, das sich im Theatertreffen 2023 spiegelt, weniger von Optimismus als von Verunsicherungen geprägt. Auch wir Juror*innen fragten uns zuweilen, ob es nicht gerade Wichtigeres gibt als Theater – und saßen dabei oft genug in Produktionen, die sich dasselbe zu fragen schienen. Die nicht hinterherkamen mit Verweisen auf die brennende Aktualität, aber ihr ästhetisch nicht standhalten konnten, die am liebsten von allem zugleich erzählen wollten, ohne sich inhaltlich klar zu positionieren – eine Form des Vampirismus an der Realität im Ringen um Bedeutsamkeit. Aber natürlich gab es auch Theaterabende zu sehen, die die großen Krisen aufs Zwischenmenschliche herunterbrachen und sich die Lust am Spiel nicht nehmen ließen.

Thorsten Lensings „Verrückt nach Trost“ geht darin besonders weit. Der Abend aus der freien Szene feiert das Spiel in seiner reinen Form und die Kraft des Als-Ob. Und auch wenn er nicht Teil der diesjährigen Auswahl geworden ist, liefert er ihr mit seiner Lust an der Verwandlung eine Art Hintergrundrauschen. Und ein Motto: Verrückt nach Trost suchen wir im Theater nach etwas, was wir nur da finden können. Lösungen für die Multi-Krise werden es eher nicht sein, aber als Dorf- und Umschlagsplatz von Gefühlen und Gedanken ist die Bühne konkurrenzlos.

Und die aktuelle Realität bringen die Zuschauer*innen ohnehin immer mit ins Theater. Wer etwa im Frühjahr 2022 von der Galerie des Anhaltischen Theater Dessau hinunterschaute und einen unendlich langen Tisch erblickte, musste vielleicht an Putins Tisch denken, der früh den Abstand markierte, den der russische Präsident zur Realität anderer europäischer Staatsoberhäupter einnahm. Philipp Preuss’ Dessauer „Hamlet“ ist Teil unserer Auswahl 2023: ein so assoziationsoffener wie bildmächtiger Abend über die Grenze zwischen Traum und Wahn und sich verflüchtigende Gewissheiten. Nach gut zwei Stunden am Ende angelangt, fängt die Aufführung wieder von vorne an – wie der Kreislauf der Gewalt und menschlichen Unzulänglichkeiten, aus dem es kein Entrinnen gibt. 

Henrik Ibsens durch Texte von Sivan Ben Yishai, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic punktierte „Nora“ hat Felicitas Brucker mit dem Mut zu sichtbaren Nahtstellen inszeniert. An den Münchner Kammerspielen lässt sie ihr fünfköpfiges Ensemble auf eine abschüssige Hauswand los. Viva Schudts kopfstehendes „Puppen-“ oder „Herrenhaus“ ist ein bestechendes Bild für ein patriarchales System, das nicht nur den Frauen Verrenkungen abnötigt, sondern alle zum Straucheln bringt. Die so sportive wie musikalische Katharina Bach in der Titelrolle führt nebenher auch den ohnehin müßigen Beweis, dass das Schauspieler*innentheater noch lange nicht tot ist.

So setzen denn auch drei der zehn bemerkenswerten Inszenierungen auf grandiose große Ensembles: „Das Vermächtnis (The Inheritance)" vom Münchner Residenztheater, „Kinder der Sonne" vom Schauspielhaus Bochum und „Ein Sommernachtstraum" vom Theater Basel. Und doch könnten sie unterschiedlicher kaum sein. In München hat der am Kostümfilm und in der Oper geschulte Regisseur Philipp Stölzl keine Angst vor Pathos und dem Bad im großen Gefühl. Seine Inszenierung von Matthew Lopez’ Broadway-Hit porträtiert das schwule Leben in New York vom Wüten der AIDS-Epidemie in den 1980er-Jahren bis zur Trump-Ära. Ein Stück über HIV mit Blockbuster-Potenzial, das ist im deutschsprachigen Theater so neu, dass sich gleich mehrere Häuser an die Vorlage gemacht haben. Die Selbstverständlichkeit, mit der Stölzl sie bedient, fanden wir am überzeugendsten: auf einer seriennaturalistisch ausgestatteten Bühne mit elf Schauspielern und einer Schauspielerin, die vor allem ganz klassisch Rollen spielen. Und wie! Wann gibt es das schon: Binge-Watching im Theater, bei dem das Publikum – vom queeren Jugendlichen bis zum gutbürgerlichen älteren Paar – sechseinhalb Stunden lang dem Sog der Erzählung folgt?

Im besten Sinne traditionell, weil mit psychologischem Feingefühl ganz dicht am Text, ist Mateja Koležniks Bochumer Gorki-Inszenierung „Kinder der Sonne“. In Raimund Orfeo Voigts detailreicher Szenerie zeigt sie eine privilegierte Gesellschaft, die meint, sich das Wegschauen leisten zu können und über ihren Forschungen, Liebesdingen und privaten Problemen den Blick auf eine Gegenwart verpasst, in der Cholera und das Volk gleichermaßen toben. Das ist nicht nur ohne Aktualisierung brandaktuell. Koležniks psychologischer Realismus, der sachte den Fokus auf die Hinterzimmer und Nebenfiguren verschiebt, hat auch noch nie so gut funktioniert wie in diesem bis in die kleinste Nebenrolle hinein glänzend besetzten Abend. Mit herausragenden Schauspieler*innen wartet auch der Basler „Sommernachtstraum“ auf, den Regisseur Antú Romero Nunes in eine Schulaula verlegt hat, in der eine ulkige Laientruppe von Lehrer*innen eigentlich nur die Handwerkerszene proben will und – von der Magie des Theaters verzaubert – fast aus Versehen das ganze Stück spielt: ein Crowd-Pleaser voller pointierter Typenstudien, der zeigt, welch ungeheuren Spaß Theater machen kann.

Den Gegenpol zum fein ziselierten Schauspieler*innentheater markieren in der diesjährigen Auswahl Florentina Holzingers opulent-circensisches Spiel „Ophelia’s Got Talent“ und Sebastian Hartmanns Multimedia-Revue „Der Einzige und sein Eigentum". Zweimal Berlin, zweimal die ganz große Show!

Holzingers Superheldinnen liefern drei Stunden lang Theater als Hochleistungssport, tauchen in mehrere Wasserbecken ab oder schwingen sich in die Lüfte, um masturbierend einen Helikopter zu kapern. Die Aufführung folgt einer Dramaturgie sich steigernder Stunts: Vom Apnoetauchen bis zur Live-Tätowierung häuft sie Attraktion auf Attraktion. Dabei bedient sich Holzinger wie schon bei „TANZ“ so großzügig wie gekonnt bei der Pop-, Kunst- und Tanztradition. Das erklärte Ziel der kräftezehrenden Unternehmung: die Rückeroberung des weiblichen Körpers von Männerfantasien. Witz und Wut liegen hier nahe beieinander.

Während Holzinger sich für die Erweckung eines feministischen Gemeinsinns interessiert, dreht sich in Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ alles ums Ich. Regisseur und Bühnenbildner Sebastian Hartmann und Komponist PC Nackt haben aus dem philosophischen Essay des Jahres 1844 eine ganz eigene Form des Musiktheaters entwickelt, voller seltsam-schöner Klänge und hintersinniger Lieder, die immer neue Ich-Deutungen hervorbringen. In seiner Lust am Spiel und seinem szenischen Furor erinnert „Der Einzige und sein Eigentum“ an die großen Revuen der 1920er-Jahre. Einer der Höhepunkte des Abends: ein 3D-animierter Bienenstock.

Mit Lucia Bihler und Rieke Süßkow präsentiert die Auswahl der zehn bemerkenswerten Inszenierungen 2023 eine neue Generation junger Regisseurinnen, die dem Theater mit starkem Formwillen und eigenwilligen Bilderwelten begegnen. Bihler brachte Maria Lazars „Die Eingeborenen von Maria Blut“ am Wiener Akademietheater heraus. Der 1937 im Exil verfasste und spät wiederentdeckte Roman ergründet luzid die Anfälligkeit der katholischen Provinz für den aufkeimenden Faschismus, die Inszenierung entfaltet ein markiges Spiel mit und ohne Masken, das grelle Schlaglichter auf eine dem Untergang geweihte Welt wirft.

Auch Rieke Süßkow setzt ihre szenische Deutung von Peter Handkes „Zwiegespräch“, ebenfalls am Wiener Akademietheater, selbstbewusst neben, unter und über den Text des Literaturnobelpreisträgers. Süßkow bricht die Sprechakte auf und verteilt sie auf langjährige Bühnengranden und Newcomerinnen, versetzt die Handlung in ein Altenheim und etabliert einen Generationenkonflikt, der so im Text nicht angelegt ist, den Theaterabend aber szenisch auflädt und zuspitzt.

Ein riskantes Experiment unternimmt das niederländische Kollektiv De Warme Winkel mit „Der Bus nach Dachau“, worin es die Erinnerung an den Holocaust thematisiert. Die Generation der Zeitzeug*innen stirbt langsam aus, mit ihrem Verschwinden wird sich zwangsläufig auch die Erinnerungskultur verändern. Wie lässt sich vom Unvorstellbaren erzählen, wenn niemand mehr da ist, der es erlebt hat? Historiker*innen stellen sich die Frage schon seit längerem, auf der Bühne betritt „Der Bus nach Dachau“ mit diesem Sujet jedoch Neuland. De Warme Winkel und das Bochumer Ensemble suchen mit den Mitteln des Theaters, des Films und neuer Medien nach Antworten, von denen einige urkomisch sind. Eine Aufführung, die zum Widerspruch einlädt.

Traditionelles Schauspieler*innentheater und Spektakel, Geschichten und provokante Experimente sowie eine große Themenvielfalt: Das Theatertreffen 2023 lässt sich weder inhaltlich noch formal auf einen Nenner bringen, außer vielleicht auf den einen, dass es dem großen Durcheinander der Gegenwart mit ebenso großer Vielfalt begegnet. Also keine Antworten, keine Hoffnung, kein Trost? Es sei denn, man entdeckt in der Feier der Schauspiel- und Verwandlungskunst per se einen utopischen Schimmer. Und damit auch ein klein wenig Trost und wenigstens einen Hauch von Hoffnung.

  • Zwei Männer küssen sich unter einem Baum, während ein Mann im Hintergrund zusieht.
    Das Vermächtnis
    © Sandra Then
  • Ein Mann liegt auf dem Boden, während eine Frau ihn filmt.
    Der Bus nach Dachau
    © Isabel Machado Rios
  • Sechs Personen tanzen expressiv im Bühnennebel vor einem weißen spiralförmigen Bühnenaufbau.
    Der Einzige und sein Eigentum
    © Arno Declair
  • Vier Personen in lachsrosa Kostümen und mit einer Maske über dem Kopf stehen vor einer riesigen, von zwei Engeln flankierten Marienstatue.
    Die Eingeborenen von Maria Blut
    © Susanne Hassler-Smith
  • Ein Mann stützt sich auf einen Stock auf einer Bühne, auf der es Konfetti regnet. Hinter ihm steht eine Frau im Abendkleid mit einer Art Stock in der Hand.
    Ein Sommernachtstraum
    © Ingo Höhn
  • Eine Frau in einem weißen ausladenden Kleid schreitet über einen langen Tisch, an dem rechts und links Personen sitzen.
    Hamlet
    © Claudia Heysel
  • Ein älterer Mann hilft einem jüngeren Mann vom Boden auf, während eine junge Frau entsetzt zusieht.
    Kinder der Sonne
    © Matthias Horn
  • Eine Frau mit langen Haaren liegt mit verdrehten Gliedmaßen in einem Bühnenbild mit mehreren regalartigen Elementen.
    Nora
    © Armin Smailovic
  • Mehrere Frauen in Matrosenoberteilen rangeln miteinander auf ihrem Weg über die Bühne.
    Ophelia’s Got Talent
    © Nicole Marianna Wytyczak
  • Ein alter Mann liegt auf einem mit einem goldenen Tischtuch bedeckten Tisch, um den sich sieben junge Frauen und Männer scharen.
    Zwiegespräch
    © Susanne Hassler-Smith