Text | Rede | Theatertreffen 2024

Theaterpreis Berlin 2024

an Nele Hertling

von Matthias Pees

Matthias Pees steht hinter einem Rednerpult
Matthias Pees
© Berliner Festspiele, Foto: Fabian Schellhorn

Laudatio von Matthias Pees, Intendant der Berliner Festspiele, für die Preisträgerin Nele Hertling.

Verfügbar seit 17. Mai 2024

Lesezeit ca. 15 Min

Deutsch

Wortmarke Theatertreffen

Liebe Nele Hertling, liebe Edith Clever, lieber Alexander von Schlippenbach, liebe Ayesha Lucido und lieber Ivan Liška, lieber Senator Joe Chialo, liebe Hortensia Völckers, lieber Dr. Johannes Odenthal,
lieber Dr. Hans Gerhard Hannesen, sehr geehrte Mitglieder des Vorstands und des Stiftungsrats der Stiftung Preußische Seehandlung, 
liebe Mitjurorinnen und -juroren des Theaterpreises Berlin, liebe Mitglieder der Akademie der Künste, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister a.D. Klaus Wowereit, sehr geehrter Herr Staatssekretär a.D. Prof. Ludwig von Pufendorf, sehr geehrte Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses und des Deutschen Bundestages, liebes Publikum,

herzlich willkommen zu dieser politischen Versammlung zum Zwecke der Stärkung des Tanzes und der Freien Szene in Berlin und Deutschland. Zur Abwehr der Angst und des wachsenden Autoritarismus in Europa. Zum Blick über die Tellerränder, zur Erweiterung unserer Perspektiven und Handlungsspielräume, zur Internationalisierung und Diversifizierung unserer Sichtweisen und Strukturen. Zur Unterstützung und Gleichberechtigung der unabhängigen Künstler*innen dieser Stadt, zur Verbesserung ihrer Sichtbarkeit, ihrer Produktions- und Arbeitsbedingungen, ihrer sozialen Absicherung und Bezahlung und Wertschätzung. 

Herzlichen Dank, liebe Nele, dass Du Dich freundlicherweise bereit erklärt hast, den Theaterpreis Berlin entgegenzunehmen, damit wir diese Preisverleihung gemeinsam dazu nutzen können, so viele Honoratioren und Entscheidungsträger dieser Stadt inklusive des Kultursenators hier zu versammeln, um diesen Anliegen noch mehr Gehör zu verschaffen und um weiter für diese Ziele kämpfen zu können. Herzlichen Dank für das Trojanische Pferd. Der Kampf geht weiter. Der Weg ist nicht zu Ende, wenn die Wanderer und Wanderinnen auf ihm 90 werden und man sie mit Ehrungen und Preisen dekoriert. Der Weg ist noch nicht mal zu Ende – um es mit einem anderen, früheren Träger dieses Preises zu sagen –, wenn das Ziel explodiert. 

Du, liebe Nele, hast gesagt als erste öffentliche Reaktion auf die Zuerkennung dieses Preises: „Die Verleihung des Berliner Theaterpreises hat seit Jahren einen besonderen Platz im Berliner Theaterleben. Hier wird die Vielfalt des zeitgenössischen Theaters auf besondere Weise sichtbar. Theater, immer auch ein Abbild unserer sich verändernden Gesellschaft, braucht Momente der Reflexion, des sich selbst Vergewisserns. Eine Preisverleihung kann auch dafür einen Ort bieten – und zugleich Theater als eine beglückende Kunstform feiern.“ Du hast gar nicht über Dich gesprochen, über die Ehrung und Lobpreisung Deiner Person, weder eitel noch demütig, weder gerührt noch geschüttelt. Sondern Du hast wieder, unumwunden und mit dem Dir eigenen Pragmatismus, von der Sache gesprochen, über die anderen, das andere. Wem oder was kann es nützen? Wie kommen wir weiter, wie geht es voran – und was kannst Du, was kann der Anlass dazu beitragen? Das ist typisch.

Nele Hertling, Du bist mein Role Model. Schon lange. Ein Vorbild für viele und vieles, weil Du es bist, und weil Menschen wie Du es sind, die die Kunst und das Theater ermöglichen und wirksam machen. Nicht nur, wie Du sagst, als beständiges „Abbild unserer sich verändernden Gesellschaft“, sondern manchmal eben auch als Impulsgeber für Veränderung, als Angstbefreier vor Veränderung, als Weggefährte nach Veränderung. „Seit über 60 Jahren transformiert Nele Hertling Berlin“, haben wir unsere Jurybegründung begonnen, und es ist genau dieser genuin politische Impuls, der zählt und um es den es geht, dieser Glaube an die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit gesellschaftlicher Veränderung, an das Umdenken, neu Fühlen, anders Organisieren von Zusammenleben, Zusammenarbeiten, Zusammenwirken. 

Wir schrieben: Nele Hertling transformiert Berlin „durch radikal zeitgenössische Kunst und Künstler*innen, deren selbstbestimmte und eigensinnige Arbeit sie unterstützt, ermöglicht, fördert und begleitet, für die sie Räume und Möglichkeiten, Kontinuitäten und Wirksamkeit schafft, und für die sie Kulturinstitutionen, Festivals, Förderfonds, Netzwerke und Partnerschaften erfunden, initiiert, gegründet und umdefiniert hat.“ Because if I can’t dance to it, it’s not my revolution. Du hast deshalb die Berufsbilder viele der Tätigkeiten, die Du ausgeübt hast, von – wie es damals hieß – Sektionssekretär über Dramaturgin, Produzentin, Kuratorin, Künstlerische Leiterin und Intendantin bis hin zur Sektionsdirektorin in der Akademie, immer wieder angepasst, verändert und auf neue Weise definiert. Auch, weil Du als eine der wenigen weiblichen Leitungsfiguren im männlich dominierten Kulturbetrieb einen neuen, zeitgemäßen und Maßstäbe setzenden Führungsstil etabliertest, teamorientiert und teaminteressiert, mit flachen Hierarchien und kollektiven Mittagspausen.

Die Einsicht in die Notwendigkeit, in das Notwendige und auch in das Nächste, das zu tun ist, in das Leben, das zu lieben ist und in die Liebe wie auch das Leid, die zu leben sind – all das scheint Dich nie allzu gewaltig gebeugt, nicht „niedergezwungen“ zu haben wie uns alle. Sondern es hat Dich „kräftig genährt“, aus Dir eine pragmatische Visionärin gemacht, eine Mutige und Mitreißende, die hartnäckig und sanft, mit sachlicher und praktischer Leidenschaft, mit langem Atem und andauernder Überzeugungskraft, oft auch gegen latenten oder offenen Widerstand, die Freiheit verstanden hat, aufzubrechen, wohin sie will. „Ins Offene“, wie es nicht nur bei Hölderlin, sondern auch auf dem Titel des wunderbaren Buches über Dich heißt, das Johannes Odenthal vor anderthalb Jahren herausgegeben hat. 

Wir schrieben (in der Jurybegründung): „Aus der Kindheitserfahrung von Antisemitismus, Verfolgung und dem Verlust von Familienangehörigen durch den Holocaust, aus den zu Studienbeginn erlebten Konflikten zwischen Ost- und Westberlin und schließlich ihrem Auslandsstudium in London hat Nele Hertling einen unerschütterlichen Glauben an die Notwendigkeit und die transformatorische Kraft der Kunst entwickelt und Berlin zum Mittelpunkt ihres außerordentlichen und einzigartigen Wirkens werden lassen.“ Du hast Berlin ins Offene geführt, das Nachkriegsberlin geöffnet für die internationale Kunstavantgarde und zugleich dafür gesorgt, dass die Stadt und mit ihr das ganze Land die künstlerische Moderne in Deutschland vor 1933 wiederentdeckte, deren Traditionslinien in der Nazizeit abgerissen worden waren. Mit Gerhard Bohner hast Du „Das Triadische Ballett“ rekonstruiert, mit Kurt Jooss den Ausdruckstanz rehabilitiert. Du hast Dich der Neuen Musik gewidmet, der Minimal Art und vielen Formen der Interdisziplinarität. Du hast revolutionäre Künstler*innen nach Berlin eingeladen und in Berlin gefördert und hast damit die Berliner Kunstwelt revolutioniert. 

Aus Deinem Engagement für Pantomime und Puppenspiel etablierte sich ein neuer Begriff von Performancekunst, für den Du die künstlerischen Avantgarden aus New York, aus Belgien, Frankreich, Deutschland und der Welt in Berlin präsentiert und koproduziert und neue Theaterästhetiken aus Osteuropa vorgestellt hast. Bahnbrechend war dafür unter anderem Dein mit Dirk Scheper in den 1970er-Jahren ins Leben gerufene Festival PMTT – „Pantomime – Musik – Tanz – Theater“, das alljährlich der internationalen, interdisziplinären Kunst-Szene in Berlin eine innovative Plattform bot, parallel und in notwendiger, Horizonte-erweiternder Ergänzung zum Theatertreffen, mit dem mein ebenfalls in zwei Wochen seinen 90. Geburtstag feiernder Vor-Vor-Vorgänger im Amt des Intendanten der Berliner Festspiele, Ulrich Eckhardt, die deutschsprachige Theaterlandschaft repräsentierte. 
Das transnationale, europäische Denken prägt Deine Arbeit bis heute, so etwa bei der Konferenz „A Soul for Europe“ und im Netzwerk europäischer Akademien. Du warst und bist damit auch maßgebend dafür, dass sich das Nachwendeberlin seiner neuen Rolle als internationaler Metropole in der Mitte Europas bewusst werden konnte, denn Du hast darin früh ein gesamteuropäisches Denken gefordert und gefördert und Dich aktiv gegen Geschichtsvergessenheit und Autoritarismus, für Demokratie und Austausch eingesetzt.

Und jahrzehntelang hast Du insbesondere den zeitgenössischen Tanz gezeigt und gefördert, hast die internationale Tanzwelt mit zahlreichen innovativen Choreograf*innen nach Berlin gebracht und diese stets nachhaltig mit der Tanzszene hier vor Ort vernetzt. Zwei der besonders wichtigen New Yorker Künstlerinnen und künstlerischen Positionen, die Du einstmals erstmals in Berlin vorgestellt und etabliert hast, holen wir mit der kommenden Performing Arts Season im nächsten Dezember und Januar wieder hier ins Haus der Berliner Festspiele: Lucinda Childs und die Trisha Brown Dance Company. Mit der Tanzwerkstatt Berlin und dem Festival Tanz im August, mit Deiner Beteiligung an der Erfindung etwa der Tanzplattform Deutschland und des Tanzplan Deutschland, und insbesondere mit dem Hebbel-Theater, mit dem Du ein erstes europäisches Koproduktions-Modell entwickelt hast, und aus dem später mit dem HAU eines der bedeutendsten internationalen Produktionshäuser in Europa hervorging, hast Du alternative und grenzüberschreitende Produktionsweisen in den Darstellenden Künsten jenseits der Stadt- und Staatstheater und für die Freie Szene durchgesetzt – gemeinsam mit vielen Mitstreiter*innen: stellvertretend mitgenannt und mitgepriesen sei hier Deine langjährige Kollegin und Dramaturgin Maria Magdalena Schwaegermann. 

Und bei wie vielen weiteren Initiativen und Institutionen, Instrumenten und Mechanismen zur Förderung und Vernetzung der Kunst und Kultur hattest Du Deine Finger entscheidend im Spiel: im Theaternetzwerk Theorem, beim IETM, beim Berliner Rat für die Künste, beim Hauptstadtkulturfonds, im DAAD-Künstlerprogramm. Ich breche hier jetzt einfach mal ab, sodass wir zurückkehren können zu unserer heutigen politischen Versammlung. Denn ein Tanzhaus für Berlin hast Du auch schon längst erfunden! – Joe Chialo, übernehmen Sie.