Text | Gespräch | Gropius Bau 2022
Das Scheitern von Zeit und Heilung
Im Gespräch mit Johanna Hedva
Ausgehend von der neuen Installation The Clock is Always Wrong (2022) in der Gruppenausstellung YOYI! Care, Repair, Heal im Gropius Bau spricht Johanna Hedva über die Bedeutung einer radikalen Infragestellung westlicher Vorstellungen von Zeit und Heilung als lineare Prozesse, den Impuls, Museen niederzubrennen, und der Suche nach Wegen, kapitalistische Erzählungen über Genesung und Überleben durch einen Widerstand der Undercommons umzuschreiben.
Sonja Borstner: In deiner Tätigkeit als Künstler*in, Musiker*in und Schriftsteller*in bewegst du dich oft zwischen verschiedenen Medien und Disziplinen, angefangen von Performances bis hin zu Zeichnungen, Skulpturen, Installationen und textbasierten Arbeiten. Du hast auch ein Videospiel entwickelt, Musikalben veröffentlicht und Romane, Essays, Gedichte und Theaterstücke geschrieben. In der neuen Arbeit The Clock is Always Wrong (2022), die im Rahmen der Gruppenausstellung YOYI! Care, Repair, Heal im Gropius Bau gezeigt wird, kombinierst du ebenfalls verschiedene Komponenten – Skulpturen, Zeichnungen und Audioarbeiten, die im Dialog zu historischen Objekten aus der Wellcome Collection stehen und in einer ortsspezifischen Installation über den gesamten Raum hinweg zusammenlaufen. Könntest du ein wenig darüber sprechen, was dich an der Suche nach Antworten durch verschiedene Medien interessiert?
HEDVA: Ich habe das Gefühl, dass jede Antwort, die ich geben könnte, niemals so interessant sein kann wie die Frage, was der Grund für die Vermischtheit von Formen ist, warum dieses oder jenes Genre. Es ist dieselbe Frage, die ich mir stelle, wenn ich etwas herstelle – warum eine Zeichnung, warum ein Gedicht, warum zur Gitarre statt zum Stift greifen. Ich beginne mit einer Idee oder einem Gedanken oder einem Gefühl oder einem Traum oder einem Bild oder einer Frage oder einem Witz oder einer Phrase oder einer Szene, und dann frage ich mich, was passieren wird, wenn ich es in diese oder jene Form bringe: Was geschieht zum Beispiel mit der Frage, wie sich ein schwarzes Loch anfühlt, wenn ich sie in einem Videospiel stelle? Wie verändert sie sich hingegen, wenn ich sie in einem Doom-Metal-Lied stelle?
Ich denke, meine primäre Methodik ist die des hermeneutischen „Unfugs“, und ich fühle mich am wohlsten, wenn Neugierde das Steuer in die Hand nimmt und nicht Fachwissen. Ich habe große Freude daran, durch verschiedene Formen zu wandeln, weil ich selbst nie weiß, was mit einer Arbeit passieren wird. Beispielsweise begann eine der Skulpturen, die ich für diese Ausstellung angefertigt habe, Schimmel zu entwickeln, nachdem sie ein paar Tage ausgestellt war. Sie besteht aus Wasser, das ich aus der Moldau in Prag gesammelt und mit Honig und Tusche vermischt habe. Ich hatte gehofft, es würde irgendwie lebendig werden; die Arbeit handelt von der Heimat der Vorfahren meiner Mutter und der Art und Weise, wie sie in einer Art geisterhafter Präsenz weiterlebt. Diese speziellen tschechischen Wassermikroorganismen schienen den Honig zu lieben und bildeten neue Lebensformen mit einer spezifischen Form und Farbe, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, was einfach wunderbar ist!
Allerdings habe ich festgestellt, dass meine Produktivität manchmal auf etwas reduziert wird, das ich angeblich tue, um mit meinen chronischen Krankheiten oder meiner Behinderung „zurechtzukommen“, und nicht als Beweis für meinen Ehrgeiz, mein Talent, meine Vision oder meine Neugier. Eine Strategie, die ich habe, um das zu widerlegen, besteht darin, einfach zu sagen, dass eine solche Interpretation falsch ist, nicht wahr, und das Tolle an der Wahrheit – an der Bedeutung – ist, dass es so viele verschiedene gibt. Ich freue mich geradezu über die Trickserei als Methode der politischen Verweigerung.
In meiner Arbeit im Gropius Bau habe ich das erste Mal mit einem institutionellen Archiv gearbeitet, wobei ich nicht nur auf bestimmte historische Objekte in der Wellcome Collection reagiere, sondern auch auf die Gesamtheit der Institution, die ihre Institutionalität begründet. Über viele Jahre hinweg war meine Kunst ziemlich „anti-objekthaft“: Ich vertrat eine kämpferische Position gegen die Verstrickung von Kunst und Kapitalismus, und ich sah dies vor allem in der Herstellung teurer Sammlungsstücke für die Ultrareichen, die von Kunstinstitutionen gehandelt und ausgestellt werden. Noch immer steckt viel von diesem alten Punk-Geist in der Ausstellung – während des gesamten Prozesses habe ich mich beispielsweise immer wieder gefragt, was der antikapitalistische Ansatz für eine Vitrine ist; würde eine Vitrine ohne das Imperium überhaupt existieren?
Doch als ich zum ersten Mal den Objekten aus der Wellcome Collection begegnete, die Bárbara Rodríguez Muñoz, Ko-Kuratorin von YOYI! Care, Repair, Heal, mit mir ausgewählt hatte – allesamt alchemistische Welten für sich – fühlte es sich wichtig an, ihnen in derselben Sprache zu begegnen, in der sie sprechen. Diese Sprache war die eines Materials, das mit einer immateriellen Kraft durchdrungen ist, einer Art Magie, die für eine bestimmte Funktion, einen bestimmten Kontext und eine bestimmte Zeit gedacht war, die aber auch darüber hinausstrahlt und ihre Lebendigkeit auch jenseits des kleinen Sarges ihrer Vitrine lebt. Daher war es für mich von entscheidender Bedeutung, mit Objekten zu arbeiten, die in meinem eigenen Leben eine ähnliche Rolle gespielt haben; mit ihrer Materialität zu arbeiten, sie in die Hand zu nehmen und zu fühlen, ihre Körper, die einen Sinn für Zeit in sich tragen. In diesem Raum gibt es also Objekte, die mit ihrem immateriellen Telos und ihrer materiellen Komplexität laut, und andere, die darin leise sind. Da wären zum Beispiel aufwändigste kinetische Skulpturen (hergestellt von Leonie Ohlow, die für mich eine Art Magierin ist), von denen ich bisher nur träumen konnte und die ich schon seit 15 Jahren produzieren wollte, aber nie wusste, wie. Es gibt auch Gegenstände, die ich im Haus habe und täglich benutze, wie meinen Schreibtisch, an dem meine Arme die Farblackierung abgenutzt haben, während ich Stunde um Stunde dort saß und arbeitete.
Ich habe auch viel über dieses Dilemma nachgedacht, dass ich einerseits alle Museen niederbrennen möchte, andererseits aber auch anerkenne, dass zerbrechliche Körper Unterstützung brauchen, dass Erhaltung und Bewahrung ein Unterfangen des Erstaunens und der Neugierde sein können und nicht nur eine extraktive koloniale Funktion haben. Mir gefiel der Gedanke, dass eine Vitrine auch eine Bühne oder ein Labor sein kann.
Außerdem möchte ich anmerken, dass ich schon immer sehr ortsspezifisch und ortsbezogen gearbeitet habe, aber bisher waren die Ausstellungsorte eher unkonventionell: ein Korridor in einer Schule, ein Lieferwagen auf dem Los Angeles Freeway, die Ruinen eines Klosters aus dem 13. Jahrhundert. In The Clock is Always Wrong war der Ort, auf den ich reagierte, der Gropius Bau selbst, ein Ausstellungshaus, das sich sehr „museal“ anfühlt. Ich habe versucht, als Außenstehende die Sprache der Museografie zu sprechen, um zu zeigen, wie sich diese Begegnung für eine Person wie mich anfühlt. Wie es sich anfühlt, in diese ganze Institutionalität eingeladen zu werden und sie zu ertragen, als eine Person – eine behinderte genderqueere koreanische Amerikanerin –, die Institutionen mit Vorsicht und Skepsis betrachtet. Aus diesem Grund habe ich irgendwann beschlossen, 22 Messer an die Wand zu werfen.
Sonja Borstner: Beim Betrachten dieser Messer, die so präzise durch die dicke Wand des Ausstellungsraums bohren und gleichzeitig eine Reihe von geschichteten Papierarbeiten auf ihrer Oberfläche anbringen, entsteht eine gewisse Reibungskorrespondenz mit der Geschichte eben jener Räumlichkeiten. Der Gropius Bau ist durchdrungen von und durch Verletzungen aus dem Zweiten Weltkrieg, und während die schwersten Schäden zwischen 1978 und 1981 behoben wurden, wurden einige Bereiche bewusst „unrepariert“ belassen. Als Verkörperung eines anachronistischen Gefäßes, das sich einer linearen Auslegung von Zeit – und letztendlich von Reparatur – widersetzt, spricht The Clock is Always Wrong auch für ein Verständnis von Heilung als einem zyklischen, kontinuierlichen Prozess und widerspricht der Redewendung, dass „Zeit alle Wunden heilt“. Im Mittelpunkt deines Nachdenkens scheint der Raum zu stehen, den du mit und für Verletzungen/Wunden/Narben einnimmst, anstatt sie zu verbergen, und ich habe mich gefragt, wie du künstlerische Antworten auf eine Sammlung findest, die Zeit in einem institutionellen Kontext trägt, archiviert, festhält und aufbewahrt?
HEDVA: Zeit und Heilung sind ein Rätsel. Sie lassen sich weder messen noch definieren oder in einer monolithischen oder verlässlich stabilen Weise eingrenzen, und ich glaube nicht, dass es uns zusteht, Zeit oder Heilung als unveränderliche Einheiten zu betrachten, die unser Universum auf eine andere als poetische, anagogische Weise zum Ausdruck bringen können. Hier habe ich also angesetzt – das Rätsel, das Scheitern von Zeit und Heilung, wie sie sich wandeln – mit dieser neuen Arbeit. Ich wollte eine Arbeit über die Zeit machen: die verschiedenen Arten, wie wir diese Unterschiede verstehen und die Frage, was es bedeutet, Zeit zu „abzulesen“; die Unbeständigkeit und Wertigkeit dieses Verbs. Und ich wollte mit der Zeit arbeiten, Objekte mit und über und durch Zeit entwickeln und die Zeit in den Vordergrund stellen, die in den Objekten von Wellcome und auch in meinen eigenen Objekten verankert und eingebettet ist. Ich wollte, dass die Zeit im Raum mehr zu spüren ist als der Raum, aber mir war es wichtig, dass es eine unheimliche Zeit ist, eine magische Zeit, seltsam und geistreich und sonderbar.
Ich stelle mich gegen die unterstellte Kausalität der Zeit, die aufgrund ihrer chronologischen Linearität heilt; gegen die Vorstellung, dass Heilung geschieht, weil sich Zeit quantitativ akkumuliert, wie es scheinbar in dem Sprichwort „Zeit heilt alle Wunden“ und auch in einigen Themen dieser Ausstellung zum Ausdruck kommt. Obwohl das Wort „Zeit“ nicht im Titel der Ausstellung vorkommt, wird sie als notwendiger Faktor vorausgesetzt, den jedes dieser drei Dinge (Fürsorge, Reparatur und Heilung) braucht, um zu funktionieren. Ich schätze, ich verhalte mich hier dialektisch, aber wenn mir drei so heikle und kryptische und vage Begriffe wie Fürsorge, Reparatur und Heilung präsentiert werden, ist meine erste Reaktion, ihnen nicht zu vertrauen. Was sind diese Begriffe eigentlich, was bedeuten sie und wie funktionieren sie im institutionellen Kontext?
Nach Jahren der Beteiligung an Aktivismus für Disability Justice glaube ich nicht, dass Fürsorge, Reparatur und Heilung möglich sind, wenn lediglich die richtige Absicht vorhanden ist, wenn wir uns nur genug „kümmern“ würden. Denn, wovon sprechen wir, wenn wir von Fürsorge sprechen – was ist das in der Praxis? Das Wort Fürsorge wird oft als ein inhärentes, allgemeines „Gut“ verwendet. Aber ich weiß nie, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie dieses Wort benutzen. Welche Werte werden darin zum Beispiel vorausgesetzt? Was ist das Ziel? Was sind die Mittel, um dorthin zu gelangen? Geht es darum, zu einer phantastischen Ganzheit oder Reinheit oder einem Zustand ohne Schaden zurückzukehren, und einen Horizont des Glücks und der vollkommenen Gesundheit für immer und ewig zu erlangen, wo nichts klemmt oder reißt oder bricht oder abweicht oder gebraucht wird? Fuck, nein.
Während der Arbeit an dieser Ausstellung ist mir jedoch eine Sache klar geworden, die meiner Meinung nach das wichtigste Element sein könnte, um eine anti-ableistische und anti-kapitalistische Arbeitsbedingung zu gewährleisten: genügend Zeit.
Robert Maharajh: Das hängt sicherlich mit der Frage der Zeit zusammen: nämlich die Tatsache, dass wir im gewöhnlichen Sprachgebrauch vielleicht wissen, was Fürsorge ist, dass aber viele Modalitäten der Fürsorge, der Reparatur oder des einfachen Daseins in der Welt so komplex, tiefgreifend und intim sind, dass es fast unmöglich ist, sie zu theoretisieren oder auch nur wahrzunehmen. Wie zum Beispiel in der folgenden Passage aus einem Beitrag des jamaikanischen Dichters Ishion Hutchinson, den wir im Gropius Bau Journal veröffentlicht haben, deutlich wird:
„Ich werde beim Anblick von Akinbiyis Fotografien – und hier meine ich wieder das „Hören“ – an meine Kindheit in Port Antonio erinnert, einem kleinen Küstenhafen im Osten Jamaikas. Jedes Wochenende waren die Strände ein einziges Gewimmel von Körpern. Die Luft vibrierte von Wellen, Musik und Stimmen. Und doch ist das, woran ich mich erinnere und was ich in Akinbiyis Fotografien wiedererkenne, eine angehaltene Stille inmitten all dieser ausgelassenen Stimmung. Eine solche Stille war nicht melancholisch; sie stand nicht im Gegensatz zu der Freude, die das Wochenende auslöste. Vielmehr verankerte sie etwas, das für den Blick der meisten Außenstehenden unerwartet und unaussprechlich war: das Überleben. Nicht nur das Überleben der Mittelpassage und all der damit verbundenen Schmerzen, sondern vor allem die Art und Weise, wie die Körper, mit denen und von denen ich aufgewachsen bin, eine kollektive Wiedergutmachung der Verluste auf sich nahmen. Die Unbeschwertheit dieser Zusammenkünfte am Strand – die in der Karibik nicht nur an den Wochenenden üblich sind – wurde durch die Stille überlagert, so dass sich jedes Treffen wie eine Zeremonie des Gedenkens anfühlte.“
Hutchinson sieht das Erbe des Kolonialismus und die andauernden sozioökonomischen Probleme der Karibik. Aber er sieht/hört auch etwas, das einem Blick von außen Widerstand leistet: gelebte Prozesse der Neugestaltung, die auf körperlichem Überleben basieren. Und darin liegt doch sicher eine Kraft, vielleicht die Umkehrung oder Negation der von dir oben beschriebenen Arten von Macht?
HEDVA: Mir gefällt, worüber Hutchinson hier spricht. Und beim Lesen seiner Beschreibung der Stille wird deutlich, wie es möglich ist, auf Formen des Seins zu bestehen, die sowohl eine Art des Überlebens sind, als auch Formen des Lebens, die nicht von der Erlaubnis der Machthabenden abhängig sind. Die operative Definition von Macht ist die Verfügungsgewalt: die Durchsetzung des eigenen Willens bei anderen ohne deren Zustimmung, die Beherrschung, Ausbeutung, Vereinnahmung. Aber es gibt auch andere Arten von Kraft, und auch wenn sie nicht mit dieser dominanten Art von Macht identisch sind, sind sie dennoch nicht ohne Bedeutung. Ich stimme mit denen überein, die der Meinung sind, dass diese Art von Macht darin besteht, undiszipliniert und undefinierbar zu bleiben – das heißt, nicht dominiert zu werden – von den Systemen der Bedeutung, die uns von äußeren Kräften aufgezwungen werden. Möglicherweise wirst du materiell und politisch dominiert, aber es liegt etwas darin, sich dem zu verweigern oder zu entziehen, was die hegemonialen symbolischen, narrativen und hermeneutischen Bedeutungssysteme über dich und deinen Wert bestimmt haben.
Das ist der andere Teil dessen, worüber ich gesprochen habe, nämlich über die Hartnäckigkeit, etwas zu nehmen, das politische und materielle Konsequenzen haben sollte – wie Fürsorge, Reparatur und Heilung – und es symbolisch zu machen, indem die Kernpunkte dieser Forderungen zu einer Stimmung für eine thematische Gruppenausstellung zu abstrahieren. Wie wäre es, wenn wir anstelle einer Strategie, die ausdünnt, reduziert und extrahiert, das Umfassende, das Vielfältige anstreben? Was geschieht, wenn wir sehen, was im Raum des Symbolischen politisch und materiell möglich ist, wenn wir Vorstellungskraft, Spekulation, Poetik und Recherche als politische Handlungen ernst nehmen, die in der Lage sind, politischen Wandel ebenso wie eine neue Hermeneutik hervorzubringen?
Mit anderen Worten: es gibt auch eine Macht der Undercommons, die die Macht von unten, aus der Position des Unterlegenen, neu definiert. Diese Macht besteht darin, das, was die herrschenden Normen über die eigene Person sagen, „falsch“ zu verstehen, „falsch“ zu interpretieren oder schlichtweg abzulehnen. Das war der Antrieb für das, was ich mit der Gegenüberstellung der Arbeiten im Ausstellungsraum erreichen wollte: Wenn ich beispielsweise antike römische Fruchtbarkeitstalismane, die eine Gebärmutter und einen Penis darstellen, neben die Stoffschere meiner Mutter stelle, die so lang wie ein Unterarm ist (ich habe darauf geachtet, dass die Klingen auf den Schwanz zeigen, lol), dann fühlte sich das an wie eine Möglichkeit, die Historizität in dieser Vitrine aufzubrechen, in eine museale Sprache zu schlüpfen und sie an einen Ort zu bringen, an den sie normalerweise nicht gehören würde. Die Vitrine wurde schließlich Teil dieses hermeneutisch schelmischen Vokabulars, mit dem ich arbeitete. Ich war überrascht, dass sie poetisch sein, dass sie ein zerbrochener kleiner Vorschlag eines Gedankens sein konnte.
Diese gleichzeitige Stille und Heiterkeit, von der Hutchinson spricht, die sozialen Zusammenkünfte, die sowohl das Gewicht und den Schmerz seiner Community als auch ihre Momente der Freude und des Spaßes am Strand bezeugen. Das Kraftvolle daran als Modalität des Widerstands ist, dass es nicht das ist, was der weiße siedelnde koloniale Blick sagen würde, was dort passiert. Es ist etwas anderes. Es „beansprucht“ nicht nur die Macht, sondern widerlegt die Prämisse des Anspruchs, überhaupt beansprucht zu werden. Es beharrt auf einer anderen Bedeutung, einer anderen Wahrheit und bringt sie dadurch hervor. Wenn wir das tun, erzählen wir unsere Geschichte, die sich von der unterscheidet, die über uns erzählt wird. Ich hatte das Gefühl, dass viele Objekte der Wellcome Collection dies auch tun: sie waren Werkzeuge, die im Geheimen benutzt wurden, in einigen Fällen sogar gegen das Gesetz (der mittelalterliche Geburtsgürtel wurde während der Reformation verboten, aber Frauen benutzten ihn heimlich weiter), und das ist eine Art von Macht, die in ihrer Gegenwart, in ihrem Ungehorsam zu spüren ist.
Sonja Borstner: Das Narrativ für sich selbst rückzufordern, Worte zu finden, Volumen zu finden, eine Stimme zu finden, ist etwas, das ich in vielen deiner Arbeiten und insbesondere in deinen Texten wie Sick Woman Theory oder deinem jüngsten Album Black Moon Lilith in Pisces in the 4th House wiedergefunden habe. Für die Aufnahme dieses Albums hast du zum Beispiel Atem- und Gesangstechniken trainiert, die auf das koreanische Genre der epischen und musikalischen Erzählung von Dramen namens P‘ansori zurückgehen. P‘ansori-Sänger*innen üben stundenlang zu singen, bis ihre Stimmbänder zu bluten beginnen und sich schließlich Schwielen bilden, um das typische heisere oder raue Timbre der Stimme zu erhalten. Beim Anhören deines Albums erzeugen harte Gitarrenriffs und widerhallende Verzerrungen eine Art Unterton, durch den deine Stimme bohrt und Raum einnimmt. Was hat dich zu dieser speziellen Technik hingezogen? Und könntest du deine Gedanken über die Suche nach einer Stimme außerhalb der normativen Form mit uns teilen – in Bezug auf deine Musik, aber auch auf deine Texte?
HEDVA: Vielleicht hängt das mit dem zusammen, was wir in Bezug auf Heilung und die Unmöglichkeit, sie innerhalb der vorherrschenden ideologischen Wertesysteme des „Westens“ zu erreichen, besprochen haben. Eine Taktik ist, uns zu wehren und zu widerlegen, was über uns gesagt wird, und die Pathologie abzulehnen, die uns zugeschrieben wird. Aus westlicher musikalischer Sicht bespielsweise „schädigen“ P‘ansori-Sänger*innen ihre Stimmen, indem sie in diesem Stil singen, indem sie ihrer Stimme nicht erlauben, zu „heilen“ oder ihren Körper „zu sehr beanspruchen“. Aber der ästhetische Wert des P‘ansori ist genau diese Qualität, die von der Abnutzung, dem Alter und dem Leben in der Stimme der singenden Person, das heißt, in ihrem Körper, zeugt. Der Punkt ist, dass dieser Verschleiß schöner klingt, weil er nicht erschwindelt oder vorgetäuscht werden kann; er erfordert, dass der Körper der singenden Person tatsächlich durch das Handwerk verändert wird. Durch die Art und Weise, wie die singende Person ihn benutzt, muss diese Veränderung die Zeit überdauern und die materielle Konsequenz davon zeigen, und diese Konsequenz wird nicht als „Schaden“ angesehen, sondern als Beweis für das gelebte Leben und die Entscheidung, sich dem Handwerk zu widmen.
Dies steht im Gegensatz zur westlichen klassischen Operntradition, in der die Stimmen kristallklar, rein und himmlisch klingen sollten, unberührt vom Körper oder der irdischen Zeit. Ich trete nicht oft live auf, aber wenn ich es tue, spüre ich, dass meine Stimme nach jedem Auftritt ein bisschen anders ist, ein bisschen abgenutzter, und das hat etwas sehr Aufregendes an sich. Der Wunsch, den Körper zu ruinieren, ihm Schmerzen zuzufügen, ihn dauerhaft zu prägen, ihn sogar zu überstrapazieren, hat etwas Grundlegendes – aber die transgressive Bedeutung dieses Wunsches ergibt sich natürlich daraus, dass es ein binäres Gegenteil von Reinheit gibt. Auf diese Weise erhält der Wert der Reinheit sein Gewicht – die Gefahr von Schmutz, Unordnung, Narben, Verkrustungen, Spuren – und umgekehrt. Sie nähren sich gegenseitig als Binäres.
Allerdings geht diese Binarität von Reinheit/Verunreinigung an die Wurzel der Art und Weise, in der „Heilung“ als ideologisches Regime einen Deckmantel für Herrschaft und Pathologisierung bietet. Sie privilegiert die Reinheit, denn das ist die Sache, der wir uns annähern und zu der wir zurückkehren wollen. Sie behauptet, dass es gefährlich ist, sich von ihr zu entfernen. Wenn das Singen im Stil der europäischen klassischen Musik als Norm angesehen wird, dann wird die Verwendung der Stimme für etwas anderes nicht nur zu einer Frage des Geschmacks oder der Tradition, sondern zu einer Frage der „Gesundheit“ und „Sicherheit“: Es besteht die Gefahr, sich selbst zu verletzen, etwas zu verschmutzen, das früher sauber war, und unwiderruflich zu zerstören. Künstlerische Traditionen, die sich dem europäischen Standard widersetzen oder ihn ignorieren, werden als schädlich und gewalttätig, wenn nicht gar als abartig und fremdartig dargestellt. Aber natürlich gibt es eine Fülle von Musiktraditionen und Gesangsstilen aus aller Welt, die die Stimme als ein Instrument in den Vordergrund stellen, das selbst einen eigenen Körper darstellt und in einem Körper verkörpert ist, und dass diese Körper ihre Materialität ausdrücken. Die Sänger*innen der Pop- und Rockmusik, aber auch des Hardcores und Metals, singen genauso in und gegen die Kehle wie P‘ansori – und das ist ein Teil davon, warum sie eine gewisse Rebellion gegen die Norm darstellen. Und das ist auch der Grund, warum zum Beispiel, wenn die Stimmen von Rocksänger*innen altern, die generelle Kritik der Popmusikpresse lautet, dass die Sänger*innen deren Stimme oder deren Stimmumfang „verloren“ haben. So wird heutzutage über Joni Mitchell gesprochen, ebenso wie über Robert Plant, Courtney Love, Marianne Faithfull, Odetta, usw. Aber ich liebe die Art und Weise, wie diese Sänger*innen inzwischen klingen. Ich liebe all die Formen, wie ihre Stimmen brechen, krächzen, husten.
Ich bin nicht daran interessiert, die Brüche, Wunden und Fragmente, die auftreten, zu glätten oder zu verstecken. Das gilt sowohl für die sprachliche Ebene, über die wir uns hier austauschen, als auch für die erzählerische Ebene, wenn es um die Geschichten geht, die über Heilung, Genesung und Überwindung/Überleben erzählt werden. In der kapitalistischen Erzählung sind Misserfolge und Verletzungen notwendige Hürden, die den Menschen auf dem Weg zum normativen Erfolg „stärker“ machen. Dinge, die unter den Sammelbegriff Schwäche fallen würden – Verletzlichkeit, Gebrechlichkeit, Mangel, Kraftlosigkeit, aber auch die Abnutzung des Körpers im Laufe der Zeit – werden nie als Qualitäten an und für sich betrachtet, stattdessen müssen sie in den Dienst ihres angenommenen binären Gegenteils, der Stärke, gestellt werden. Ich sage nicht, dass wir unsere Schwächen als solche feiern oder verstärken sollten – ich sage, dass wir diese ganze Binarität neu definieren und die ihr zugeschriebenen Werte neu gestalten sollten. Vielleicht ist es gar kein binäres System.
Ein Teil des Projekts meiner Arbeit besteht darin, diese Werturteile umzukehren und zu zeigen, dass es andere Arten des Denkens und des Seins gibt, die nicht in Schwächen und Stärken, Überleben und Gedeihen, rein und gesund und abgefuckt und beschädigt unterteilt werden müssen. Wie wäre es, wenn eine Person, die sich durch ein Lied krächzt, nicht beweist, dass sie verloren hat, was sie früher hatte? Was, wenn es stattdessen zeigt, was die Person gewonnen hat? In meinem Essay Notes on Need (2021), dessen Ideen zum Argument von Why It’s Taking So Long wurden, einem Text, den ich im Rahmen der Veranstaltungsreihe Ámà: 4 Tage zu Fürsorge, Reparatur und Heilung im Gropius Bau gelesen habe, habe ich begonnen, diese Art der Umkehrung zu durchdenken. Dabei habe ich etwas neu definiert, das als Indikator für Schwäche, für Defizite festgelegt wurde: „Ich möchte wissen, warum wir unsere Welt gebaut haben und uns mit dem Gesetz plagen, dass ein Körper nicht zu viel braucht. In der Tat, dass er kaum etwas braucht. Dabei hätten wir die Welt nach dem Gesetz bauen können, dass die Bedürfnisse eines Körpers immer da sein werden, dass sie überall sind, für immer, und ist das nicht eine Art von Luxus? Eine Belohnung?“ Wenn Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit grenzenlos sind und Selbstversorgung, Wohlbefinden, Gesundheit, individuelle Souveränität und Kontrolle unsicher und vorübergehend sind, sollten wir vielleicht darüber nachdenken, wie wir die Dinge neu bewerten können, die im Überfluss vorhanden und unerschöpflich sind. Warum haben wir sie als Mängel abgetan, obwohl sie in Wirklichkeit Fülle sind?
Übersetzung: Yvonne Tang
Johanna Hedva (they/them) ist eine koreanisch-amerikanische Schriftsteller*in, Künstler*in und Musiker*in und wuchs in Los Angeles in einer Familie von Hexen auf. Heute lebt Hedva zwischen Los Angeles und Berlin. Hedva ist die Autor*in von Minerva the Miscarriage of the Brain, einer Sammlung von Gedichten, Performances und Essays, und des Romans On Hell. Deren Alben sind Black Moon Lilith in Pisces in the 4th House und The Sun and the Moon. Die Arbeit The Clock is Always Wrong (2022) ist Teil der Gruppenausstellung YOYI! Care, Repair, Heal im Gropius Bau.
Sonja Borstner (sie/ihr) ist Autorin, Kuratorin und Redakteurin, deren Forschungsschwerpunkte auf dem Körper, Krankheit und Verletzlichkeit liegen. Sie ist Redakteurin am Gropius Bau und Editor-at-Large des Online-Kunstmagazins PASSE-AVANT. Ihre jüngsten Texte wurden unter anderem im frieze magazine, Gropius Bau Journal, TAZ, Berliner Zeitung und bei Revolver Publishing und im Distanz Verlag veröffentlicht.
Robert Maharajh (er/sein) ist ein Schriftsteller und Kurator, der zwischen London und der Karibik aufgewachsen ist. Er studierte Literatur und Philosophie in Großbritannien. Er war Mitbegründer und Kurator der von Künstler*innen geführten Galerie T12 in East London und arbeitete an der Biennale von Sydney 2020. Am Gropius Bau ist er Editor at Large.