Text | Interview | MaerzMusik 2025

Die Oper des Atmens

Fünf Perkussionist*innen an ihren Schlagwerken auf der Bühne.
Steven Schick, POETICA von Chaya Czernowin, Aufführung im Espace de projection, IRCAM, 2024
© Hervé Veronese / Centre Pompidou

Chaya Czernowin im Gespräch mit Frank Madlener

Verfügbar seit 6. März 2025

Lesezeit ca. 9 Min

Deutsch und Englisch

Wortmarke MaerzMusik

Frank Madlener (FM): Kannst du uns etwas über den Raum erzählen, den du mit „POETICA“ erschaffst – du hast von einem „Erinnerungspalast“ gesprochen – und über das Gefühl des Zusammenhalts, das du in diesem Raum entstehen lassen möchtest? 

Chaya Czernowin (CC): Bei „POETICA“ geht es nicht unbedingt um „Zusammenhalt“. Es ist eher wie eine Schicht innerhalb einer Schicht, innerhalb einer Schicht ... in einer Art von Bewusstsein. Oder, besser gesagt: Es ist wie eine Art Terrain, das aus vielen Schichten von Steinen besteht – ein topologischer Raum. Womit wir es in „POETICA“ zu tun haben, ist natürlich nicht wirklich archäologisch und doch geht es darum, diese Schichten freizulegen. In diesem Sinne ist das Werk eine Art Schwesterstück zu „HIDDEN“, einem Quartett mit Elektronik. „HIDDEN“ war in gewisser Weise vergleichbar mit dem Abtauchen in die Tiefen des Wassers, während „POETICA“ das Abtauchen in die Schatten der Worte, die Schatten der Sinnfindung symbolisiert. Alles begann mit dem Konzept der Erinnerung, denn das Gedächtnis ist ein sehr komplexes Schichtensystem in unserem Bewusstsein. Manche Erinnerungen – traumatische Erinnerungen – bleiben vor uns verborgen, während andere zugänglicher sind, und wieder andere verändern sich ständig, weil wir sie vergessen und unter dem äußeren Einfluss anderer Menschen umgestalten. Das Gedächtnis ist etwas sehr Fluides, nicht etwas Fixes. Lange Zeit glaubten wir, das Gedächtnis sei eine Art Schrank, den wir irgendwo in unserem Gehirn verschlossen halten und den wir öffnen können, um darauf zuzugreifen. Natürlich ist dem nicht so, wie die Wissenschaft später gezeigt hat. Das Gedächtnis ist ständig aktiv, fluide und verändert sich.

  • Porträt von Chaya Czernowin
    Chaya Czernowin
    © Astrid Ackermann

FM: Du hast dein Stück ursprünglich „Memory Palace“ genannt und darauf hingewiesen, dass die Erinnerung eng mit bestimmten Räumen verbunden ist und sich von einem Raum zum anderen bewegt. Gibt es in „POETICA“ einige Texte, die diese Erinnerung verankern?

CC: Im Grunde gibt es keine wirklichen Texte. Das Stück hat vielmehr mit der Interaktion zwischen Erinnerung und Gegenwart zu tun. Zuerst haben wir den Solisten, Steven Schick, ein genialer Schlagzeuger, und dann die vier Mitglieder der Percussions de Strasbourg, die ihn umgeben, und schließlich kommt noch ein sehr mysteriöses Ensemble dazu, das aus drei Streichinstrumenten besteht, die abseits der Bühne versteckt sind. Obwohl diese Entscheidung ursprünglich aus Platzgründen getroffen wurde, um das Stück funktionaler zu gestalten, wurde sie schließlich zu einem seiner interessantesten Aspekte. Das zeigt, wie sich manche Sachzwänge in die größten Vorzüge eines Werks verwandeln können. Wenn ich sage, dass das Trio „versteckt“ ist, dann meine ich damit, dass wir nicht wissen, ob es überhaupt existiert. Denn tatsächlich ist es nicht jederzeit da. Das Trio wird erst durch das Spiel der Percussions de Strasbourg zum Leben erweckt.

FM: Und was ist mit der Elektronik?

CC: Wir konnten das gewünschte Ergebnis nicht erreichen, indem wir nur den natürlichen Klang der Streichinstrumente verwenden. Also mussten wir ihren Klang so optimieren, dass er den der Perkussionist*innen verstärkt und gleichzeitig den Eindruck erweckt, im Bewusstsein der Perkussionist*innen präsent zu sein – als ob die Klänge der Streichinstrumente ein organisches, denkendes Wesen wären. Ich eröffne eine Art psychologische Arena, in der wir den Solisten, die Perkussionist*innen und die Streicher*innen haben. Der Solist manifestiert sich durch sein Atmen. In gewisser Weise kann man sagen, dass das ganze Stück wie ein einziger langer Atemzug ist.

FM: Könnte man sagen, dass du die Instrumente in lebendige Subjektivitäten verwandelt hast? Zu Beginn des Kompositionsprozesses hast du dich gefragt, ob dein Stück eine Installation oder eine Performance sei. Hast du am Ende beides irgendwie miteinander kombiniert?

CC: Ich würde sagen, es ist wirklich eine Performance geworden. Aber sie ist sehr elementar und kommt mit dem bloßen Minimum aus. So wie wir atmen, ohne uns dessen überhaupt bewusst zu sein. Atem ist Leben – das ganze Universum selbst atmet, zieht sich zusammen. So ist es auch bei „POETICA“.

FM: Du hast einen merklichen Theaterhintergrund. Würdest du sagen, dass dieses Stück auch eine theatralische Dimension besitzt, fast wie bei einer Oper?

CC: Es ist in der Tat sehr opernhaft. Man könnte es die „Oper des Atmens“ nennen, oder die „Oper des Atems“.

  • Drei Perkussionist*innen an ihren Instrumenten auf der Bühne
    Steven Schick, POETICA von Chaya Czernowin, Aufführung im Espace de projection, IRCAM, 2024
    © Hervé Veronese / Centre Pompidou

FM: Schlägst du mit diesem Stück eine neue Form der Kommunikation vor? Nicht nur zwischen dem Klang und der Elektronik, sondern auch mit dem Publikum?

CC: Ich würde sagen, es geht eher um die Kommunikation, die zwischen den Schichten des Stücks geschieht, wenn wir ins Bewusstsein hinabsteigen. Es geht darum, die verschiedenen Räume innerhalb eines menschlichen Geistes zu verbinden. Aber diese „Oper des Atems“ suggeriert auch eine gewisse Objektivität, denn während das innere Gespräch stattfindet, können wir auch die Geräusche von Demonstrationen hören. Ich war bei Demonstrationen in Paris und Tel Aviv dabei, und ich habe auch hier in Amerika viel ferngesehen. Also beschloss ich, das aufzuzeichnen und auch einige andere Quellen hinzuzufügen. Diese Aufnahmen verleihen dem Stück eine äußere Dimension und vermitteln den Eindruck, als würde das Ensemble versuchen, die Verbrennung der Welt zu überleben. Denn wenn wir mal darüber nachdenken: Worum geht es bei den Demonstrationen wirklich? Es ist nichts anderes als eine Versammlung von Tausenden von Menschen, die lautstark etwas verteidigen oder bekämpfen wollen. Was wir also hören, sind die Schreie einer unglücklichen Welt, die keine Kontrolle über die ständigen Veränderungen hat, denen sie ausgesetzt ist. Und in dieser Welt, die uns Schmerzen zufügt, müssen wir kämpfen, um menschlich zu bleiben. So wie wir es tun, wenn wir uns auf unseren Atem konzentrieren, wie er auf- und abgeht – wie ein meditativer Akt, angesichts einer sich verändernden und verräterischen Welt.

FM: Du schaffst eine Verbindung zwischen Direktionalität und Langsamkeit, was in der Musikkomposition ein heikles Thema ist. Wie gelingt Dir das?

CC: Früher ging man davon aus, dass der Bereich der Musik aus drei verschiedenen Kategorien besteht: Prozesse, Räume und Ereignisse. Jetzt stellen wir fest, dass es keine solche dialektische Unterteilung gibt, sondern dass diese Kategorien eher ein Kontinuum darstellen. Wenn wir uns in einem Raum befinden – selbst wenn er wie das Atmen zyklisch ist –, findet ein sehr langsamer Prozess statt, der sich auf die Atmung auswirkt und sie tiefer und schwerer macht. Es wird dann schwieriger zu atmen, obwohl der Prozess an sich nicht schwierig ist, und es kann einige Zeit dauern, bis wir merken, dass sich etwas verändert hat. Die Geschwindigkeit – oder in diesem Falle Langsamkeit – des Ganzen hängt davon ab, wie sehr wir in den Raum oder den Prozess involviert sind. Eine schnelle Entwicklung bringt uns zum Abschluss des Prozesses, während eine langsame Entwicklung uns in die räumliche Dimension führt. Raum ist niemals fix oder unveränderlich, er ist immer im Wandel. Der für diese Überlegungen sehr wichtige Begriff der Zeitskalierung hingegen ist schon eher fix.

Chaya Czernowin ist Komponistin und seit 2009 Walter Bigelow Rosen Professor of Music an der Harvard University.

Frank Madlener ist Kulturmanager und Direktor des IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) in Paris.

Das Interview fand anlässlich der französischen Erstaufführung von „POETICA“ im Juni 2024 bei ManiFeste, IRCAMs multidisziplinärem Festival, statt.