Text | Gespräch | MaerzMusik 2025
Die Stimme ist das erste aller Instrumente

Joan La Barbara im Gespräch mit Ute Wassermann
Ute Wassermann (UW): „Voice Is the Original Instrument“ ist der Titel eines deiner Konzertprogramme sowie deines Soloalbums aus dem Jahr 1976. Der Titel hat mich als junge Kunststudentin in den frühen 1980er-Jahren sehr beeindruckt, weil er konzeptionell wie auch prägnant und zugleich sehr phantasievoll ist. Es ist auch ein Manifest, oder?
Joan La Barbara (JLB): So war es auch gemeint. Ich habe den Titel für mein erstes Solokonzert verwendet und benutze ihn immer wieder, weil es viele Menschen noch immer zu überraschen scheint, wie viel die Stimme leisten kann. Als ich anfing, mich mit der Stimme auseinanderzusetzen, wurde ich mehr oder weniger von Instrumentalist*innen inspiriert, die ihre Instrumente erforschen. Ich dachte, ich sollte das mit der Stimme machen und mit meinen Untersuchungen einfach loslegen. Ich habe alles Mögliche gemacht. Am Anfang habe ich diese anderen Instrumente imitiert, aber genauso habe ich ein Experiment mit dem Titel „Hear What I Feel“ durchgeführt, das auf dem Konzept der sensorischen Deprivation basierte.
UW: Das ist ein ganz besonderes Stück.
JLB: Offensichtlich sollte es dazu verleiten, mir einen Klang zu entlocken, der über die bloße Technik hinausgeht. Ich habe das zum ersten Mal im Rahmen einer Live-Performance ausprobiert. Ich hatte einen Raum, der vom Aufführungsraum getrennt war, und meine Augen waren mit Wattebällchen und Kreppband zugeklebt. Vor der Aufführung saß ich eine Stunde lang in diesem Raum und habe nichts angefasst. Ich hatte auf einem kleinen Tisch sechs Klarglasschalen aufgestellt. Meiner Assistenz sagte ich, sie könne sich aussuchen, was sie in die Glasschalen tut. Die einzige Bedingung ist, dass es nicht krabbelt und mich nicht verletzen darf. Ich habe mich in eine vulnerable Situation gebracht, aber ich mag keine Insekten [lacht].
Ich wollte es vor Publikum ausprobieren, weil man sich während einer Performance in einem gesteigerten Bewusstseinszustand befindet. Ich wurde von meiner Assistenz auf die Bühne geführt, immer noch mit zugeklebten Augen, und setzte mich auf einen kleinen Hocker hinter den Tisch mit den Glasschalen. Ich berührte einfach nur die verschiedenen Substanzen und versuchte gar nicht, sie zu identifizieren. Ich versuchte nicht, irgendetwas Musikalisches zu machen, sondern lediglich, eine unmittelbare stimmliche Reaktion auf das zu geben, was ich da berührte.
UW: Du hast also eine haptische Erfahrung direkt mit deinen Stimmlippen verkabelt.
JLB: Ja, es war eine faszinierende Erfahrung, das live zu machen.
UW: Ich denke, das Überraschungsmoment ist sehr wichtig: Wie reagiere ich stimmlich auf eine unvorhergesehene Situation? Das ist etwas ganz anderes, als ein Stück einzustudieren.
JLB: Ja. Außerdem geht es sehr viel um Improvisation. Ich wollte es nicht zu einem Stück in dem Sinne machen, dass es eine musikalische Aussage darüber trifft, was ich tue. Es sollte eher eine Art wissenschaftliches Experiment sein. Die Idee ist, dass ich versuche, etwas Neues zu entdecken.
UW: Vor Publikum ist das sehr mutig.
JLB: Auf jeden Fall, und das Publikum mit auf diese Reise zu nehmen und ihm zu vertrauen, dass es mir nachfolgt – das war mir sehr wichtig.
Joan La Barbara während eines Konzerts in Los Angeles, 1984
UW: Einige deiner Arbeiten erstrecken sich über einen langen Zeitraum. „Solitary Journeys of the Mind“ reicht von 2011 bis heute – es wächst und entwickelt sich im Laufe der Zeit ständig weiter, genau wie deine Stimme. Diese Vorstellung von Zeit geht weit über die einer linearen Auffassung hinaus.
JLB: Es gibt bestimmte stimmliche Gesten, die Teil des Stücks sind. Gleichzeitig ist es ein Stück über die Transformation dieser Gesten in Echtzeit. Es ist eine „Echtzeit“-Komposition, was die Improvisation ja ausmacht – es geht darum, Entscheidungen zu treffen: Mache ich weiter? Wie kann ich diesen Klang dazu bringen, sich in etwas Neues zu verwandeln? Wenn ich ein rhythmisches Muster schaffe, will ich es erweitern oder will ich zu etwas Fließenderem übergehen? Selbst den Stücken mit festen Backing-Tracks, die ihre eigene Zeitlichkeit haben, kann ich etwas hinzufügen, weil ich weiß, was kommt. Ich kann etwas einbringen, von dem ich weiß, dass es das Publikum hören wird, aber zuvor noch nicht gehört hat.
UW: Sprechen wir über „October Music: Star Showers and Extraterrestrials“, das du als „Klanggemälde“ beschrieben hast. Es basiert auf der Betrachtung des Himmels mit seinen Sternschnuppen und funkelnden Haufen. Ist der Himmel eine lebendige Partitur und ein Kollaborateur in dem Sinne, dass er einen kompositorischen Prozess in Gang setzt?
JLB: Ja, es sind die Sterne, die man sieht, wenn man denn Glück hat – wenn man weit weg von der Lichtverschmutzung der Städte ist, kann man tatsächlich den Nachthimmel und all die Wunder sehen, die es dort gibt. Aber es geht auch um eine imaginäre Reise zu möglichen Lebewesen aus einem anderen Teil des Universums. Ich spiele mit der Idee einer anderen Sprache, eines anderen Klangs, der von diesen Wesen ausgehen könnte, und welche Art von Klängen ich erzeugen kann, die mich vielleicht noch überraschen. „October Music“ ist eine Kombination aus Klängen, die ich kenne, und Klängen, die ich mir vorstelle, und die ich dann alle zu dieser „Klangatmosphäre“ zusammenschichte. Bei Aufführungen arbeite ich mit diesen aufgenommenen Klängen und füge eine weitere Ebene hinzu.
UW: Auch bei „Erin“ war es eine emotionale Erfahrung – die Reaktion auf ein Foto –, die deine Vorstellungskraft anregte und den Weg für eine Komposition ebnete.
JLB: Das Foto zeigte einen Vater, der den Sarg seines Sohnes trägt – ein Mitglied der Irish Republican Army, der im Hungerstreik gestorben war. Das hat nicht nur eine emotionale Reaktion in mir ausgelöst, sondern ebenso ein Nachdenken in Gang gesetzt, auch über all die unglaublichen Schriftsteller*innen, die aus Irland stammen – James Joyce, Samuel Beckett und viele andere. Die Menschen existieren nur in meiner Vorstellung, sie sind in keiner Weise real. Sie sind wie außerirdische Wesen, die ich manchmal erschaffe. In „Erin“ geht es um eine imaginäre Sprache. Herzstück ist eine einfache einsilbige Sprache, die ich erfunden habe. Ich weiß nicht, woher das kam, es ist einfach passiert, es war nicht geplant. Und ich dachte dann, dass das wirklich interessant sei und ich es mal weiterlaufen lassen sollte. Ich gehe in dieses große mehrstimmige Klagelied über, viele Schichten von mehrstimmigen Klängen und verstärkten Obertönen, und komme dann ganz am Ende zu dieser erfundenen Sprache zurück, mit dieser Kette von Einsilbern, die ein Wort oder vielleicht einen Satz ergeben.
Ob ich mich nun für ein spielerisches Spiel oder ein intellektuelles musikalisches Spiel entscheide – all das ist ein integraler Teil des Moments der Komposition im Studio. Wenn ich also diese Stücke mache – mit einigen Ausnahmen, bei denen ich die Dinge vorher aufgeschrieben habe –, habe ich meistens Gesten im Kopf oder ich fertige eine Menge Grafiken an. Ich spiele einfach viel.

UW: Wie notierst du deine Stücke?
JLB: Es ist eine Kombination aus verschiedenen Dingen. Wenn es tatsächlich um Tonhöhen geht, die ich erreichen und wiedergeben möchte, dann schreibe ich das Tonhöhenmaterial auf. Häufiger noch handelt es sich um eine stimmliche Geste. Die drückt sich für mich eher in einer Grafik aus. Denn ich sehe den Klang, wenn ich den Klang schaffe.
UW: Du siehst seine Form?
JLB: Die Formen und die Klänge treten gleichzeitig auf. Ich erlebe die Energie, die es braucht, um die Klänge zu erzeugen. Manchmal bringe ich einen Klang hervor, der seltsam ist, sodass ich ihn nicht noch einmal wiederholen möchte. Ich weiß, dass dieser Klang vielleicht ein einmaliges Ereignis war und ich nicht in der Lage sein werde, ihn zu replizieren. Ich kann mich dann aber dazu entscheiden, die für seine Erzeugung aufgebrachte Energie zu nutzen und herauszufinden, was als Nächstes herauskommt. Es ist ein sehr fließender Prozess und ein ständiges Entdecken.
UW: „Windows ...“ ist von den geschwungenen Formen der Architektur inspiriert.
JLB: Mein Vater war im Baugewerbe tätig, deshalb brachte er mir das technische Zeichnen bei. Er hat mich gelehrt, wie man Grundrisse und Konstruktionspläne liest. Ich denke auf eine bestimmte Art und Weise über Architektur nach, über ihre Notwendigkeiten und die phantasievollen Ideen, die man ihr hinzufügen kann. Seit meiner Kindheit ist das ein integraler Teil meines Wesens. Das Zeichnen von Partituren ist für mich wie das Erstellen eines Architekturplans. Im Allgemeinen nehme ich zuerst die Grundspuren auf, alle das Fundament bildenden Schichten, damit ich weiß, ob ich es mit Mikrotönen zu tun habe, die Schwingungen erzeugen, oder ob ich eine solidere Struktur baue. Dann fange ich an, darüber zu schichten.
UW: Mit „Windows ...“ schaffst du einen Raum aus einer Vielzahl komplizierter Schichten – wie die Geräusche des Windes, fast wie Spinnennetze. Wer das Stück hört, kann geradezu hineinzoomen.
JLB: Das ist es, was ich beabsichtige. Du erwähnst den Wind, aber natürlich ist es nicht der Wind. Ich bin es, die den Wind erzeugt. Es ist sehr schwierig, echten Wind aufzunehmen. Man braucht eine spezielle Ausrüstung, besondere Mikrofone und all das. Es ist also einfacher, den Wind selbst zu erzeugen. Die verschiedenen Arten von Wind imitierenden Klängen sind allesamt stimmlich erzeugt, mit Hilfe des Atems und der Zunge, wobei man die Zunge an der richtigen Stelle im Instrument platziert und bewegt, um die Bläserklänge zu variieren.
UW: Das ist faszinierend. Gibt es noch etwas, worüber du sprechen möchtest?
JLB: Den Prozess. In meinem Kompositionsprozess gibt es kein System. Ich arbeite aus der Inspiration heraus. Und die Inspiration kann, wie du schon gesagt hast, von einer Fotografie, von Momenten, Gemälden oder einem Spaziergang in der Umgebung ausgehen. Die Inspiration kommt aus verschiedenen Quellen. Nachdem ich sie gefiltert und eine Idee oder ein Konzept entwickelt habe, beginne ich mit einer Liste nach der Methode des stream of consciousness. Ich schreibe alles auf und versuche, mich nicht selbst zu zensieren. Ich versuche, einen Zugang zu dem zu finden, was in meinem Kopf vor sich geht, was in meinem Gehirn passiert. Darüber weiß die Wissenschaft ja noch nicht allzu viel.
UW: Du grenzt in einem frühen Stadium nicht ein, sondern lässt die Dinge einfach geschehen.
JLB: Ich lasse die Dinge geschehen und entdecke sie für mich. Mein Schreiben ist ein Entdeckungsprozess: Wow, ich wusste gar nicht, dass ich so denke. Das ist Teil meines Prozesses. Dann lese ich nochmal, was ich geschrieben habe, um zu sehen, wo darin die Musik liegen könnte. Es kann sein, dass ich mehrere Lektüredurchläufe brauche, um herauszufinden, wo die Musik zu finden ist. Ich mache auch Zeichnungen – nicht unbedingt bildhafte Zeichnungen, sondern Energiezeichnungen. Auch hier greife ich auf das zurück, was ich wahrnehme, fühle und erlebe, und lasse einfach den Stift über das Papier gleiten, um es im Nachhinein herauszufinden. Und dann, wenn ich zum Wesen der Ideen vorgedrungen bin, beginne ich mit der Arbeit am Klang. Ich kenne oft nicht die ganze Landkarte, sondern bewege mich drauf los und fange an, mit den Klängen zu arbeiten, um zu sehen, was sie eigentlich sind – ich entdecke die Form und die Essenz der Klänge, während ich sie erzeuge.
Joan La Barbara ist Sängerin, Komponistin, Performerin und Klangkünstlerin. Sie nutzt ihre eigenen experimentellen Vokaltechniken, um die tradierten Grenzen des Gesangs zu erweitern.
Ute Wassermann ist eine experimentelle Sängerin, Komponistin, Performerin und Improvisatorin. Im Zentrum ihrer Forschung steht die kompromisslose Erkundung der Stimme und ihrer räumlichen Erweiterungen.