Text | Interview | Performing Arts Season 2025/26
Im Tanz werden Grenzen zu beweglichen Linien voller Möglichkeiten

Eun-Me Ahn im Gespräch mit Yusuke Hashimoto
Eun-Me Ahn: „Post-Orientalist Express“ will den westlichen Blick auf den „Orient“ dekonstruieren – jenen Mythos, den Edward W. Said als koloniale Konstruktion entlarvt hat. Mein Stück geht aber noch einen Schritt weiter: Es zeigt, dass Orientalismus keine rein westliche Sichtweise ist. Auch innerhalb Asiens „orientalisieren“ wir uns gegenseitig – Korea grenzt sich von Japan ab, Japan von China, China von Korea. Ein engmaschiges Netz gegenseitiger Abgrenzung.
Mein Ausgangspunkt lautet daher: „Alles und nichts gehört mir.“ Das Publikum durchquert „Erehwon“ – „Nowhere“ rückwärts gelesen –, einen Raum, in dem alles auf den Kopf gestellt ist. Die Namen sind vertauscht: Aniha statt China, Aeroka statt Korea, Napaja statt Japan. Die Machtstrukturen hinter dem, was wir für kulturelle Identität halten, werden neu geordnet.
Allerdings funktioniert es nicht, den Orientalismus einfach abzulehnen, er existiert bereits in und unter uns. Ich greife deshalb auf strategischen Essentialismus zurück und beanspruche dieses verworrene Feld aus Fakten und Fantasie als gemeinsame menschliche Ressource. Ich wandle Traditionen ab, verändere ständig ihre Ausdrucksformen und kombiniere sie neu. Dadurch schaffe ich neue Bedeutungen, um die alte Ost-West-Hierarchie aufzubrechen.
Ja, aber es kommt auf die Methode an. Ich glaube an einen dritten Weg: Sowohl-als-auch statt Entweder-oder. Brücken bauen heißt nicht, Unterschiede auszulöschen, sondern jede Kultur in ihrer Einzigartigkeit zu würdigen und die Reibungen an den Berührungspunkten lebendig zu halten. Dialog statt Einheitlichkeit.
Für die Choreografie war es entscheidend, keine „panasiatische“, sondern eine „interasiatische“ Haltung einzunehmen. Ein fiktives „vereintes Asien“ würde nur den westlichen Orientalismus von innen heraus reproduzieren. Stattdessen nutze ich Unterschiede und Spannungen als Rohmaterial: Der Yin-Yang-Kreis kreuzt die gerade Linie des Noh, ein Kathakali-Mudra erstreckt sich zwischen beiden. Solche Dissonanzen schaffen einen neuen Rhythmus – einen interasiatischen Tanz.
Im 21. Jahrhundert müssen wir nicht mehr in der Defensive bleiben. Kreativität blüht auf, wenn wir unsere inneren Komplexitäten – Reibungen, Missverständnisse, Konflikte – als Antrieb nutzen. „Post-Orientalist Express“ versteht Kultur nicht als vertikale Hierarchie, sondern als horizontalen Fluss.

Post Orientalist Express, Eun-Me Ahn, 2025
Meine Bewegung ist eine körperliche Sprache zwischen Ritual und Spiel. Im Schamanismus habe ich gelernt, dass der Körper nicht bloß Ausdrucksmittel ist, sondern ein Medium, das mit der Welt kommuniziert und Veränderungen anstößt. Schamanischer Tanz ist keine Show für ein Publikum – er schafft Verbindungen zwischen Göttern und Menschen, Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart. Er ist Trance, Heilung und Verwandlung zugleich.
Der zeitgenössische Tanz dagegen hat mir ein weltliches, kritisches Vokabular vermittelt: Dekonstruktion, Bruch, individueller Ausdruck. Ich stelle die beiden nicht gegeneinander, sondern kanalisiere schamanische Energie durch zeitgenössische Formen.
Mein Vokabular entsteht dort, wo das Heilige weltlich wird: heftige Erschütterungen, kreisende Drehungen, plötzlicher Stillstand oder Ausbruch – die Energien des Gut-Rituals im koreanischen Schamanismus, aber bewusst in einer zeitgenössischen Syntax komponiert.
In „Post-Orientalist Express“ treten diese Formen in Dialog mit asiatischen Theatertechniken wie Noh, Jingju (Peking-Oper) oder Kathakali, die alle schamanische Elemente in sich tragen: Kommunikation mit Geistern, Transformation der Welt. Ich setze sie in zeitgenössischer Sprache neu zusammen und zeige Tradition nicht als etwas Feststehendes, sondern als etwas, das ständig neu erfunden wird.
Die meisten von uns leben innerhalb unsichtbarer Kategorien: „Du bist Koreanerin.“ „Du bist eine Frau.“ „In diesem Alter musst du so leben.“ Diese Kategorien funktionieren wie eine soziale Choreografie, die vorschreibt, wie sich Körper zu bewegen haben. Ich versuche, diese versteckte Partitur sichtbar zu machen – und sie dann zu durchbrechen.
Wenn eine Frau in ihren Sechzigern wild tanzt oder ein männlicher Tänzer traditionelle Weiblichkeit verkörpert, verwandelt sich das Gebot „Du musst so sein“ in die Möglichkeit „Ich kann auch so sein“. Worte sind oft von etablierter Macht geprägt – aber ein tanzender Körper spricht aus einer Zeit vor oder jenseits dieser Begriffe.
Wenn sich mein sechzigjähriger Körper wie der eines Mädchens aufschwingt, wenn ein „koreanischer“ Körper mehrere Kulturen gleichzeitig in sich vereint, dann drückt er aus: Ich kann nicht auf eine einzige Kategorie reduziert werden. Die Menschen im Publikum beginnen zu spüren, welche Choreografie die Gesellschaft ihren eigenen Körpern auferlegt hat. Der Tanz schreibt das Drehbuch neu – und darin sind Grenzen keine Mauern, sondern bewegliche Linien voller Möglichkeiten. Das ist die Welt, die ich durch den Tanz erträume.

Post Orientalist Express, Eun-Me Ahn, 2025
Während meiner Jugend habe ich die Demokratisierung Koreas auf den Straßen miterlebt. Diese turbulenten Jahre haben auch die Frage aufgeworfen, wie Tanz funktionieren sollte. Die Globalisierung sorgte gleichzeitig für Verwirrung darüber, was eigentlich als „koreanisch“ gilt. Traditionen wanderten ins Museum, westliche Kultur wurde zum Alltag. In diesem Chaos konnte ich mich früh von der Vorstellung einer „reinen Tradition“ lösen.
Die langwierige und herausfordernde Arbeit, meine eigene künstlerische Sprache zu entwickeln, führte zur Tanz-Trilogie „Anthropology of the Body“, bestehend aus „Grandmother“, „Teenagers“ und „Middle-Aged Men“. In diesen drei Körperbildern sind koreanische Machtstrukturen am deutlichsten erkennbar: Opferbereitschaft und Hingabe, Kontrolle und Konkurrenz, Patriarchat und Autorität. Ich wollte mich von diesen eindeutigen Etiketten lösen und suchte nach einem gemeinsamen Nenner zwischen den Generationen, um eine moderne Geschichte des Körpers durch Tanz zu erzählen.
Während sich die Trilogie mit Machtverhältnissen innerhalb der koreanischen Gesellschaft beschäftigte, wendet „Post-Orientalist Express“ den Blick nach außen – auf die Beziehungen zwischen Asien und dem Westen. Aber der Kern bleibt derselbe: Die Demokratisierung hat mir gezeigt, dass ich meine Kritik nicht auf den westlichen Orientalismus beschränken sollte, sondern dass ich auch unsere internen Hierarchien in den Blick nehmen und als Ausgangsmaterial begreifen kann. Die Globalisierung hat mir gezeigt, dass es kein reines „Wir“ gibt, alles ist bereits vermischt – und Hybridität ist Stärke.
Farbe ist der Grund, weshalb ich mit dem Tanzen angefangen habe. Mit fünf oder sechs Jahren bin ich oft alleine über die Hügel unseres Dorfes gerannt. Eines Tages traf ich Menschen, die in leuchtenden Farben gekleidet waren. In den Jahren nach dem Krieg waren die meisten Kleidungsstücke schwarz, grau oder marineblau. Ich fragte sie: „Was ist das?“ Und jemand antwortete: „Tanz.“ In diesem Moment eröffnete sich mir eine völlig neue Welt. Schon damals spürte ich, dass Farben Energie in sich tragen.
Zu Beginn meiner künstlerischen Praxis versuchte ich, mit Designer*innen zusammenzuarbeiten. Aber oft harmonierten deren Ergebnisse nicht mit den Bewegungen der Tänzer*innen. Als künstlerische Leiterin suche ich nach Schönheit, aber als Tänzerin weiß ich auch, wie wichtig Funktionalität ist – vor allem bei schnellen Kostümwechseln. In „Post-Orientalist Express“ trägt jede*r Darsteller*in mehr als zehn Kostüme. Ein Kostüm ist also nicht nur etwas, das man trägt, sondern Teil des Tanzes, eine Erweiterung der Bewegung.
Wir haben die Kostüme in einer Weise gestaltet, dass sie Traditionen neu denken: die Linienführung des Hanbok, die Mehrlagigkeit des Kimonos, der Fall des Saris – alles ist noch erkennbar, aber verwandelt in glitzernde, überschwängliche Formen. Früher waren Farben ein Zeichen der Rangordnung. Ich kehre das um: Neontöne, Vinyltexturen, kitschige Verzierungen – Elemente, die als „billig“ galten – entfalten hier ihre große Energie. So wie mir einst leuchtende Farben in der grauen Nachkriegslandschaft eine neue Welt eröffneten, werden Farben in „Post-Orientalist Express“ zu einer Sprache der Befreiung.
Die Kostüme stehen hier nicht für eine feste Identität. Die Tänzer*innen wechseln auf der Bühne ihre Outfits und zeigen damit: Kulturelle Identität ist nichts Essentialistisches, sondern etwas, das man sich aussuchen, neu kombinieren und neu erfinden kann.

Post Orientalist Express, Eun-Me Ahn, 2025
Ich hoffe, dass die Zuschauer*innen mit einer sinnlichen Erfahrung und einer neuen Sichtweise nach Hause gehen. Im Sinne des Paradoxons „Alles und nichts gehört mir“ möchte ich, dass sie diese produktive Befremdlichkeit erleben, die entsteht, wenn Dinge miteinander vermischt werden, bis sich die Frage: „Wem gehört das eigentlich?“ aufzulösen beginnt.
„Post-Orientalist Express“ ist nicht nur ein Bühnenstück, sondern ein Ort, an dem Publikum und Künstler*innen gemeinsam etwas erkunden: Strömungen statt Kategorien, Kreuzungen statt Hierarchien sowie die kreative Spannung, die an diesen Schnittstellen entsteht.
Das Konzept eines Inter-Asiens, das wir hier erproben, betrachtet die Unterschiede innerhalb Asiens als Rohmaterial – und hat das Potenzial, auch in anderen Kontexten Anwendung zu finden. Ein*e senegalesische*r Tänzer*in könnte eine südafrikanische Tanzform neu interpretieren, ein*e ägyptische*r Choreograf*in eine äthiopische Tradition aufgreifen – mit all den Reibungen, Missverständnissen und kreativen Prozessen, die dabei entstehen. Solche „Inter“-Praktiken könnten sich zu einem neuen Modell entwickeln, das Kontinente verbindet, ohne ihre Komplexität aufzulösen.
Vor allem hoffe ich, dass das Publikum „Post-Orientalist Express“ nicht nur auf den „Osten“ bezieht, sondern die Idee des „Dazwischen“ – die Offenheit, die Reibungen, das schöpferische Potenzial – als Sprungbrett für das eigene Denken nimmt. Das wünsche ich mir am meisten.