Text | Essay | Performing Arts Season 2025/26
„Das Schweigen der Puppen“. Die Neo-Surrealistin Gisèle Vienne

Ein Essay von Marietta Piekenbrock
Die Welt der Künstlerin Gisèle Vienne ist voller Tabus und versiegelter Geheimnisse. Sie ist eine Meisterin der unbehaglichen Stille. Seit 25 Jahren lässt sie allem, was hinter den Kulissen von Erfolg, Logik und Verstand in Schach gehalten wird, ihre selbst entworfene Sorgfalt angedeihen. Ihre Räume und Silhouetten erzählen in einer Ästhetik der Abwesenheit von Manipulation, Einsamkeit, Missbrauch oder Gewalt. Und doch ist der Effekt ihrer Inszenierungen, ob auf der Bühne oder im Museum, nicht Beklemmung, sondern Befreiung zur Empathie.
Angeregt durch ihre Mutter, die Bildhauerin und Kokoschka-Schülerin Dorothéa Vienne-Pollack, und ausgebildet an der École Nationale Supérieure des Arts de la Marionnette in ihrer Geburtsstadt Charleville-Mézières, hat sich Gisèle Vienne (geboren 1976) dem Theater und der Bildenden Kunst über das Puppenspiel genähert. Heute gehört die Französin mit österreichischen Wurzeln zu den wichtigsten Künstler*innen Europas, die in ihrem Œuvre alles amalgamiert, was den Kontinent auszeichnet: Sie integriert Geschichte, Philosophie, Literatur und Wissenschaft als Basis ihrer Auseinandersetzung mit Spuren von Gewalt in den Körpern und der Psyche von Menschen und von Gemeinschaften – das kann eine Familie sein („Der Teich“), eine Trainerin mit einer jungen Sportlerin („This Is How You Will Disappear“), eine ravende Menge („Crowd“) oder eine lose Gruppe von Wartenden („Showroomdummies“). Jedes Werk, ob Bühnenarbeit, Fotografie, Film oder Skulptur, zeigt eine neue Versuchsanordnung und führt das Publikum geradezu körperlich in die schwer zu erschließenden Bereiche des Schlafes, der Sprachlosigkeit und der Trance.

Showroomdummies #4, Centre Pompidou 2021
100 Jahre nach André Bretons „Manifeste du Surréalisme“, im Surrealismus-Jahr 2024, war in Berlin eine über drei Häuser gespannte Überblicksschau der Choreografin, Regisseurin und Bildhauerin zu sehen. Durch das Werk von Gisèle Vienne rumoren vergessene Geschichten und Motive, wie vor allem ihre Skulpturen in Gestalt lebensechter Puppen zeigen. Wie alle Puppen in der Kunst sind auch diese ein Sinnbild, ein Vergleichskörper. Sie haben einen weiten Weg hinter sich. Besonders plastisch werden die Spuren surrealistischer Motive in ihrem frühen Stück „Showroomdummies“.
Die vibrierende Intensität des Bühnenraums, die Immobilität, die Stille der menschlichen und nichtmenschlichen Körper, ihre Isolation aus dem Sinngefüge sozialen Handelns – all das zehrt mit offensichtlicher Sympathie von den Puppen-Darstellungen der Surrealist*innen, am erkennbarsten vielleicht den inszenierten Schaufensterpuppen der legendären „Exposition Internationale du Surréalisme“, den Fotomontagen von Dora Maar und den Mädchengeschöpfen von Hans Bellmer. Die Dimension seiner verdrehten und neu komponierten „Poupée“ als Anti-Körper und als Antwort auf das uniformierte Menschenbild der nationalsozialistischen Propagandakunst wurde erst in den späteren Nachkriegsjahren erkannt. Ähnlich wie Bellmers verschlüsselte Kommentare auf die nationalsozialistische Kulturpolitik lastet auf den Puppen des österreichischen Malers Rudolf Wacker das herrschende Klima von Misstrauen und maskierten Gefühlen. Die Enthemmungsgesten der Surrealist*innen machten im Paris der 1930er-Jahre einen starken Auftakt, doch nahezu parallel hatte sich mit der in München und dann in Berlin eröffneten Femeschau „Entartete Kunst“ eine der schlimmsten Ausgrenzungskampagnen in Bewegung gesetzt, die man sich für einen freien Umgang mit Körper- und Geschlechterbildern überhaupt vorstellen kann. Wackers „Puppenköpfchen mit Sprüngen“ (1937) wird zum Programmbild für den Zustand der Moderne: Beschädigt! In Gisèle Viennes Fotoserie „40 Portraits“ (2003–2008), die in einer Reihe von Einzelporträts Teenager ins Bild setzt, sehen wir diese Bildtraditionskette freigelegt.

Showroomdummies #4
In „Showroomdummies“ manifestiert sich die bildhauerische Arbeitsweise der Künstlerin vor den Augen des Publikums. Das Sinnbildwerden der Puppen choreografiert sie zu einem hypnotischen Tableau vivant von Frauen, die ihre Körper krümmen und die Köpfe in Schwermut sinken lassen. Der Titel, die schwarz-weiß-Ästhetik, die individuell umgearbeiteten Schaufensterpuppen spannen einen assoziativen Bogen zu den Inszenierungen von Man Ray, Dora Maar oder Hans Bellmer. Das Stück ist inspiriert von Leopold von Sacher-Masochs Novelle „Venus im Pelz“ (1870), ganz explizit von der weiblichen Figur Wanda von Dunajew. Gisèle Viennes Regie konzentriert sich auf die provozierende, doppelpolige Erotik einer Frau, die hier von ihrem Liebhaber wie eine leblose Marionette manipuliert wird und im nächsten Augenblick ihre Umgebung selbst zu manipulieren beginnt. Sacher-Masoch lässt seine Erzählung in den Salons der Bourgeoisie spielen, Gisèle Vienne hat dafür eine zeitgenössische Entsprechung gefunden. Ihre Bühne zeigt eine Art Flughafen-Lounge der 1960er-Jahre – eine moderne Metapher für das Motiv des Wartens und der verzögerten Zeit. Leere Kunstlederfauteuils bilden einen Kontakthof, um hier Muster und Bedingungen für Begegnungen auszustellen. In den angehaltenen und gedehnten Gebärden ihres Auftritts ist Sacher-Masochs Kunst der Spannung skizzenhaft enthalten.
Die Performerinnen nehmen zwischen den Puppen Platz und verschmelzen zeitlupenartig mit ihnen zu einer optischen Einheit. Erst wenn sie sich langsam aus der Gruppe herauslösen und in der Lounge Platz nehmen, ist zu erkennen, wer hier Mensch und wer Skulptur ist. Dabei macht eine Art Slow-Motion-Effekt die Details und Einzelbewegungen reliefartig sichtbar. „Was sagen uns diese Darstellungen, wenn wir sie als Subjekt wahrnehmen?“, fragt die Künstlerin. „Ihre Abwesenheiten, ihre Bewegungslosigkeit und ihr Stummsein sprechen zu uns und können als Gesten der Ablehnung betrachtet werden. Gesten der Ablehnung gegenüber einer Kultur, die sie zum Schweigen bringen wollte. Meine Inszenierungen versuchen sichtbar und hörbar zu machen, was ein Körper, der durch seine verschiedenen Darstellungen kulturell als Objekt wahrgenommen wird, zu sagen hat, sobald er als Subjekt angesehen wird.“

Showroomdummies #4, Centre Pompidou 2021
Eine Regisseurin, die Geschichten erzählt, sagt uns die Aufführung, muss an etwas Außerirdisches glauben, an eine Schutzmacht, ein imaginäres Double. Hier schlägt das geheime Herz von Theater und Puppenspiel, hier liegt die Chance auf die rauschhafte Hervorbringung einer neuen Gestalt, einer Art Neo-Ausgabe unseres Selbst. Gisèle Vienne lässt uns dabei zusehen, wie sie die Geschichte der Kunst durch ihr Unbewusstes vagabundieren lässt. Mit ihrem kontemplativen Blick und ihren Maximum-Impact-Bildern verleiht sie dem Vorgang des Sehens eine stark sinnliche Dimension und jedem Detail seine Wichtigkeit. Als Zuschauer*in wird man in das Geschehen geradezu hineingezogen, während das Kaputte und Tote vor unseren Augen lebendig wird.
Marietta Piekenbrock ist Autorin, Kuratorin, Kulturmanagerin. Zuletzt erschien ihre Künstlermonografie „Nahaufnahme. Boris Charmatz“ (Alexander, Berlin 2024). Das Werk von Gisèle Vienne verfolgt und fördert sie seit vielen Jahren.