Text | Essay | Performing Arts Season 2025/26
So viel Leben wie möglich

Aufzeichnungen während der Proben für „Tanzende Idioten“ von Dan Kolber, Dramaturg der Produktion
Eine der ersten Proben zu „Tanzende Idioten“ fand ohne die Schauspieler*innen statt – die „Holzfallprobe“. Erster Eindruck: Die Bühne kommt geflogen.
Das Stück, das in einer Abwesenheit endet, beginnt mit einer Entstehung: der Entstehung des Raums. Aus Licht, Holz und dem Knall aufprallender Bretter entsteht vor unseren Augen eine Welt. Diese Welt scheint noch nicht für Menschen oder Tiere gemacht; aber so hart und kantig sie auch ist, so behutsam und weich tritt das erste Lebewesen auf: ein Kater.
Sebastian Blomberg sitzt da, auf allen vieren, und schaut vor sich hin. Der Kater hat seine eigene Stille mitgebracht. Seine Augen erhaschen Dinge, die wir nicht sehen, und seine Ohren schnappen Geräusche auf, die unsere menschlichen Ohren nicht hören. Wir alle spüren, dass seine Aufmerksamkeit auf Vorgänge gerichtet ist, die uns Menschen nichts angehen; die in unserer Wahrnehmung nicht existieren. Ich spüre den anderen Lebensraum, der ihn umgibt.
Er hockt ungefähr zwei Meter von uns entfernt. Sein Blick jedoch gleitet an uns ab, beurteilt uns nicht. Er nimmt uns nicht als Personen wahr, tut aber auch nicht so, als wären wir nicht da. Sebastian Blomberg versucht in den Proben diese faszinierende Gleichgültigkeit des Blicks zu erreichen, die kein Zurückblicken erwartet. Das Schöne, so scheint mir, ist nicht nur, dass im Stück ein Kater auftritt. Es ist vielmehr die Tatsache, dass es einem Menschen gelingt, uns ein Gefühl zu geben, das sonst nur Tiere in uns auslösen.
Wenn ich auf den zweiten Blick in seinen Gesichtszügen die Augenbrauen wahrnehme, die menschliche Nase, den Mund und den Bart, dann fallen das Fremde und das Vertraute plötzlich in eins wie bei einer Sphinx. Für diesen Augenblick ist Sebastian Blomberg weder nur Mensch noch nur Kater: Er erscheint als ein Mischwesen. Mir kommt unwillkürlich eines der ältesten bekannten Kunstwerke der Menschheit in den Sinn: der Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel. Es ist eine rund 40.000 Jahre alte, etwa 30 Zentimeter große Skulptur aus Mammut-Elfenbein, die einen Menschen darstellt mit dem Kopf und den Gliedmaßen eines Löwen. Man weiß bis heute nicht, was es mit dieser Figur auf sich hatte.
Die scheinbar abweisende Welt birgt Nahrung. Der Kater entdeckt einen Fisch, den er verschlingen kann. Kater sind domestizierte Raubtiere, und somit allen Figuren in diesem Stück ähnlich. In der Lebensäußerung des einen liegt der Tod des anderen Tieres: Rhythmisiert durch Kauen, Schlucken, Würgen und Schmatzen erlebe ich morgens auf einer Probe die Zermalmung eines Lebewesens. Wenn ich in Sebastian Blombergs offenem Mund die Reste des Fisches erblicke, sehe ich deshalb das Leben und den Tod in einem einzigen Bild. Das Liebenswürdige und das Gefährliche schließen sich in „Tanzende Idioten“ nie aus, sind entweder gleichzeitig da oder offenbaren sich im raschen Wechsel.
Theater ohne Tiere ist eine Welt mit einer seltsamen Leerstelle. Der emotionale Spielraum des Theaters wird oft auf den Menschen reduziert. Die erste und die letzte Figur dieses Abends ist jedoch ein Kater. Die zeitweilige Abwesenheit der Menschen lässt mich diese mit anderen Augen sehen, wenn sie auf der Bühne erscheinen.
Jede Figur wird nicht nur durch das, was sie sagt, sondern wesentlich auch durch ihren Körper und dessen Zustände erzählt. Goldie, deren Bewusstsein voller Kraft ist, lebt in einem Körper, dessen Stärke immer weiter abnimmt, bis zur Bewegungslosigkeit. Apollo, der Kater, lebt in einem Körper, der sich grundlegend von dem unseren unterscheidet. Tony und Vivian tragen die Spuren des Alters und damit eines langen Lebens an sich. Sie gehen auf Entdeckungsreise am Körper des jeweils anderen und entdecken Einschusslöcher, Narben und Eheringe, die ausdrücken, wer sie sind.
In diesem Stück sind die Alten die Überlebenden. Lebenslust ist nicht an das Alter gebunden. Vivian und Tony geben sich im Alter nicht mit weniger zufrieden. Karin Neuhäuser und André Jung versuchen in Goldies Zimmer Kajakfahren zu üben und schaffen es tatsächlich, für einige Zeit wie schwerelos dahinzugleiten. Obschon diese Simulation glückt – eine Art Happy End in der Mitte des Stücks – bleibt die Zukunft des Paares ungewiss und gefährdet.
Wir sterben alle auf einer Baustelle. Wir sterben unfertig. Die Baustelle zeigt, dass Goldie sich zugleich auf ihren Tod vorbereitet und vor ihm flüchtet. Sie glaubt, in dem umgebauten Raum leichter sterben zu können. Die Baumaterialien und Werkzeuge sind jedoch auch Ausdruck eines Vertrauens darauf, morgen noch da zu sein, um weiterzubauen und die Welt zu verändern. Die Bretter, an die Goldie sich klammert, sind eine Flucht in dieses Vertrauen, das Goldie nicht mehr haben kann.

Die ersten Astronauten auf dem Mond waren Anfänger – wie jeder Sterbende. Beide sind dem Unbekannten ausgesetzt und in jedem Moment auf Hilfe angewiesen. Die Logbücher der NASA zeigen, dass das Aufeinandertreffen des Menschen mit einer vollkommen anderen Welt auch von Komik geprägt ist. Goldies Mondlandung basiert deshalb größtenteils auf originalen NASA-Zitaten.
Denis Johnson wollte selbst auf den Mond. Er hat einen Brief an die NASA geschrieben, um sich als Astronaut zu bewerben. Es gibt zwei Arten, den Lebensraum Erde zu verlassen: durch eine Reise ins Weltall und durch den Tod. Im zweiten Teil erleben wir Goldies Sterben. Es beginnt mit ihrem Abschied von der Erde und führt über einen Totentanz ins Verschwinden.
Ihre Mondlandung erzählt Goldies wachsende Entfremdung und Entfernung von der Erde weiter. Durch ihre Krankheit hat sich Goldies Perspektive auf das Leben verändert; sie sieht die Dinge anders als vorher und anders als die Menschen um sie herum. Sie lebt ungewollt und ungeplant an dem extremen Ort, den Vivian immer wieder aufsucht: dem Ort der höchsten Todesnähe.
Ein lebloser Körper ist kalt. Kurz vor ihrem Tod erlebt Goldie noch einmal die ganze Wärme des Lebens. In der Sauna, im Tanz heizt sich der Körper auf. Goldies letzter Tanz ist nicht nur Ausdruck ihres Abschiednehmens, sondern auch eine letzte Erinnerung an die Intensität des Lebens.
Schauspieler*innen, die das Sterben spielen, spielen ihre eigene Zukunft. Irgendwann ist diese Zukunft dann nur noch die Sekunde vor dem Tod: der letzte Herzschlag. Thorsten Lensing nutzt die Mittel des Theaters, um in diese letzte Sekunde einzutauchen, sie zu dehnen und so eine ganze Spannweite an menschlicher Erfahrung zu zeigen, die in dieser winzigen Zeiteinheit beschlossen liegt – und die Möglichkeit eines Gelingens. Was Goldie an diesem Abend gelingt, ist dieser Augenblick. Das Sterben. Der eigene Tod.
Das Leben von Theaterfiguren ist dann zu Ende, wenn die Schauspieler*innen sie nicht mehr spielen. Deswegen stirbt Goldie in dem Moment, in dem Ursina Lardi auf der Bühne nur noch Ursina Lardi ist. Am Ende ist der Kater allein. Er wartet auf Goldie. Von Minute zu Minute spürt der Kater allmählich, dass dieser Mensch nie mehr zurückkommen wird. Wenn wir mit den Augen eines Tieres auf den Tod schauen, wird dessen Unbegreiflichkeit umso stärker erfahrbar.