Text | Interview | Performing Arts Season 2025/26
„Thikra“ ist ein lebendiger Organismus

Akram Khan im Gespräch mit Marietta Steinhart
Akram Khan: Und wenn du in Paris oder Berlin gewesen wärst, hättest du dich gefragt: Was ist das für ein Stück?! Ich habe es noch weiter verändert. Ich arbeite wie eine Schnecke. Als Tänzer war ich immer für meine explosive Art bekannt, aber wenn es um die Entwicklung neuer Stücke geht, bin ich jemand, der lange auf den Dingen herumkaut – wie auf Tabak oder Betelnüssen. Man kaut und kaut, bis etwas dabei herauskommt. Das ist die Ironie daran. Ich nehme mir Zeit, um meine eigene Arbeit zu verstehen.
Bist du mit dem aktuellen Stand von „Thikra“ zufrieden? Arbeitest du weiter daran?Auf jeden Fall. Wenn ich reinkomme, sagt das ganze Team: „Oje, Akram kommt!“ (lacht). Aber ich denke, wir sollten auf Wandel mit offenen Armen zugehen. Ich nehme ständig Änderungen vor, mit meiner Lichtdesignerin, dem Komponisten, den Tänzerinnen – Dinge, die Sinn ergeben. Ich muss das Ganze mit einem Publikum sehen und fühlen. Erst dann zeigt sich, was funktioniert und was nicht. Ich würde sagen, vor der Premiere bin ich zu zwei Dritteln fertig und das letzte – wahrscheinlich wichtigste – Drittel kommt mit dem Publikum.
Woher weißt du, wann du loslassen musst?Ich glaube, ich habe noch nie losgelassen. Ich weiß nicht mal, was das bedeutet. Es gibt immer etwas Neues zu entdecken. Ich habe drei kleine Kinder, und ich lerne jeden Tag etwas Neues über sie. So ist das mit meinen Shows auch – sie sind ebenfalls meine Kinder, lebendige Organismen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass eine ganze Gruppe von Menschen dieses Werk auf die Welt bringt. Es ist ein kollektiver Geburtsprozess.
Wir wachsen ständig, während wir unser Werk betrachten, und hinterfragen es immer wieder. Ich glaube, wenn man etwas liebt, stellt man auch immer wieder Fragen. In dem Moment, in dem man aufhört, Fragen zu stellen, hört man auf zu lieben.

Thikra: A Night of Remembering
Genau das ist es, was mich interessiert. Ich bezeichne den Körper als „lebendiges Museum“. Er ist das größte Museum, das wir haben, und navigiert ständig durch Zeit, Epochen und das Leben. Traumata sitzen manchmal sehr tief im Körper, weil man sie nicht in Worte fassen kann. Aber sie sind da, im Muskelgedächtnis. Das kommt bei „Thikra“ sehr deutlich zum Ausdruck. Vordergründig ging es dabei allerdings gar nicht um Traumata, sondern um die Idee des Famadihana, das sogenannte „Gebeinewenden“, eine madagassische Tradition. Es handelt sich dabei um ein Ritual, bei dem die Leute einmal im Jahr zusammenkommen, um die Knochen ihrer Vorfahren auszugraben und zu massieren. Dadurch soll ihnen neues Leben verliehen werden. Dann wickeln sie die Knochen in ein frisches Tuch ein und bringen sie zurück ins Grab.
Als ich in Al-Ula in der Wüste war, legte ich in einer Berghöhle meine Hand auf eine Wand mit alten Handabdrücken von jüdischen, muslimischen, christlichen und nabatäischen Gemeinschaften. All diese Kulturen haben dort gelebt. Es ist ein bisschen wie die Chauvet-Höhle in Frankreich. Auch der Berg ist ein Körper, ein lebendiges Museum. Aber es geht mir nicht um die Handabdrücke selbst, sondern um das, was sie verkörpern und in sich tragen. Manal AlDowayan hat mich mit der nabatäischen Kultur vertraut gemacht. Wir haben eine Freundin von ihr besucht, und ihre Enkelin hat mir einen Tanz gezeigt. Viele Szenen am Anfang von „Thikra“ sind von ihr inspiriert.
Ich war einfach total fasziniert von diesen Frauen und ihren Geschichten. Ich betrachte die Welt aus vielen Blickwinkeln, aber am stärksten hat mich Peter Brook beeinflusst.
Ich dachte, deine Mutter hätte dich am stärksten beeinflusst.Die patriarchalische Sichtweise kam von Peter Brook, die matriarchalische Perspektive von meiner Mutter. Ich sehe alle meine Geschichten durch die Augen meiner Mutter. Ich habe diese beiden Sichtweisen miteinander verschmolzen.

Thikra: A Night of Remembering
Ich weiß, das ist ziemlich ironisch, oder? Es gibt so viele Tänze, in denen Haare das zentrale Element darstellen, dabei habe ich gar keine (lacht). Mir geht es um die Symbolik der Haare. Die Kraft dieser Frauen steckt in ihren Haaren. Sie sind eine Waffe, aber auch ein Produkt von Natur und Erziehung. Sie haben so viele Bedeutungen, das finde ich sehr spannend. Wir haben viele kleine Mythen über die Frauen aus dieser Region gesammelt – und Manal und ich haben schließlich unsere eigene Geschichte geschrieben.
Du bist vor allem dafür bekannt, Kathak mit zeitgenössischem Tanz zu verbinden. Für „Thikra“ hast du hauptsächlich mit Tänzerinnen zusammengearbeitet, die auf Bharatanatyam spezialisiert sind, einen anderen klassischen indischen Tanzstil. Warum?Weil es in Bharatanatyam eine gewisse Strenge und ein Glaubenssystem in Bezug auf das Unsichtbare gibt. Die Menschen glauben fest an Gott. Aber sie können Gott nicht sehen, nicht wahr? Gott ist unsichtbar. Meine Mutter kann mir ihre Liebe nicht zeigen. Aber ich weiß, dass sie mich liebt. Und ich weiß jetzt selbst, was das bedeutet. Ich würde alles für meine Kinder tun.
Mich fasziniert das Unsichtbare und Ungreifbare. Mein Ansatz ist eher metaphorisch und spirituell, ich gehe nicht linear und visuell an die Dinge heran. Ich verstehe, dass das für manche Leute nicht leicht nachvollziehbar ist, aber ich möchte nicht die Bedeutung meiner Arbeit zeigen, sondern dem Publikum ermöglichen, die Bedeutung selbst zu spüren.
Ich weiß es nicht. Bei manchen Projekten habe ich Erfolg, bei anderen scheitere ich. Es ist wirklich schwierig und gewagt. Ich bringe mich damit selbst in eine heikle Lage, weil wir in einer Welt leben, in der wir nicht glauben, was wir nicht sehen können. Die Menschen interessieren sich nicht für den Kontext. Wir neigen dazu, Dinge zu vereinfachen. Die Welt teilt sich in „Gefällt mir“ und „Gefällt mir nicht“, das sind heutzutage die einzigen beiden Optionen. Sobald man sich in eine Grauzone begibt, wird es gefährlich – und ich bin in vielen Grauzonen aufgewachsen. Manchmal ist das, was man wirklich sagen will, genau das, was man nicht sagt. „Thikra“ ist eine Manifestation all dieser Überzeugungen.

Thikra: A Night of Remembering
Das Konzept der Company war es, Stücke zu entwickeln, zu produzieren und dann auf Tournee zu gehen. Aber das werden wir ändern. Unsere Wirkung reicht weit über den professionellen Tanz hinaus – über Ballett, zeitgenössischen Tanz oder klassischen indischen Tanz. Sie ist wirklich riesig. Und um eine neue Infrastruktur zu schaffen, mussten wir die alte aufgeben.
Du veränderst die äußere Infrastruktur. Wie sieht es mit deiner inneren Vision aus? Mit deinem bisherigen und zukünftigen Vermächtnis?In diesen 25 Jahren war jeder Schritt wichtig, aber es gab bestimmte entscheidende Momente. Einer davon war „zero degrees“, eine Kooperation mit Sidi Larbi Cherkaoui, Antony Gormley und Nitin Sawhney. Sie hat mir die Kraft der Zusammenarbeit gezeigt. Ein weiterer war „DESH“, mein erstes zeitgenössisches Solo, bei dem ich eine ganze Geschichte nur mit meinem Körper erzählt habe. Dann die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2012, die mir ein ganz neues Verständnis von Skalierung vermittelt hat. Im Theater sieht man die Gesichter, spürt die Energie, riecht den Schweiß. Aber in Sachen Größe übertrifft nichts die olympische Bühne. Und „Giselle“ war das erste Mal, dass ich eine Geschichte erzählte, die nicht meine eigene ist. Ich war nervös, denn „Giselle“ ist so heilig, vor allem in England. Als ich schließlich Max Richters Performance sah, hat mir das völlig neue Perspektiven eröffnet. Es gibt jedoch Werke – und ich werde nicht sagen, welche –, die mir sehr am Herzen liegen, weil sie in meinen Augen Fehlschläge waren. Sie haben mich mehr gelehrt als alles andere.
Marietta Steinhart ist Kulturjournalistin. Nach vielen Jahren in den USA lebt und arbeitet sie wieder in ihrer Heimatstadt Wien.