Text | Interview | Performing Arts Season 2025/26
Über rituelle Gesänge, Aufsässigkeit und verdichtete Zeit

Ligia Lewis im Gespräch mit Nora-Swantje Almes über „Wayward Chant“
Ligia Lewis: „Wayward Chant“ ist eine Antwort auf eine Geschichte, die einige von uns noch heute verfolgt. Die Performance beschäftigt sich mit den Spannungen einer nachwirkenden Vergangenheit, die in Räumen wie Museen, wo „Geschichte“ immer drohend über uns schwebt, besonders spürbar sind. Als Schwarze Femme bin ich ständig mit struktureller Auslöschung konfrontiert – dem Gefühl, selbst dann ausgelöscht zu werden, wenn ich einfach nur im Raum existiere. Das erzeugt eine gespenstische Präsenz.
Der Choral ist einer der ältesten rituellen Gesänge mit einer sehr einfachen Form. Mittelalterliche Klagelieder haben schon einige meiner letzten Werke beeinflusst, ebenso wie die Vorstellung von der mittelalterlichen Landschaft als Ort des Gespenstischen. Der gregorianische Choral gilt als älteste Form westlicher Musik, aber die frühen äthiopisch-orthodoxen Gesänge sind noch älter. Schon länger interessieren mich außerdem von afroamerikanischen und karibischen Traditionen inspirierte liturgische Musikformen, spirituelle Praktiken unserer Ahn*innen, die unsere heutige Wahrnehmung prägen. Ich mag die Einfachheit und Bestimmtheit dieser Klänge.
Viele meiner Arbeiten beginnen im Klanglichen und entwickeln sich dann über Licht, Bühnenbild oder die Materialität von Körpern hin zum Visuellen. Mit „Wayward Chant“ will ich einem Chor eine Stimme geben, der im Widerspruch versammelt ist. Ich verstehe meine Arbeitsweise generell als Prozess des Zusammenbringens: verschiedene Personen in ihren und durch ihre Unterschiede zu verbinden, unterschiedliche Texturen nuanciert miteinander zu verweben. Ich denke immer über das Kollektiv nach; was es bedeutet, sich gemeinsam zu bewegen oder bewegt zu werden, hoffentlich in einem Bündnis. Das ist ein Versuch, einer simplen Reduktion und Gleichförmigkeit zu entgehen. Wie kann eine Versammlung unterschiedlicher Körper zum Handeln bewegt werden? Diese Idee eines Chorals wird von einer dichten, kraftvollen performativen Präsenz getragen. Ich hoffe, das ist eine Antwort an die verschiedenen Geister und gleichzeitig auf das Unsichtbarmachen von Schwarzen Menschen.
Ich versuche, diese sonst negativen Affekte als eine Form von Verzweiflung zu artikulieren, die in ihrer Beharrlichkeit und als Forderung nach Veränderung mobilisiert wird. Der Begriff „Widerstand“ taucht in meiner Arbeit immer wieder auf. Genauer gesagt beschäftige ich mich mit einer Ethik der Repräsentation, und insbesondere mit ihren Grenzen. Was bedeutet es, Gedanken und Affekten Gestalt zu verleihen, die nicht als produktiv gelten, wie etwa politische Enttäuschung? Durch Aufsässigkeit („waywardness“) – oder durch den Gesang („chant“) – versuche ich, diese Affekte zu mobilisieren.

Ligia Lewis, Wayward Chant, Live-Performance, Ligia Lewis: I’M NOT HERE FORRRRR…, Gropius Bau, 2025
Aufsässigkeit ist eine andere Art, Rebellion zu beschreiben – Personen, die eigenwillig sind und Freude am hartnäckigen Ungehorsam haben. Saidiya Hartman beschreibt in ihrem Buch junge afroamerikanische Frauen um 1900, die als „aufsässig“ gebrandmarkt wurden. Aus dieser vermeintlichen Fehlhaltung werden bei Hartman Geschichten über politischen Willen und Aktivismus, die aus der Perspektive der Unterdrückten erzählt werden. Diese Geschichten entziehen sich der Romantisierung des Heroischen und beschreiben dennoch großartige Akte radikaler Autonomie, die allen Widrigkeiten zum Trotz stattfanden. Hartman ist eine wichtige Referenz für mich und viele andere Künstler*innen of Colour.
Meine Arbeit ist all jenen gewidmet, die historisch als eigensinnig, willensstark, ungehorsam gebrandmarkt wurden – und die durch ihre Unerkennbarkeit für die herrschende Ordnung zu „anderen“ gemacht wurden. Diese Worte sind mehr als Beschreibungen, denn sie markieren Bedingungen, die durch die Kategorien Race oder Gender geprägt sind.
Aufsässigkeit scheint sich auch auf das zu beziehen, was hätte sein können. In deiner Arbeit verbindest du Geschichte und Gegenwart vor allem durch Klang, aber auch durch die Körper der Darstellenden, die bestimmte Geschichten in sich tragen.
Wir im Westen sind in einer reduktiven Wahrnehmung von Zeit gefangen, obwohl die Linearität der Zeit längst als Unwahrheit entlarvt wurde. Nach diesem Denkschema wird Zeit als unausweichliche Bewegung in Richtung Fortschritt verstanden. Nichts widerlegt das deutlicher als die Erfahrungen Schwarzer Menschen – vor allem für diejenigen von uns, die durch ihre Vorfahr*innen mit nicht-westlichen Praktiken verbunden sind, die auf komplexeren Vorstellungen von spirituellen und materiellen Kontinuitäten basieren.
Für meine performativen Collagen lege ich scheinbar unvereinbare Ebenen übereinander: Musikepochen, theoretische Texte, Bewegungsvokabulare. In „study now steady“ verwende ich zum Beispiel frühe Kirchenmusik – im Westen war die Kirche einer der ersten Orte, an denen sich eine rassistische Ordnung manifestiert hat. In dem Film „A Plot, A Scandal“ spielen die Abgrenzung von Zeit und das Symbol des Glockenturms eine wichtige Rolle. Meine Kollaborateur*innen George Lewis Jr. und Wynne Bennett haben für die Filmmusik auch zwei Instrumente aus unterschiedlichen Epochen verwendet: Cembalo und Saxofon. Die zentrale Frage ist für mich, wie diese Collagen ein Gefühl von verdichteter Zeit vermitteln können – Zeit, die verschiedene Ebenen überlagert und so eine Textur von Dichte und Komplexität in der Gegenwart schafft.

Liga Lewis, A Plot, A Scandal, Installationsansicht, Ligia Lewis: I’M NOT HERE FORRRRR…, Gropius Bau, 2025
Sie öffnet den Raum für Prozessualität. Das Werk entfaltet sich in Echtzeit. Ich finde es immer wieder spannend, mich aus dem theatralen Rahmen zu lösen. So kann ich viel stärker damit spielen, wie Zeit inszeniert wird. Die Interaktionen mit dem Publikum geschehen über die gesamte Ausstellungsdauer und werden dadurch dynamischer. Das bringt mich der Idee von „corpsed time“ näher, die mich sehr beschäftigt. Sie beschreibt die Zeit, die wie ein toter Körper verweilt und nachhallt. „Wayward Chant“ ist ein iteratives Werk. Dynamische, widersprüchliche Figuren erscheinen und verschwinden wieder, zunächst als Silhouetten entlang der Fresken des Lichthofs, später als live bewegter Chor. Ich liebe es, dass Dinge wie Fehler wirken können, aus den Fugen geraten oder vielleicht sogar verrückt erscheinen. Wer sind diese Personen, die im Raum verweilen, im Zentrum und an den Rändern zugleich? Ich liebe dieses Ensemble. Wir bewegen uns in dem, was Navild Acosta als extravagante Nichtigkeit bezeichnet und was ich „luminous fuckery“ nenne – für mich die einzige Art, die blanke Albernheit unserer Zeit zu erfassen.
Es ist ein sehr verspieltes, aber auch kryptisches Werk, das gestisch beginnt – wie die Figuren an der Wand. Meine Arbeit mit Silhouetten ist von mittelalterlichen Gemälden inspiriert, zum Beispiel von Pieter Bruegels „Triumph des Todes“, aber auch von Paula Rego und Lynette Yiadom-Boakye. Mich interessiert eine tragische Alltäglichkeit: verzerrte Gesten, die in all ihrer spektakulären Banalität und Flachheit erscheinen. Lynette Yiadom-Boakyes Gemälde kehren die übliche Inszenierung Schwarzer Figuren um. Ihre Figuren treten zurück in die Landschaft des Alltags, die Körperhaltungen sind auf wunderschöne Weise gewöhnlich. Die Konturen lassen sich nicht vollständig erfassen, der Raum faltet sich um die Figuren und hält sie fest. Sie erfasst das Fleischliche, das Poröse eines Körpers – eine andere Art, Körper zu lesen oder zu fühlen.
Im Lichthof wird der Teppich zur Leinwand. Figurationen entfalten sich ständig, spielerisch und flüchtig. Sie haben eine Ungreifbarkeit an sich und zugleich eine „Scheiß-drauf“-Haltung. Sobald man glaubt, etwas erfasst zu haben, ist es auch schon vorbei.

Liga Lewis, study now steady, Live-Installationsansicht, Ligia Lewis: I’M NOT HERE FORRRRR…, Gropius Bau, 2025
Ein großer Teil meiner Arbeit setzt sich mit dem Blick und mit dem Widerstand dagegen auseinander. Mich interessiert oft mehr das Wissen, das im Schatten entsteht. Das hat damit zu tun, dass ich für eine andere Art des In-der-Welt-Seins sensibilisiert bin.
In unserer Überwachungskultur wird alles visuell belegt. Das gesamte Regime des Rassismus gründet auf der Verkennung des Gesehenwerdens. Das ist tief in den Strukturen unseres Sehens verankert. Ich habe mich immer gegen die Verlockungen einer Politik der Sichtbarkeit gewehrt. Die Art, wie Identität an Sichtbarkeit gekoppelt wurde, ist gewaltvoll und wiederum voller Auslöschungen. Deshalb liebe ich Schatten. Sie sind flüchtige Gesten, die komplexen Affekten Ausdruck verleihen. Sie vermögen es, die Komplexität des Schwarzseins zu bewahren. Ich versuche, jede potenzielle Vereinnahmung von Schwarzsein – sei es durch gewaltsame Blicke oder durch Reduktion – zu unterlaufen.
Du sprichst vom Totentanz als Inspiration – aber in einer Neuinterpretation. Was bedeutet das für „Wayward Chant“?
Der Danse macabre behauptet ja eine universelle Sprache: „Im Tod sind wir alle gleich.“ Meine Arbeit bricht mit diesem Mythos. Sie konzentriert sich auf die ungleichen Lebens- und damit auch Todesbedingungen für diejenigen von uns, die als Schwarz gelesen werden. Mit der Idee des „Corpsing“ – also einer Logik, die Lebendiges zu Totem macht – beschäftige ich mich schon lange, zum Beispiel in „deader than dead“ (2020). Es geht darum, Lebendigkeit in ein Spiel mit dem Toten zu verwandeln. Oder genauer: Logiken zu killen, die überdeterminieren, wer wir sind. Aus Respekt vor den Toten und den Lebenden unter den gewaltvollen Bedingungen des rassistischen Kapitalismus – und aus Respekt vor den Unsichtbaren und denen, die nicht gehört werden – verwende ich Ausdruckslosigkeit und Leblosigkeit als ästhetische Strategien. Ich will die institutionelle Last der Repräsentation zerschlagen und etwas schaffen, das eindringlicher ist. Und seltsamerweise auch treffender.
Nora-Swantje Almes ist Kuratorin und Autorin. Sie ist Teil des kuratorischen Teams des Gropius Bau.